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Tom wird 1914 in Detroit geboren, kaum einen halben Kilometer von International Salt entfernt. Sein Vater ist verschwunden, keiner weiß, wohin. Seine Mutter betreibt eine zugige Pension mit sechs Zimmern, hinter deren verschlossenen Türen die mageren Besitztümer von Wanderarbeitern aus dem Salzbergwerk schlummern: mausgraue Mäntel, ramponierte Arbeitsstiefel, Kupferstiche entkleideter Frauen mit bleich orangenfarbenen Brüsten. Alle halbe Jahre wird ein Bergarbeiter entlassen, muss zur Armee oder stirbt und ein neuer ersetzt ihn, sodass Tom schon sehr früh sieht, wie die Welt ihre jungen Männer verliert, von denen nur wenig zurückbleibt: leere Tabaksbeutel, Klappmesser mit abgebrochenen Klingen, salzverkrustete Hosen, stumm, ohne Gedächtnis.
Tom ist vier, als er das erste Mal ohnmächtig wird. Er biegt um eine Ecke, atmet schwer, und die Lichter gehen aus. Die Mutter trägt ihn nach drinnen, setzt ihn in einen Sessel und schickt jemanden los, um den Arzt zu holen.
Ein Atriumseptumdefekt. Ein Loch im Herz. Der Arzt sagt, Blut schwappt von der linken auf die rechte Seite. Das Herz muss dreimal so hart arbeiten. Toms Lebenserwartung liegt etwa bei sechzehn Jahren. Achtzehn, wenn er Glück hat. Das Beste wäre, wenn er sich möglichst nicht aufregt.
Die Mutter übt sich im Flüstern. Komm her, sieh mal, mein süßer kleiner Tommi-Schatz. Sie stellt Toms Kinderbett in eine Kammer oben im Haus. Kein helles Licht, kein Lärm. Morgens bekommt er ein Glas Buttermilch, dann gibt sie ihm einen Besen oder einen Bausch Putzwolle. Ganz langsam, murmelt sie. Er putzt den Kohleofen und fegt die Marmorstufen. Zwischendurch blickt er von der Arbeit auf und betrachtet das Gesicht ihres ältesten Gastes, Mr Weems, wie er die Treppe herunterkommt. Mr Weems ist fünfzig, hat sich gegen die Kälte eine Kapuze über den Kopf gezogen und wird gleich mit einem Aufzug dreihundert Meter in die Tiefe fahren. Tom stellt sich die Fahrt vor, düstere Lichter, die hin und wieder vorbeiziehen und verschwinden, Drahtseile, die zittern und schlagen, ein halbes Dutzend weiterer Männer neben ihm in den Korb gepfercht, jeder seine eigenen Gedanken denkend, Männergedanken, während sie in diese Stadt unter der Stadt sinken, wo Maultiere warten, Öllampen an den Wänden brennen und sich glitzernde Salzgewölbe in mächtigen Säulengängen bis hinter die letzten Lichter erstrecken.
Sechzehn, denkt Tom. Achtzehn, wenn ich Glück habe.
Die Schule hat drei Räume für den Nachwuchs von Hüttenarbeitern und Männern aus den Salz- und Kohlebergwerken, irische, polnische und armenische Kinder. Für Mutter erscheint der Schulhof als ein tausend Morgen großes brodelndes Pandämonium. Renne nicht und streite nicht, flüstert sie. Keine Spiele. Am ersten Tag holt sie ihn nach einer Stunde aus der Klasse. Schschsch, sagte sie und legt ihre Arme um seine.
Während der ersten Jahre geht Tom mal in die Schule, mal nicht. Manchmal behält sie ihn wochenlang zu Hause. Mit zehn hängt er in allem hinterher. Ich versuche es, stammelt er, doch die Buchstaben fliegen von den Seiten und prallen gegen die Fensterscheiben. Hohlkopf, sagen die anderen Jungen, und Tom denkt, sie haben Recht.
Tom fegt, schrubbt und scheuert die Stufen mit einem Bimsstein sauber, Zentimeter für Zentimeter. Transusiger geht’s kaum, sagte Mr Weems, aber er zwinkert Tom dabei zu.
Jeden Tag, von morgens bis abends, findet das Salz seinen Weg ins Haus. Es verkrustet die Waschbecken und setzt sich auf den Rändern der Fußleisten fest. Es rieselt auch aus den Pensionsgästen: aus Ohren, Stiefeln, Taschentüchern. Mit täglich neuer Heimtücke bilden sich glitzernde Furchen in den Bettlaken.
Fang am Rand an und arbeite dich bis zur Mitte vor. Wäsche am Donnerstag, die Toiletten am Freitag.
