Am 1. März 1992 trat ich meine Stelle als Cheflektor der Verlage Ullstein und Propyläen an. Cheflektor in einem der größten und traditionsreichsten deutschen Buchverlage zu sein – das war eine tolle Herausforderung, die mich begeisterte. Dass ich deutlich mehr verdiente als an der Uni, war mir willkommen, aber eindeutig Nebensache. Was mich reizte, war insbesondere die politische Gestaltungsmöglichkeit, die ich hier hatte.
Der Ullstein-Buchverlag war 1903 gegründet worden. Sechs Jahre später erschien die erste große »Weltgeschichte«. Für derartige Renommierwerke wurde 1919 der Propyläen Verlag gegründet. 1959 hatte Axel Springer die Mehrheit an dem Verlag erworben. Kurz vor seinem Tod verband Springer im Januar 1985 den Ullstein Buchverlag mit der Münchner Verlagsgruppe Langen-Müller-Herbig des Verlegers Dr. Herbert Fleissner. So entstand die damals drittgrößte deutsche Buchverlagsgruppe.
Fleissner war politisch nicht unumstritten. 1981 hatte er die Erinnerungen von Franz Schönhuber (»Ich war dabei«) veröffentlicht. Schönhuber war damals stellvertretender Chefredakteur des Bayerischen Rundfunks und moderierte die beliebte Sendung »jetzt red i«. Ende 1983 gründete er mit einigen Freunden aus der CSU die rechte Partei »Republikaner«. Sein Buch, in dem er die Waffen-SS verharmloste, wurde zu Recht kritisiert, nicht nur von Linken. Als Fleissner 1989 das Buch im Ullstein-Verlag als Taschenbuch herausbrachte, protestierten 42 Mitarbeiter, und er nahm den Titel wieder aus dem Programm. Doch das war einige Jahre, bevor ich dort anfing. In der Zeit meines Wirkens hat er nie versucht, rechtsradikale Bücher im Ullstein- oder Propyläen-Verlag zu platzieren.
Ich habe Herbert Fleissner in diesen Jahren sehr gut kennengelernt. Sicherlich stand er politisch rechts von mir, und manche Bücher, die er in seinen anderen Verlagen herausbrachte, hätte ich (und hätten auch seine Kinder, die heute seine Verlage führen) bestimmt nie verlegen wollen. Aber als Rechtsradikalen habe ich Fleissner nie erlebt. Ansonsten hätten renommierte Autoren wie Willy Brandt, Elie Wiesel, Salcia Landmann, Ephraim Kishon oder Simon Wiesenthal ihre Bücher sicher nicht von Fleissner publizieren lassen. Kishon, dessen Bücher allein in Deutschland über 25 Millionen Mal verkauft worden waren, hat immer wieder Fleissner öffentlich verteidigt.
In meiner Zeit als Cheflektor habe ich sehr eng mit Fleissner zusammengearbeitet und von ihm auch als Geschäftsmann viel gelernt. Einmal sagte er mir: »Verdienen Sie das Geld als Unternehmer und investieren es dann in Immobilien.« So hatte er es getan – und das habe ich später auch gemacht. Er erzählte mir stolz, dass er kurz nach dem Mauerbau, als niemand in West-Berlin investieren wollte, dort eine Immobilie zu einem Schnäppchenpreis erworben hatte. »Die habe ich mir nicht einmal vorher angeschaut, bei dem Preis konnte man einfach nichts falsch machen.« Damals interessierte ich mich noch nicht für Immobilien, aber hörte das erste Mal, wie man mit Investments »gegen den Strom« Geld verdienen kann.
Für mich war der Wechsel von der Uni in den Verlag auch der Wechsel vom öffentlichen Dienst in die freie Wirtschaft. Zur Vorbereitung meldete ich mich erst einmal bei einem Benimm-Kurs der in Berlin bekannten Trainerin Gisela Tautz-Wiessner an. Ich hatte das Gefühl, dass ich hier erheblichen Nachholbedarf hatte – und absolvierte den Kurs später mehrfach. Danach ermunterte ich Tautz-Wiessner gleich, ein Buch zu diesem Thema in unserem Verlag zu veröffentlichen.
Meine Aufgabe als Cheflektor war es, Ideen für Bücher zu entwickeln, außerdem ausländische Lizenzen zu kaufen und darüber hinaus eine Abteilung von anfänglich 17 Lektoren zu leiten. Der Start war nicht einfach. Ich war mit 34 Jahren jünger und unerfahrener als alle meine Mitarbeiter. Und viele von denen hatten nicht auf mich gewartet. Der eine oder andere, der Fleissner nicht mochte oder vielleicht selbst gehofft hatte, den begehrten Job zu bekommen, versuchte anfangs, meine Arbeit zu sabotieren. Zudem hatte jeder einzelne Mitarbeiter mehr Berufserfahrung im Verlagswesen als ich. Zwar hatte ich in den Jahren zuvor einen Beratervertrag beim Straube-Verlag in Erlangen gehabt, aber meine neuen Mitarbeiter waren teilweise seit Jahrzehnten im Buchgeschäft. Manche ließen mich das spüren, andere wieder unterstützten mich. Und ich lernte sehr schnell.
Über mir gab es im Verlag zwei Personen als Verlagsleiter, den jungen Sohn des Verlegers, Michael Fleissner, sowie Klaus Müller-Crepon. Beide hätten nicht unterschiedlicher sein können. Fleissner war jung, aggressiv, amerikanisch geprägt. Er hatte in den USA gelebt und war, durch den dortigen Geschäftsstil geprägt, erfolgsorientiert. Er war begeisterter Hobbyrennfahrer und hatte einen dominanten Führungsstil. Müller-Crepon war das Gegenteil. Vornehm, bürgerlich, interessiert an Kunst und schöner Literatur, exzellente Manieren, aber als Führungskraft weich. Wenn Müller-Crepon Geburtstag hatte, war sein Zimmer voll Blumen und Gratulanten, bei Michael Fleissner eher nicht. Bei den Mitarbeitern war Müller-Crepon sicher beliebter als der junge Fleissner, aber das störte Letzteren nicht.
Denn wenn Müller-Crepon vornehm eine Anweisung formulierte, wurde das eher als ein unverbindlicher Vorschlag empfunden, eine Option, für die man sich entscheiden konnte – oder eben auch nicht. Das war bei dem jungen Fleissner ganz anders. Wenn der etwas sagte, überlegte keiner, ob er das nun machen sollte oder nicht. Ich beobachtete das genau und entschied mich, dass es mir lieber ist, wenn die Mitarbeiter machen, was ich sage, als wenn sie mich mögen. Selbst verstand ich mich zudem sehr gut mit Michael Fleissner. Als er mich mal aggressiv anging, schoss ich direkt entsprechend zurück – seitdem respektierten und mochten wir uns. Es brauchte allerdings fast zwei Jahrzehnte, bis ich verstand, dass es kein Fehler sein muss, wenn Mitarbeiter einen mögen, und dass man mit einem aggressiven Führungsstil nicht nur Gutes bewirkt, sondern oft das Gegenteil dessen, was man erhofft. Ich denke, solche Einsichten hat man nicht, wenn man Anfang oder Mitte 30 und extrem ehrgeizig ist, wie Michael Fleissner und ich das damals waren.
Die Verlage Ullstein und Propyläen lebten nicht primär von den politischen Büchern, die damals große Aufmerksamkeit erregten. Wirtschaftlich wichtiger war beispielsweise das jährlich neu edierte »Guinness-Buch der Rekorde«, das selbst Auflagenrekorde erzielte, an die kein anderes Sachbuch herankam. Meine Verantwortung lag auch bei derartigen Kassenschlagern. Und obwohl mich die politischen Titel primär interessierten, schlug ich dem Verleger auch andere Veröffentlichungen vor, so etwa die erste Biografie über Bill Gates. Damals, Anfang der 90er Jahre, kannten die meisten Menschen den Namen von Bill Gates nicht, wohl aber seine Produkte und seine Firma Microsoft. Also nannte ich das Buch »Mr. Microsoft«.
Die Titelfindung für die Bücher bereitete mir viel Freude. Hier hatte der Verleger Herbert Fleissner ein großes Talent. Ob er ein Buch verlegte oder nicht, entschied er oft nur danach, ob man einen guten Titelvorschlag hatte. Da konnte es durchaus passieren, dass ich ihm ein interessantes Buchprojekt vorschlug, für das er sich aber nicht erwärmte, weil ihn der Buchtitel nicht überzeugte. Andererseits konnte er sich für ein Projekt nur wegen des Titels begeistern, ohne das Manuskript gelesen zu haben. Dazu hatte er als Verleger, dem etwa zwei Dutzend Verlage gehörten, auch keine Zeit.