Er ist zwölf, als Ms Fredericks die Kinder bittet, etwas aufzuschreiben. Ruby Hornaday kommt als Sechste an die Reihe. Ruby hat Flammenhaare, an Weihnachten Geburtstag und einen Säufer zum Vater. Sie ist eines von zwei Mädchen, das es in die vierte Klasse geschafft hat.
Sie liest mit zitternder Stimme. Wenn du denkst, der See ist groß, solltest du das Meer sehen. Drei Viertel der Erde sind Meer, und das ist nur die Oberfläche. Jemand wirft einen Bleistift nach ihr. Die Runzeln auf Rubys Stirn werden tiefer. Landtiere leben auf der Erde oder in Bäumen, Ratten und Würmer und Möwen und so. Aber Meerestiere leben überall, sie leben in den Wellen und sie leben mittendrin und sie leben in zehn Kilometer tiefen Schluchten.
Sie lässt ein rotes Buch mit Textblöcken und vierfarbigen Abbildungen herumgehen, die dafür sorgen, dass Tom das Blut in den Ohren rauschen hört. Eine Flut winziger Fische mit noch winzigeren Zähnen. Eine rotblaue Korallenwelt. Fünf auf einen Felsen zementierte orangefarbene Seesterne.
Ruby sagt: In Detroit gab’s mal Palmen und Korallen und Muscheln. Detroit war mal fünf Kilometer tief im Meer.
Ms Fredericks fragt: Ruby, wo hast du das Buch her? Tom atmet kaum noch. Durchsichtige Blumen mit giftigen Fangarmen, Muschelfelder und rosa Kugeln mit tausend Nadeln auf dem Rücken. Er versucht zu fragen: Gibt’s die wirklich?, aber Quecksilberblasen steigen aus seinem Mund und treiben zur Decke hinauf. Als er umfällt, kippt der Tisch mit ihm um.
Der Arzt sagt, am besten geht Tom nicht mehr zur Schule, und seine Mutter stimmt ihm zu. Bleib drinnen, sagt der Arzt. Und wenn du dich aufregst, denke an etwas Blaues. Die Mutter lässt ihn nur zum Essen nach unten kommen, und wenn es etwas zu tun gibt. Im Übrigen soll er in seiner Kammer bleiben. Wir müssen vorsichtig sein, Tommi-Schatz, flüstert sie und legt ihm die Hand auf die Stirn.
Tom verbringt viele Stunden auf dem Boden neben seinem Bett und setzt immer wieder dasselbe Puzzle zusammen: ein Schweizer Dorf. Fünfhundert Teile, von denen neun fehlen. Manchmal liest Mr Weems Tom etwas aus einem Abenteuerroman vor. Tief unten im Bergwerk sprengen sie eine neue Ader in den Stein, und in den Pausen zwischen Mr Weems’ Worten kann Tom spüren, wie die Explosionen durch Hunderte Meter Fels die empfindliche Pumpe in seiner Brust erschüttern.
Er vermisst die Schule. Er vermisst den Himmel. Er vermisst alles. Wenn Mr Weems im Bergwerk und Toms Mutter unten im Haus ist, schleicht Tom oft ans Ende des Flurs, schiebt den Vorhang zur Seite und drückt die Stirn gegen das Glas. Kinder rennen über die verschneiten Straßen, hinter den Fenstern der Gießerei glühen Lichter, Zugwaggons rollen unter Rohren und Leitungen dahin. Die Arbeiter der ersten Schicht kommen in Sechsergruppen aus dem Maul des Aufzugs, holen Zigarettenpäckchen aus ihren Overalls, reißen Streichhölzer an und verschwinden wie salzbestäubte kleine Insekten in die Nacht, während die dunkleren Gestalten, die Männer der zweiten Schicht, in der Kälte von einem Fuß auf den anderen treten und darauf warten, dass sie in den Käfig steigen und in die Grube einfahren können.
In seinen Träumen sieht er schwankende Hornkorallen, umherschwirrende Zackenbarsch-Schwärme und Lichtstrahlen unter Wasser. Er sieht, wie Ruby Hornaday die Tür zu seiner Kammer aufstößt. Sie trägt einen kupfernen Taucherhelm, beugt sich über sein Bett und bringt ihr Helmglas dicht an sein Gesicht.
Erschrocken wacht er auf. Hitze sammelt sich in seiner Leiste, und er denkt: blau, blau, blau.
An einem nieseligen Samstag klingelt es an der Tür. Als Tom aufmacht, steht Ruby Hornaday auf der Treppe.