Es machte Spaß, zusammen mit Fleissner Titel auszudenken. Die Titelvorschläge, die die Autoren selbst machten, waren meist unbrauchbar. Titel und Umschlag sind ja entscheidend, denn der Leser liest das Buch erst, nachdem er es gekauft hat. Und ein gutes Buch mit einem schlechten Titel und einem unattraktiven Umschlag hat es schwer. Deshalb legte ich immer sehr viel Wert auf gute Titel, und übrigens auch auf die Texte der sogenannten U4. Mit der »U4« (Umschlagseite 4) ist die Rückseite des Buches gemeint, auf der mit wenigen Sätzen die Neugier des Käufers geweckt werden sollte.
Unser Verlag bekam unglaublich viele Manuskripte angeboten, und ich lernte, wie schwer es für einen unbekannten Autor ist, sein Erstlingswerk zu veröffentlichen. Keiner der Lektoren hatte Zeit, die Manuskripte von vorne bis hinten zu lesen. Oft musste der Lektor nach fünf Minuten Querlesen entscheiden, ob ein Buch wohl brauchbar (also verkäuflich) sein würde oder nicht. Jeder Autor, der ein Buch anbietet, ist von seinem Werk hochgradig überzeugt. Viele sind sicher, dass sie den nächsten großen Bestseller landen werden. Ich erinnere mich an einen Autor, der ein Buch über den »Spiegel« herausbringen wollte. Er rechnete uns vor, wie toll die Auflage sein würde, wenn – was er für bescheiden hielt – nur zehn Prozent aller »Spiegel«-Leser sein Buch kaufen würden. Die Witwe eines Künstlers flehte uns an: »Die Welt wartet auf dieses Buch.« Das war aus ihrer Sicht auch richtig. Denn ihre Welt, also die Welt ihrer Freunde und Bekannten, wartete tatsächlich darauf. Manchmal gelang es solchen Autoren, das Herz des Verlegers zu erweichen, so auch in diesem Fall. Die Welt, von der die Witwe gesprochen hatte, war leider nur einige Hundert Personen groß, wie sich dann herausstellte. Das Buch wurde ein Flop.
Wer mit einer Empfehlung kommt, hat es einfacher. Einmal rief mich der renommierte Politikwissenschaftler und Adenauer-Biograf Hans-Peter Schwarz an und empfahl das Manuskript eines gewissen Gerd Habermann. Das war ein ausgezeichnetes Werk eines ebenso klugen und belesenen wie engagierten Marktwirtschaftlers, das wir »Der Wohlfahrtsstaat. Die Geschichte eines Irrweges« nannten.
Wiederholt wurden uns Bücher von Journalisten des Springer-Verlages angetragen, die vertraglich verpflichtet waren, zuerst unserem Verlag ihre Manuskripte anzubieten. Ich erinnere mich an den »Welt am Sonntag«-Autor Peter Bachér. Der schrieb regelmäßig kurze Essays über das Leben im Allgemeinen und die Menschen mit ihren Schwächen im Besonderen. Sein Buch mit dem Titel »Heute ist Sonntag. Einladung zum Innehalten« wurde ein riesiger Erfolg. Wir positionierten es als Geschenkbüchlein, das sich viele Zehntausend Male verkaufte. Wie man bei Blockbuster-Filmen versucht, mit einem zweiten Teil an den ersten Streifen anzuknüpfen, taten wir das auch. Nach dem Erfolg von »Heute ist Sonntag« folgte das nächste Büchlein mit dem Titel »Und wieder ist Sonntag. Vom Glück des Augenblicks«.
Von solchen Büchern lebte unser Verlag, aber mein Herz schlug für die politischen und historischen Bücher. Da verließ ich mich nicht auf Angebote von Autoren und da kaufte ich auch keine Lizenzen aus dem Ausland, sondern entwickelte eigene Ideen und ging damit auf potenzielle Autoren zu. Das machte mir Spaß, und dafür hatte ich auch Talent.
Ein Beispiel dafür war ein Buch des Regensburger Politikwissenschaftlers Jens Hacker. Ich hatte einen Vortrag von ihm gehört, in dem er endlos viele Zitate von Politikern, Kirchenleuten, Gewerkschaftern, Wissenschaftlern und Journalisten zusammengetragen hatte, die sich in den 70er und 80er Jahren vehement gegen eine deutsche Wiedervereinigung ausgesprochen hatten. Viele davon verharmlosten und beschönigten dazu noch die DDR. Übrigens waren das keineswegs nur linke Politiker und Wissenschaftler, sondern auch viele aus der CDU oder deren Umfeld. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und der Wiedervereinigung wollte niemand mehr etwas von seinen damaligen peinlichen Äußerungen wissen. Ich schlug Hacker vor, ein Buch zu schreiben, das mit den großen Irrtümern dieser Leute abrechnete.