Hallo. Tom blinzelt ein Dutzend Mal. Regentropfen überziehen die Pfützen mit Tausenden sich überschneidenden Ringen. Ruby hält ein Glas in die Höhe: Sechs Kaulquappen winden sich durch ein paar Zentimeter Wasser.
Es sah so aus, als würdest du Wassertiere mögen.
Tom versucht zu antworten, aber der gesamte Himmel weht ihm durch die offene Tür in den Mund.
Du wirst doch nicht wieder ohnmächtig?
Mr Weems kommt in die Diele gestapft. Himmel, Junge, der Dame ist so nasskalt wie in einer Kirche. Du musst sie hereinbitten.
Ruby steht auf den Fliesen und tropft. Mr Weems grinst. Tom murmelt: Mein Herz.
Ruby hält ihm das Glas hin. Du kannst sie behalten. Es dauert nicht lange, und sie werden zu Fröschen. Tropfen leuchten auf ihren Wimpern. Das Hemd klebt an ihrem Schlüsselbein. Nun, das ist doch was, sagt Mr Weems. Er stupst Tom in den Rücken. Stimmt’s, Tom?
Tom öffnet den Mund und sagt: Vielleicht könnte ich …, als seine Mutter in ihren großen schwarzen Schuhen die Treppe herunterkommt. Ärger, zischt Mr Weems.
Die Mutter schüttet die Kaulquappen in den Graben. Ihr Gesicht sagt, dass sie sich zusammennimmt, aber ihre Augen sagen: Weg damit. Mr Weems beugt sich über die Dominosteine und flüstert: Deine Mutter ist hart wie ein Pflasterstein, aber wir knacken sie schon, wart’s nur ab, Tom.
Tom flüstert: Ruby Hornaday, in den Raum über seinem Bett. Ruby Hornaday. Ruby Hornaday. Eine merkwürdige, unkontrollierbare Freude füllt ihm bedrohlich die Brust.
Mr Weems spricht lange mit der Mutter in der Küche. Tom hört einzelne Bruchstücke: Der Junge braucht Auslauf. Der Junge sollte etwas frische Luft schnappen.
Mutters Stimme ist wie eine Peitsche. Er ist krank.
Er lebt! Was hat er sonst?
Die Mutter willigt ein, dass Tom Kohlen aus dem Depot und Konserven aus dem Laden holen kann. Und dienstags soll er zum Metzger in Dearborn gehen dürfen. Vorsicht, Tommi-Schatz, nicht zu schnell.
An jenem ersten Dienstag bewegt sich Tom mit einem Gefühl durch die Kolonie, das an Verzückung grenzt. Die langen Schotterwege hinunter, an Zechenhäusern, Bergen von blauem und weißem Salz und dunklen, kathedralenartigen Lagergebäuden und Fördermaschinen vorbei, die wie dämonische Gerippe in die Luft ragen. Überall um ihn herum hämmert und dröhnt die gewaltige Industrie Detroits. Der Junge stellt sich vor, ein Schatzsucher zu sein, der Held aus einer von Mr Weems’ Abenteuergeschichten, ein Ritter mit wichtigem Auftrag, ein Spion hinter feindlichen Linien. Er hat die Hände in den Taschen, hält den Kopf gesenkt und geht langsam, doch seine Seele eilt voraus, schwerelos, jubilierend blitzt sie durch die Düsternis.
Im Mai dieses Jahres, 1929, geht der vierzehnjährige Tom die Straße hinunter und denkt, der Frühling kommt, ob du darauf achtest oder nicht – unter dem Schnee regt er sich, hinter den Mauern, im Dunkeln, während du träumst. Da tritt Ruby Hornaday aus dem Gestrüpp. Sie trägt einen aufgerollten schrumpeligen Gummischlauch über der Schulter, eine Taucherbrille in der einen und eine Luftpumpe in der anderen Hand. Ich brauche deine Hilfe. Toms Puls schnellt in die Höhe.
Ich muss zum Metzger.
Wie du willst. Ruby wendet sich zum Gehen. Aber natürlich will er.
Sie führt ihn nach Westen, weg vom Bergwerk, zwischen Unmengen rostender Maschinen hindurch. Sie springen über einen Zaun, überqueren ein unbestelltes Feld und laufen noch etwa einen halben Kilometer zwischen Harzkiefern hindurch in ein Sumpfgebiet, wo Kuhreiher wie weiße Blumen zwischen Rohrkolben stehen.
In meinen Mund, sagt sie und fängt an, Steine aufzusammeln, und aus der Nase wieder heraus. Du pumpst, Tom. Verstanden? Etwa eine Armlänge tief im grünen Wasser kann Tom die dunklen Umrisse einiger durch die verwachsenen Tümpel gleitenden Fische ausmachen.