Wir nannten das Buch dementsprechend »Deutsche Irrtümer«. Und dann überredete ich den Autor zu einem aggressiven Untertitel: »Schönfärber und Helfershelfer der SED-Diktatur im Westen.« Der Professor mochte den Untertitel nicht und warf mir später vor, ich hätte ihn allzu hartnäckig bedrängt. Aber das Buch wurde ein Verkaufserfolg und fand große Beachtung. Natürlich ärgerten sich all die Personen, die dort zitiert wurden, mächtig, da Hacker an Äußerungen erinnerte, von denen sie gehofft hatten, sie seien längst vergessen.
Übrigens war das Konfliktpotenzial für mich geradezu ein Entscheidungskriterium, ob ich ein Buch herausbrachte oder nicht: Bot jemand ein Manuskript zu einem politischen Thema an, fragte ich ihn zuerst, wer sich über das Buch ärgern werde. Konnte er diese Frage nicht beantworten, war es schwer für ihn, mich zu überzeugen.
Wurde ein Buch negativ in bestimmten Medien besprochen, war das sogar eine gute Reklame. Ich erinnere mich an das Buch von Wolfgang Kowalsky: »Rechtsaußen … und die verfehlten Strategien der deutschen Linken«, das ich 1992 herausbrachte. Kowalsky stand selbst politisch links, er arbeitete in der Grundsatzkommission der IG Metall. Aber er war ein nonkonformistischer Querkopf, den ich deshalb schätzte. Ich hatte einen Aufsatz von ihm gelesen, in dem er sich kritisch damit auseinandersetze, wie die Linke mit untauglichen Strategien den Rechtsextremismus bekämpfte, und schlug ihm vor, ein Buch zu diesem Thema zu schreiben. Das tat er. Die linke »Frankfurter Rundschau« brachte einen Verriss und schrieb: »Vor Wolfgang Kowalskys als ›Report‹ getarnter Polemik muss gewarnt werden.« Ich schaltete sofort eine Anzeige für das Buch, und zwar mit genau diesem Zitat samt Quelle: »Vor diesem Buch muss gewarnt werden. Frankfurter Rundschau«.
Es erschien in der Reihe »Ullstein Report«, die ich zusammen mit unserem Marketingberater erfunden hatte. Das waren Paperback-Ausgaben, die in der Regel so um die 20 Mark kosteten und in denen Autoren zu aktuellen und kontroversen Themen schrieben.
Ein kontroverses Thema war damals das Asylrecht. Ich gewann Heinrich Lummer, den ehemaligen CDU-Innensenator von Berlin, dafür als Autor. Sein Buch hatte einen roten Umschlag mit gelbem Aufdruck: »Asyl. Ein missbrauchtes Recht«. Dazu gab es auf dem Umschlag immer plakative Headlines, das hatte ich mir ausgedacht. In diesem Fall: »Zeitbombe unserer Gesellschaft. Die Feigheit der Politiker. Die Tricks und die Kosten. Der Ausweg.« Was Lummer hier als Ausweg vorschlug, wurde später in der Gesetzgebung tatsächlich umgesetzt. Damals war es hochkontrovers. Einer unserer Vertreter flog hochkant aus einer Buchhandlung heraus, als er diesen Band anbot. Die Buchhändlerin erklärte ihm, er brauche nicht mehr wiederzukommen. Dazu muss man wissen, dass die meisten Buchhändler politisch eher links eingestellt sind.
Ein anderer Band in dieser Reihe hatte den Titel: »Sozialkriminalität in Deutschland.« Die plakativen Headlines lauteten: »Tatort Wohlfahrtsstaat. Missbrauch sozialer Leistungen. So wird der Staat betrogen. Was ist zu tun?« Autor Werner Bruns, ein FDP-Mann, wusste, wovon er sprach. Er war Referent im niedersächsischen Sozialministerium. Auf der Rückseite des Buches textete ich: »Die widerrechtliche Erschleichung von Arbeitslosengeld, Sozialhilfe, Wohngeld, Kindergeld und anderen sozialen Leistungen ereignet sich in Deutschland Tag für Tag im großen Stil. Jährlich fließen über 10 Milliarden D-Mark in die Hände von Sozialbetrügern. Trotzdem ist dieses Thema ein Tabu in der öffentlichen Diskussion … Es geht dem Autor nicht um die Denunziation von Betrügern, sondern um die dringend gebotene Stabilisierung des sozialen Netzes für die wirklich Bedürftigen.«
In einem Band setzte sich der damalige FAZ- und spätere »Bild«-Redakteur Ralf Georg Reuth kritisch mit Manfred Stolpe, dem Ministerpräsident von Brandenburg, auseinander, der im Verdacht stand, unter dem Decknamen »IM Sekretär« für die Stasi gearbeitet zu haben. Reuth, ein investigativer Journalist, der sich nachts mit Informanten traf, veröffentlichte in dem »Report« bisher nicht publizierte Dokumente. Stolpe beschwerte sich persönlich auf höchster Ebene des Springer-Verlages über dieses Buch.