Ruby wirft ein Ende des Schlauchs ins Wasser, bindet das andere an die Pumpe und füllt ihre Taschen mit Steinen. Sie watet ins Wasser hinaus, dreht sich um, sagt: Du pumpst, und steckt sich den Schlauch in den Mund. Die Taucherbrille schiebt sich über ihre Augen, ihr Gesicht verschwindet im Wasser.
Das Sumpfwasser schließt sich über Rubys Rücken, der Schlauch entfernt sich vom Ufer. Tom fängt an zu pumpen. Der Himmel gleitet über ihn hinweg. Schlaufen des Gartenschlauchs treiben im Licht dahin und rucken hin und her. Gelegentlich steigen Blasen auf und fließen weiter hinaus.
Eine Minute, zwei Minuten. Tom pumpt. Sein Herz tut seinen schwächlichen Dienst. Er sollte nicht hier sein. Er sollte nicht hier sein, während sich dieses magere, faszinierende Mädchen im Sumpf ertränkt. Wenn es das ist, was sie tut. Einer von Mr Weems’ Vergleichen kommt ihm in den Sinn: Du zitterst wie eine Nadel in Richtung Pol.
Nach vier, fünf Minuten unter Wasser taucht Ruby wieder auf. Leuchtende Algen bedecken ihr Haar, und ihre nackten Füße sind schwere Matschstiefel. Sie schiebt sich zwischen den Rohrkolben hindurch. Speichelfäden hängen an ihrem Kinn. Ihre Lippen sind blau. Tom fühlt sich benommen. Der Himmel verflüssigt sich.
Unglaublich, keucht Ruby. Verdammt unglaublich. Sie hält die nasse, mit Steinen gefüllte Hose mit beiden Händen und sieht Tom durch die wellige Scheibe ihrer Taucherbrille an. Sein Blut rast durch seine lichtlosen Tunnel.
Er muss traben, um es zum Metzger und bis zwölf wieder nach Hause zu schaffen. Solange Tom sich erinnern kann, ist es das erste Mal, dass er sich zu rennen erlaubt. Seine Beine fühlen sich an wie aus Glas. Am Ende der Straße, noch etwa hundert Meter von zu Hause entfernt, bleibt er keuchend mit dem Korb Fleisch in den Armen stehen und spuckt etwas Blut in den Löwenzahn. Sein Hemd ist schweißnass. Libellen kommen herangeschossen und stehen vor ihm in der Luft. Schwalben schreiben Buchstaben in den Himmel. Die Straße scheint sich zu kräuseln, zu falten und wieder auszubreiten.
Nur noch hundert Meter. Er zwingt sein Herz zur Ruhe. Alles, denkt Tom, folgt einem Weg, der von denen gebahnt worden ist, die ihn zuvor gegangen sind. Reiher, Wolken, Kaulquappen. Alles, alles, alles.
Am nächsten Dienstag trifft Ruby ihn am Ende der Straße. Und auch am Dienstag darauf. Sie springen über den Zaun, überqueren das Feld. Sie bringt ihn an Orte, von denen er nicht einmal im Traum eine Ahnung hatte. Orte, an denen die Bauten des Salzbergwerks zu weißen Trugbildern am Horizont werden, wo Sonnenlicht in Ahornwäldchen dringt und die Erde mit Blätterschatten erbeben lässt. Sie linsen in eine Gießerei, wo Männer mit nacktem Oberkörper und Gesichtsmasken geschmolzenes Eisen aus einem Kübel in einen anderen gießen. Sie klettern auf einen Abraumhaufen, aus dem ein einzelnes Bäumchen wächst wie eine Hand aus der Unterwelt. Tom weiß, er riskiert alles, seine Freiheit, Mutters Vertrauen, sogar sein Leben, aber wie könnte er jetzt aufhören? Wie könnte er Nein sagen? Sich Ruby Hornaday zu verweigern, hieße, sich der Welt zu verweigern.
An manchen Dienstagen bringt Ruby ihr rotes Buch mit Korallen, Quallen und Unterwasser-Vulkanen mit. Sie sagt, wenn sie erwachsen ist, geht sie auf Partys, auf denen Hostessen die Gäste aufs Meer hinausrudern und alle spezielle Helme aufsetzen, um Spaziergänge auf dem Meeresgrund zu machen. Sie sagt, dass sie eine Taucherin werden wird und sich in einer Stahlkugel mit einem Fenster siebenhundert Meter in die Tiefe sinken lässt. Tief im Ozean, sagt sie, wird sie ein anderes Universum finden, einen Ort aus Lichtern: mit grün glühenden Fischschwärmen, lebenden, durchs Schwarz treibenden Galaxien.
Im Ozean, sagt Ruby, ist die Hälfte der Felsen lebendig, und die Hälfte der Pflanzen sind Tiere.
Sie halten sich bei den Händen, sie kauen Indian Gum. Ruby stopft Seetangwälder, Meereslandschaften und Delfine in seine Vorstellungswelt. Wenn ich erwachsen bin, sagt Ruby. Wenn ich erwachsen bin …
Viermal wandert Ruby unter der Oberfläche des Rouge-River-Sumpfes herum, während Tom am Ufer steht und pumpt. Viermal sieht er sie wieder auftauchen wie im Fieber. Amphibisch, lacht sie. Das bedeutet, du hast zwei Leben.
Danach rennt Tom zum Metzger und zurück nach Hause, sein Herz rast, und vor seinen Augen breiten sich Punkte aus, tintenfleckengleich. Manchmal nachmittags, wenn er sich von seinen Aufgaben erhebt, verschwimmt sein Blick in blauvioletten Streifen. Er sieht das leuchtende Weiß des Salztunnels, das Rot von Rubys Buch und das Orange ihres Haars, und er stellt sie sich erwachsen vor, im Bug eines Schiffs, und spürt, wie ein Kern zitronengelben Lichts heller und heller in ihm aufflammt. Es dringt zwischen seinen Rippen hervor, zwischen seinen Zähnen und aus den Pupillen seiner Augen. Er denkt: Es ist so viel! So viel!
Jetzt bist du fünfzehn. Und der Arzt sagt, sechzehn?
Achtzehn, wenn ich Glück habe.
Ruby dreht ihr Buch in den Händen. Wie fühlt es sich an? Zu wissen, dass du nicht all die Jahre bekommen wirst, die dir eigentlich zustehen?
Ich fühl mich eigentlich nicht zu kurz gekommen, wenn ich mit dir zusammen bin, will er sagen, aber hinter kurz versagt seine Stimme, und der Satz bricht ab.
Sie küssen sich nur dieses eine Mal. Es ist unbeholfen. Er schließt die Augen und beugt sich vor, aber etwas verschiebt sich, und Ruby ist nicht da, wo er sie erwartet hat. Ihre Zähne klacken gegeneinander. Als er die Augen öffnet, sieht sie nach links und lächelt ganz leicht. Sie riecht nach Matsch, und die tausend winzigen blonden Härchen auf ihrer Oberlippe fangen das Licht ein.
Als Tom und Ruby das vorletzte Mal zusammen sind, am letzten Dienstag im Oktober 1929, ist alles merkwürdig. Der Schlauch leckt, Ruby ist verstimmt, und zwischen die beiden hat sich ein Vorhang gesenkt.
Geh zurück, sagt Ruby. Es ist sicher schon zwölf. Du kommst zu spät. Sie klingt, als spräche sie durch einen Tunnel zu ihm. In ihrem Gesicht wandern Sommersprossen und blühen auf. Das Licht entweicht aus dem Sumpf.
Auf dem langen Weg zwischen den Harzkiefern hindurch fängt es an zu regnen. Tom schafft es zum Metzger und mit dem Korb und dem Kalbshackfleisch zurück nach Hause, aber als er die Tür zu Mutters Salon öffnet, wehen die Vorhänge in den Raum hinein. Die Stühle verlassen ihre Plätze und kommen auf ihn zugekrochen. Das Tageslicht dünnt zu einem Paar von Strahlen aus, die hin und her schwanken. Mr Weems geht durch sein Blickfeld, doch Tom hört keine Schritte, keine Stimmen: nur ein inneres Rauschen und das feuchte Metronom seines Atems. Mit einem Mal ist er ein Taucher, der durch ein dickes, vernebeltes Fenster in eine Welt unter ungeheurem Druck starrt. Er geht über den Meeresgrund. Mutters Lippen sagen: Habe ich nicht genug gegeben? Lieber Gott, habe ich es nicht versucht? Dann ist sie weg.
In etwas Tieferem als einem Traum wandert Tom über die Salzstraßen dreihundert Meter unter dem Haus. Erst ist alles dunkel, doch nach einer Minute, vielleicht auch einem Tag oder einem Jahr, sieht er kleine grüne Lichtblitze in fernen Stollen, hundert Meter weit weg. Jeder Blitz löst eine Kettenreaktion weiterer Blitze nach sich aus, sodass Tom, als er sich langsam im Kreis dreht, in allen Richtungen große dahintreibende Lichtsignale erkennen kann, grüne Tunnel, die sich in die Finsternis wölben. Jeder Blitz leuchtet nur für einen kurzen Moment, bevor er wieder verblasst, doch in diesem Moment wiederholt er alles, was vorher war oder erst noch kommen wird.