Das kontroverseste Buch war das von Jörg Haider, dem Vorsitzenden der österreichischen FPÖ, der die ehemalige Schwesterpartei der deutschen FDP auf einen rechten – jedoch aus meiner damaligen Sicht nicht rechtsextremen – Kurs gebracht hatte. »Freiheit, die ich meine«, hieß der Band. Ich lernte den Autor persönlich kennen und verbrachte mit ihm zwei Tage auf einer Alm in Kärnten, wo wir über das Buch diskutierten. Ich wollte mir persönlich ein Bild von ihm machen. Ich war in vielen Punkten anderer Meinung als er, aber ein Nazi war Haider gewiss nicht. Innerhalb des Verlages mussten wir das Buchprojekt unter einem Decknamen verfolgen, weil wir wussten, dass es einige Mitarbeiter strikt ablehnen würden.
Auch wenn ich vielen konservativen und rechtsliberalen Autoren ein Forum bot, bemühte ich mich zugleich um Nonkonformisten aus dem linken Lager. Wolfgang Kowalsky habe ich bereits erwähnt. Ein anderer war Tilman Fichter, bekanntes Mitglied des linksradikalen Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) in den 60er Jahren und seit 1987 Referent für Schulung und Bildung beim Parteivorstand der SPD. Also bestimmt kein Rechter. Aber ein Linker, dem das Thema »Nation« wichtig war. »Die SPD und die Nation« lautete denn auch der Titel von Fichters Buch. Der Untertitel: »Vier sozialdemokratische Generationen zwischen nationaler Selbstbestimmung und Zweistaatlichkeit«. Auf dem Buchcover waren Fotos der SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher, Willy Brandt, Helmut Schmidt und Oskar Lafontaine abgebildet. In seinem Buch kritisierte Fichter Oskar Lafontaine, der stets strikt gegen die deutsche Einheit war.
Wir wollten auch die Memoiren von Egon Krenz herausbringen, dem langjährigen Stellvertreter – und späteren Nachfolger – von SED-Chef Erich Honecker. Als historisches Dokument hätten sie wertvoll sein können, aber ich befürchtete, Krenz könnte, wenn man ihn damit alleine ließ, weniger das berichten, was er tatsächlich erlebt hatte, sondern würde daraus ein Lobpreis machen, wie schön der Sozialismus war. Deshalb wollte ich ihm einen Historiker an die Seite stellen, der darauf achtete, dass die Memoiren kein politisches Pamphlet würden, sondern wirkliche historische Erinnerungen, die als Quelle einen bleibenden Wert hätten.
Der Potsdamer Historiker Manfred Görtemaker hatte an dem Projekt Interesse, und Krenz akzeptierte sowohl die Idee als auch die Person von Görtemaker. Wir besuchten Krenz zu Hause und sprachen mit ihm lange über das Thema. Mir fiel auf, dass er die ganze Zeit ununterbrochen alles mitschrieb, was Görtemaker und ich sagten, das fand ich ungewöhnlich. Als dann Anklage gegen Krenz erhoben werden sollte (später wurde er verurteilt), erklärte er uns, er wolle das Projekt nicht weiter verfolgen, da er Angst hatte, er könnte sich mit bestimmten Aussagen selbst belasten.
Neben den aktuellen Titeln war ich für das wissenschaftliche Buchprogramm verantwortlich, das wir bei Propyläen herausbrachten. In diesem Verlag waren renommierte Reihen erschienen, wie etwa die Propyläen Weltgeschichte. Ein großes Projekt war eine Buchreihe mit dem Titel »Propyläen Geschichte Deutschlands«. Das waren dickleibige und großformatige Bände, die man zu einem sehr stolzen Preis auf Subskription bestellen konnte. Für den Verlag rechneten sich solche Projekte mit vielen Bänden erst, wenn sie vollständig waren und er günstige Paperback-Ausgaben drucken und beispielsweise in Kaufhäusern anbieten konnte. Der Verleger und der kaufmännische Leiter des Verlages ärgerten sich deshalb mächtig darüber, dass die Lektoren seit Jahren unfähig waren, das Projekt zum Abschluss zu bringen. Subskribenten kündigten verärgert, weil die versprochenen Bände nicht erschienen.