Er erwacht in einer ernüchterten Welt. Die Zeitungen sind voll mit Selbstmorden, der Preis für Benzin hat sich verdreifacht. Unter den Bergleuten geht das Gerücht, dass International Salt in Schwierigkeiten ist.
Der Liter Milch kostet einen Dollar. Es gibt keine Butter mehr und kaum Fleisch. Obst wird zu einer bloßen Erinnerung. Abends bringt die Mutter meist nur noch Kohl und Sodabrot auf den Tisch. Und Salz.
Keine Gänge mehr zum Metzger, der ohnehin geschlossen hat. Im November beginnen Mutters Gäste zu verschwinden. Mr Beeson geht als Erster, dann Mr Fackler. Tom wartet darauf, dass Ruby an die Tür klopft, aber sie kommt nicht. Bilder von ihr klettern innen an seinen Lidern hoch, und er reibt sie weg. Jeden Morgen kommt er aus seiner Kammer und trägt sein verräterisches Herz wie ein Ei in die Küche hinunter.
Die Welt verschlingt Menschen wie Bonbons, Junge, sagt Mr Weems. Niemand hinterlässt eine Adresse.
Mr Hanson geht als Nächster, dann Mr Heathcock. Im April wird im Bergwerk nur noch zwei Tage die Woche gearbeitet, und Mr Weems, Mutter und Tom essen zu dritt zu Abend.
Sechzehn. Achtzehn, wenn er Glück hat. Tom bringt ein paar Dinge in eines der Pensionszimmer im Erdgeschoss, Mutter sagt kein Wort. Er denkt an Ruby Hornaday: ihre hellen blauen Augen, die losen Flammen ihres Haares. Ist sie in diesem Moment irgendwo da draußen in der Stadt? Oder fünftausend Kilometer weit weg? Er schiebt seine Fragen beiseite.
1932 erkrankt die Mutter an einem Fieber, das sie von innen auffrisst. Sie trägt immer noch ihre hochtaillierten Kleider und bindet sich ihre Schürze um, kocht immer noch das Essen und bügelt sonntags Mr Weems Anzug. Aber innerhalb von einem Monat wird sie zu einer anderen, einem leeren Dämon in Mutters Kleidern – sitzt aufrecht am Tisch, mit glühenden Augen, nichts vor sich auf dem Teller.
Sie hat so eine Art, Tom die Hand auf die Stirn zu legen, während er arbeitet. Tom mag gerade Kohlen holen, ein Rohr reparieren oder das Wohnzimmer fegen, während die Sonne kalt und weiß hinter der Gardine scheint, und Mutter taucht plötzlich aus dem Nichts auf und legt ihm ihre eisige Hand über die Brauen. Tom schließt die Augen und fühlt, wie sein Herz ein wenig schneller wird.
Amphibisch. Das bedeutet, du hast zwei Leben.
Mr Weems wird entlassen. Er zieht seinen Anzug an, packt die Dominosteine ein und hinterlässt eine Adresse in der Innenstadt.
Ich dachte, niemand hinterlässt eine Adresse.
Sicher, Tom. So sicher, wie ein Magnet Eisen anzieht. Tränen quellen aus den Augen des alten Bergmannes.
Eines traurigen Morgens, nicht viel später, steht Mutter zum ersten Mal, solange Tom denken kann, nicht am Herd, als er in die Küche kommt. Er findet sie oben auf ihrem Bett. Voll angezogen sitzt sie da, in ihrem Mantel, ihren Straßenschuhen, und drückt sich ihren Rosenkranz an die Brust. Das Zimmer ist makellos, das Haus in Schweigen gehüllt.
Die Zahlungen sind am Fünfzehnten fällig. Ihre Stimme ist wie Asche. Das Dichtungsblech auf dem Dach muss erneuert werden. In der Kommode liegen einundneunzig Dollar.
Mutter.
Schschsch, Tommi-Schatz, sagt sie. Reg dich nicht auf.
Tom kann noch zweimal zahlen. Dann holt sich die Bank das Haus. Benommen läuft er durch den aufwirbelnden Graupel bis ans Ende der Straße, biegt nach rechts, wankt durch verdorrtes Gestrüpp, bis er den alten Pfad findet, und marschiert unter den knarzenden Kiefern zu Rubys Sumpf. Die seichten Stellen sind vereist, aber etwas weiter ist das Wasser dunkel wie geschmolzenes Zinn.
Lange Zeit steht er dort und sagt in die sich auf ihn herabsenkende Dunkelheit: Ich bin noch hier, aber wo bist du? Sein Blut schwappt hin und her. Schnee sammelt sich auf seinen Wimpern. Drei Enten kommen kreisend aus der Nacht und landen geräuschlos auf dem Wasser.