Der Verlag hatte renommierte Professoren gewonnen und Verträge mit ihnen abgeschlossen. Die Autoren kassierten bei Unterzeichnung des Vertrages bereits Vorauszahlungen auf ihr Honorar. Einige hielten die Verträge ein und lieferten die Manuskripte mehr oder minder pünktlich ab. Andere waren im Verzug, und zwar nicht nur um Monate, wie das leider nicht selten vorkommt, sondern um Jahre. Der zuständige Lektor, ein älterer, sehr liebenswürdiger Herr, konnte sich gegenüber den Professoren nicht durchsetzen. Er sah seine Aufgabe darin, mir die Briefe mit den Ausflüchten der Autoren weiterzureichen, in denen diese wortreich um Verständnis dafür baten, warum sie zum wiederholten Male einen fest vereinbarten Termin für die Manuskriptabgabe nicht eingehalten hatten. Die Briefe endeten stets mit dem Versprechen, das überfällige Manuskript komme aber »sicher« dann und dann.
Dieses Spiel ging nun schon viele Jahre so, und es war nicht abzusehen, wie die Reihe jemals komplettiert werden könnte. Der zuständige Lektor war mächtig stolz auf die Bekanntschaft und Vertrautheit mit den berühmten Professoren, die er sogar in vielen Fällen duzte. Ein Problem war beispielsweise der Band über die Jahre 1933–1945, den der renommierte Historiker Hans Mommsen schreiben sollte. Doch der war seit mehr als einem Jahrzehnt im Verzug. Mommsen hatte am 29. August 1977 einen Vertrag mit dem Verlag geschlossen, in dem die Abgabe des Manuskriptes für den 1. September 1980 vereinbart worden war.
»Sie müssen verstehen, der Hans hat im Moment sehr starke Verpflichtungen, aber er wird das Buch ganz sicher nächstes Jahr abliefern« – solche und ähnliche Versicherungen hörte ich wieder und wieder von dem Lektor. Ich verstand, dass er den Konflikt mit den berühmten Autoren scheute, weil er das gute Verhältnis nicht aufs Spiel setzen wollte. Offenbar funktionierte diese sehr nachgiebige Art nicht.
Daraufhin übernahm ich die Sache selbst und rief die säumigen Autoren an: »Sie wissen, dass Sie seit … im Verzug sind mit dem Manuskript. Wann dürfen wir damit rechnen?« Die Autoren entschuldigten sich und erklärten mir die Gründe für die Verzögerung, jeder nannte mir ein neues Datum. »Kann ich mich ganz sicher darauf verlassen, dass Sie diesen Termin diesmal wirklich einhalten?« Nachdem die Autoren das nachdrücklich versicherten, sagte ich: »In Ordnung. Ich möchte Ihrer Aussage vertrauen. Nach den Erfahrungen der Vergangenheit werden wir jedoch eine Vereinbarung schließen, dass Ihr Vertrag automatisch als aufgelöst gilt, sollten Sie diesen Termin wiederum nicht einhalten.« Ich gebe zu, dass dieser neue Ton den Professoren nicht gefiel. Wenn sie protestierten, konterte ich: »Vor fünf Minuten haben Sie mir gesagt, es sei 100 Prozent sicher, dass das Manuskript zu dem von Ihnen genannten Termin kommt. Hat das vielleicht nicht gestimmt? Ansonsten verstehe ich nicht Ihr Problem mit dieser Vereinbarung.«
Die Professoren unterschrieben und einige gaben dann auch ihr Manuskript ab. Doch Hans Mommsen, der Autor aus einer berühmten Historikerfamilie, hielt sich auch nicht an die neue Vereinbarung, und damit war der Vertrag, auf dessen Erfüllung der Verlag vergeblich so viele Jahre gewartet hatte, nicht mehr gültig. Ich suchte einen neuen Autor, und Karlheinz Weißmann erklärte sich bereit, das Werk zu schreiben und damit die Lücke zu füllen.