Am nächsten Morgen geht er am Tor von International Salt vorbei, das mit einem Vorhängeschloss versperrt ist. Er hat vierzehn Dollar in der Tasche, fährt für einen Nickel mit dem Oberleitungsbus in die Stadt und steigt am Washington Boulevard aus. Zwischen den Gebäuden geht grau wie Stahl die Sonne auf, Tom hält sein Gesicht ins Licht, spürt aber keine Wärme. Er kommt an apathischen, auf umgedrehten Kisten hockenden Betrunkenen vorbei, reglos wie Statuen sitzen sie da, an einem leeren Schaufenster nach dem anderen. In einem Diner bringt ihm eine Kellnerin mit einem Kropf eine Tasse Kaffee, auf dessen Oberfläche kleine glänzende Fettaugen schwimmen.
Die Straßen sind voller lebloser, bleicher Gesichter, abgemagert und hungrig, das von Ruby ist nicht darunter. Er trinkt eine zweite Tasse Kaffee und isst einen Toast mit Eiern. Aus einem Hauseingang kommt eine Frau und kippt eine Schüssel Spülwasser auf den Bürgersteig. Das Wasser blitzt im Licht auf, bevor es den Boden erreicht. In einer Gasse liegt ein Maultier, entweder schläft es, oder es ist tot. Irgendwann sagt die Kellnerin: Ziehst du hier ein?, und Tom geht hinaus. Langsam wandert er zu der Adresse, die er wieder und wieder auf Mutters Schreibpapier geschrieben hat. Zerfurchter, gefrorener, von einem Pflug zur Seite geschobener Schnee liegt entlang der Häuser, und die kleinen goldenen Fenster hoch oben scheinen Kilometer weit weg.
Es ist eine Pension. Mr Weems sitzt an einem schiefen Tisch und spielt Domino. Er hebt den Blick, sagt: Heilige Scheiße, verdammt noch mal, und verschüttet seinen Tee.
Durch ein Wunder hat Mr Weems eine Großnichte, die die Nachtschicht auf der Entbindungsstation im City General leitet. Die Station befindet sich im dritten Stock. Im Aufzug kann Tom nicht sagen, ob sie nach oben oder nach unten fahren. Die Nichte mustert ihn von Kopf bis Fuß, sieht ihm in die Augen und den Mund, um sicherzugehen, dass er kein Fieber hat, und stellt ihn gleich ein. Die Welt geht zum Teufel, aber Babys werden immer geboren, sagt sie und gibt ihm ein paar weiße Overalls.
Zehn Stunden pro Nacht, sechs Tage die Woche fährt Tom mit Wäschewagen über die Flure, bringt verschmutzte Decken und Windeln in den Keller und saubere Decken und Windeln nach oben, fährt Essen nach oben und Tabletts nach unten. In regnerischen Nächten herrscht der größte Betrieb. Vollmondnächte und Feiertage teilen sich Platz zwei. Gott bewahre uns vor einer verregneten Feiertagsnacht mit Vollmond.
Ärzte gehen an den Betten entlang und spritzen den werdenden Müttern Morphium und etwas, das Skopolamin heißt und sie alles vergessen lässt. Manchmal sind Schreie zu hören. Manchmal schlägt Toms Herz schneller, ohne dass er einen Grund dafür nennen könnte. In den Kreißsälen ist ständig frisches Blut auf den Kacheln, sooft Tom es auch wegwischt.
Die Flure sind immer hell erleuchtet, aber von außen presst sich die Finsternis gegen die Fenster, und in den frühen Morgenstunden hat Tom das Gefühl, dass sich das Krankenhaus tief unter Wasser befindet, sich der Boden ganz leicht wiegt und die Lichter der Nachbargebäude schimmernde Fischschwärme sind. Der Druck des Meeres ist überall.
Er wird achtzehn. Dann neunzehn. All die teilnahmslosen Gestalten, die er sieht: die sich um den Krankenhauseingang drängenden Kinder, die Blicke hungerleer, die Bauern in den Parks, ohne eine Decke daliegende, schlafende Familien – Menschen, die nichts auf der Welt mehr überraschen kann. Es sind so viele, als produzierten große Farmen auf dem Land draußen minütlich Tausende ruinierter Männer und als wären die, die da über die Bürgersteige schlurfen, nur ein Bruchteil der schon hinter ihnen lauernden Menge.