Das Buch, das er schrieb, war nicht zu beanstanden, wie etwa der Historiker Klaus Hildebrand, einer der weltweit angesehensten Experten für die Zeit des Nationalsozialismus, in einer Rezension bestätigte. Hildebrand urteilte in dem führenden Fachorgan der deutschen Geschichtswissenschaft, der »Historischen Zeitschrift«, dass Weißmann eine Darstellung des Dritten Reiches verfasst habe, die aus ihrer »tiefen Ablehnung der braunen Jakobinerherrschaft keinen Hehl macht« und die »sich von ihrem Versuch um historisches Verstehen nicht auf Irrwege der Urteilsbildung führen lässt, sondern stets im verbindlichen Radius der geschichtswissenschaftlichen Forschung bleibt«. Weißmanns Buch, so das Resümee von Hildebrands Rezension, »das im Übrigen gut geschrieben ist, lässt erneut erkennen, dass Hitlers Gewaltherrschaft nichts anderes als eine verheerende Spur der Zerstörung hinterlassen hat, deren Folgen von geradezu bedrückender Gegenwärtigkeit sind«.
So weit das Urteil des renommierten Bonner Historikers. Aber Weißmann war ein Vertreter der »Neuen Rechten«, und das war das Signal für andere Autoren der Buchreihe, jetzt Sturm zu laufen. »Historiker distanzieren sich von Rechten«, schrieb beispielsweise der »Spiegel«. Der Herausgeber der Buchreihe, Dieter Groh, der es in all den Jahren nicht zuwege gebracht hatte, die Reihe zu komplettieren und auf die Autoren einzuwirken, damit sie ihre Verpflichtungen erfüllten, protestierte öffentlich gegen das Buch.
Sehr überzeugend wirkte dieser Protest nicht, denn selbst »Die Zeit«, die inhaltlich auf der Seite von Groh stand, konstatierte, der Herausgeber der Reihe habe »versagt«. »Denn hätte er sich schon früher einmal um das Schicksal der Reihe gekümmert – der Zitelmann’sche Überraschungscoup hätte nicht gelingen können.« Dass der Herausgeber »eines so wichtigen historiografischen Unternehmens« erst durch die Zusendung des Buches davon erfahren habe, »das dürfte ein in der Wissenschafts- und Verlagsgeschichte einmaliger Vorgang sein«, schrieb »Die Zeit«.
Der »Rheinische Merkur« kritisierte den Herausgeber ebenfalls und zeigte Verständnis für mein Vorgehen: »Der Band wurde 1977 in Auftrag gegeben, Ablieferungsfrist: 1980. Bis 1992 entstand keine Zeile. Der säumige Professor bekam eine letzte Chance. Vergeblich. Andere, namhafte Historiker wurden angesprochen. Sie winkten ab.« Über Weißmanns Buch lasse sich zwar streiten, so der »Rheinische Merkur«, aber: »Der verantwortliche Herausgeber, der erst jetzt vom Autorenwechsel erfahren haben will und nun so überrollt tut, hat seit 1980 dem Stillstand zugesehen. Dass da schließlich ein Cheflektor zur Tat schreitet – wen wundert es bei so viel Indolenz?«
Weißmann erhielt vom Verlag eine ordentliche Abstandszahlung, aber sein Buch wurde nach meinem Ausscheiden aus dem Verlag aufgrund des Protestes eingestampft. Die Kündigung des Vertrages mit Mommsen war eine unvermeidbare Entscheidung, aber ihn durch Weißmann zu ersetzen, war ein Fehler. Denn nach außen erschien es so, als hätte ich den der SPD eng verbundenen Hans Mommsen herausgedrängt, weil er mir nicht politisch genehm war und es lieber sah, dass das Buch von einem »Neuen Rechten« geschrieben würde. Das klang für den Außenstehenden plausibel, aber es stimmte nicht.
Hans Mommsens Arbeiten über den Nationalsozialismus schätzte ich, auch wenn wir beide – etwa in der Frage nach der modernisierenden Funktion des Nationalsozialismus – verschiedene Positionen vertraten. In anderen Kontroversen, so etwa in der Historikerdebatte über die Urheberschaft des Reichstagsbrandes 1933 stand ich auf Mommsens Seite. Ich hätte ihn gerne als Autor gehabt, zumal die Fachwelt schon lange auf eine große Monografie zur NS-Zeit von ihm wartete und mir der Verleger die Aufgabe gestellt hatte, das Projekt möglichst zügig zum Abschluss zu bringen. Deshalb war ich froh, dass ich mich mit Mommsen auf einen neuen Abgabetermin einigen konnte und hoffte, dass er wegen der neuen Klausel, wonach der Vertrag beendet würde, wenn er diesen Termin wieder verstreichen ließ, sich diesmal an seine Zusage halten werde. Aber er lieferte nie sein Manuskript ab, übrigens auch nicht nach der Aufhebung des Vertrages mit Weißmann und nach meinem Ausscheiden aus dem Verlag. Das belegt, dass ich Mommsen zu Recht gekündigt hatte, denn er hätte ja danach die Gelegenheit gehabt, seinen vertraglichen Verpflichtungen endlich nachzukommen. 2015 ist der verdienstvolle Historiker verstorben.
Die rege Publikationstätigkeit der Verlage Ullstein und Propyläen erregte die politische Linke. Der Philosoph Jürgen Habermas beklagte in einem »Spiegel«-Essay: »Rainer Zitelmanns zeitgeschichtliches Programm im ehrwürdigen Ullstein-Verlag«. Und der SPD-Politiker Peter Glotz mahnte in der Zeitschrift »Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte«: »Für die Linke ist es ein Jammer … Ullstein und Siedler sind heute prägender als Piper und Hanser.« Ich empfand das als großes Kompliment. Doch es blieb leider nicht bei intellektuellen Diskursen. Eines Tages stank es auf einmal schrecklich im Vorzimmer meines Büros. Der Gestank kam aus einem Briefumschlag mit dem Absender »Rosa Luxemburg Komitee«. Mit dem Spruch von Rosa Luxemburg, die »Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden« hatten die Absender offenbar ein Problem: In dem Briefumschlag lag als Warnung an mich eine tote Ratte. Ein anderes Mal stand ein Grabstein vor dem Eingang zum Verlag, mit meinem Namen darauf.
Am 8. November 1993, das war kurz vor meinem Ausscheiden aus dem Verlag, wollte ich frühmorgens zur Arbeit fahren. Ich fand von meinem Wagen nur noch ein ausgebranntes Wrack. Damals war es noch nicht üblich, dass fast täglich in Berlin Autos von linken Autonomen »abgefackelt« wurden. Die taz erhielt ein Bekennerschreiben mit dem Titel: »Erklärung zur Aktion gegen Rainer Zitelmann«. Darin hieß es: »Wir haben am 8.11.1993 das Auto (metallischroter 3er BMW, B-MW 4796) von Dr. Rainer Zitelmann, Friedrich-Wilhelm-Platz 3, Berlin-Friedenau abgefackelt …. Als Cheflektor bestimmt er nicht nur, was in das Programm aufgenommen wird, er hilft auch tatkräftig mit, rassistische Propaganda unters Volk zu bringen … Wir halten es für notwendig, einen jener seriösen Herrschaften aus ihrer Anonymität herauszureißen, die unter ihrer weißen Weste die braune Unterwäsche tragen.«
Der Anschlag auf mein Auto war keine Ausnahme. Die FAZ berichtete am 5. Februar 1994 über ähnliche Fälle. So wurde der Historiker Ernst Nolte mit Schlägen und Reizgas daran gehindert, einen Vortrag über »Nietzsche und die Gegenwart« zu halten. Einer der Täter, die ihn vor dem Gebäude der katholischen Studentengemeinde in Berlin-Friedrichshain abfingen, schrie: »Das ist ein Nazi«. Auf die Frage des Professors, ob er denn überhaupt seine Werke gelesen hätte, antwortete der Schläger: »Alles«. »Nehmen wir einmal an«, so Jens Jessen, der Kommentator der FAZ, »der Mann habe die Wahrheit gesagt. Er habe die umfangreichen Schriften Noltes wirklich gelesen und ihre komplexe Argumentation wirklich verstanden, er habe also als Intellektueller beschlossen, einen anderen Intellektuellen nicht mit dem Wort, sondern mit der Waffe zu bekämpfen: Es wäre die vollendete Barbarei … Eine vergleichbar erschreckende Intellektualität ließen allerdings schon die Täter ahnen, die im November letzten Jahrs das Auto des Historikers und Publizisten Rainer Zitelmann anzündeten. Sie hinterließen ein Bekennerschreiben. Auch hier sollten geschichtliche Werke über das Dritte Reich, eine bestimmte, vielleicht auch nur unterstellte Einschätzung des Nationalsozialismus als Grund für den Anschlag ausreichen.« Es sei »neu und bedrohlich«, so die FAZ weiter, »dass einer sich als Intellektueller zu erkennen gibt und als solcher meint, die Störung des Konsenses gewalttätig bestrafen zu müssen.«