Aber ist da nicht auch Güte? Helfen sich die Menschen an diesen schäbigen Orten nicht gegenseitig? Tom teilt sich seinen Lohn mit Mr Weems. Er bringt weggeworfene Zeitungen mit nach Hause und kämpft sich durch die Worte auf den Witzseiten. Er wird zwanzig, und Mr Weems backt einen breiigen Rührkuchen voller Eierschalen und steckt zwanzig Zündhölzer hinein. Tom bläst sie alle aus.
Während seiner Schicht wird er ohnmächtig: einmal im Aufzug, zweimal im großen, pulsierenden Wäscheraum im Keller. Meist kann er es verbergen, aber eines Nachts passiert es ihm im Flur vor dem Wartezimmer. Eine Schwester namens Fran schafft ihn in eine Kammer. So darf dich keiner sehen, sagt sie, wischt ihm über das Gesicht, und er kommt wieder zu sich.
Die Kammer ist mehr als eine Kammer. Die Luft ist warm und feucht und riecht nach Seife. An einer Wand ist eine Spüle mit zwei Becken, Wärmelampen sind unter die Hängeschränke geschraubt. In der Wand gegenüber sind zwei kleine Türen.
Wann immer ihm schwindelig wird, kehrt Tom auf den Stuhl in der Ecke von Frans Zimmer zurück. Drei, vier, gelegentlich auch zehn Mal pro Nacht sieht er, wie eine Schwester ein neugeborenes Baby durch die linke Tür hereinträgt und vor Fran hinlegt.
Sie nimmt ihnen das kleine Strickmützchen ab und wickelt die Decken auf. Ihre Körper sind scharlachrot oder rötlich purpurn. Sie haben winzige, hellrote Finger, keine Augenbrauen, keine Kniescheiben und bis auf ein ständiges, konfuses Zusammenzucken keinen Gesichtsausdruck. Sie flüstert: Da ist er ja, so, jetzt, alles ist gut, Baby, ich lege dich jetzt hier hin. Ihre Handgelenke sind so dünn wie Toms kleiner Finger.
Fran nimmt einen frischen Waschlappen vom Stapel, taucht ihn in warmes Wasser und wischt jeden Zentimeter des kleinen Wesens sauber, Ohren, Achseln, Augenlider, wäscht Plazentastückchen weg, angetrocknetes Blut und all die milchigen Flüssigkeiten, die es in diese Welt begleitet haben. Währenddessen starrt das Kind mit leeren, alles aufnehmenden Augen zu ihr hoch und sieht die Neuheit sämtlicher Dinge. Was kennt es? Nur Licht und Dunkelheit, nur die Mutter, nur Flüssiges.
Fran trocknet das Baby ab, spreizt ihre Finger unter seinem Köpfchen, bindet ihm eine Windel um und setzt ihm die kleine Mütze wieder auf. Sie flüstert: Da, schau, was für ein braves Mädchen du bist, so, breitet mit der freien Hand zwei frische Decken aus, wickelt das Baby, so und so und so, und legt es in eine Rollwiege, damit Tom es ins Babyzimmer fahren kann, wo es mit den anderen unter den Lampen liegt. Wie Brotlaibe liegen sie da.
In einer Zeitschrift entdeckt Tom das Farbfoto von einem dreihundert Jahre alten Skelett eines Grönlandwals, der an einem fernen Küstenstreifen angeschwemmt worden ist. Finnland heißt das Land. Tom reißt das Foto heraus und studiert es im Licht der Lampe. Sehen Sie, murmelte er Mr Weems zu, wie die Blumen direkt daneben am stärksten leuchten? Und die Blätter in der Nähe das satteste Grün haben?
Tom ist einundzwanzig und wird dreimal die Woche ohnmächtig, als er an einem Mittwoch im Januar unter den betäubten, benommenen Müttern in ihren Betten das unverwechselbare Gesicht von Ruby Hornaday entdeckt. Orangefarbenes Haar, Wangen voller Sommersprossen, die Hände auf dem Bauch gefaltet, mit einem schmalen goldenen Ring am Finger. Boden und Wände der Station beginnen sich zu kräuseln, und Tom lehnt sich auf den Griff seines Wagens, um nicht zu fallen.
Blau, flüstert er. Blau, blau, blau.
Er flüchtet sich auf seinen Stuhl in Frans Zimmer und versucht sein Herz unter Kontrolle zu bekommen. Jeden Augenblick, denkt er, muss ihr Baby durch die Tür gebracht werden.
Zwei Stunden später schiebt er seinen Wagen in den Raum mit den frisch entbundenen Frauen, aber Ruby ist nicht mehr da. Toms Schicht geht zu Ende, er fährt mit dem Aufzug nach unten. Draußen senkt sich leichter Regen auf die Stadt. Die Laternen leuchten gelb, und die frühmorgendlichen Straßen sind leer, nur gelegentlich kommt ein Auto mit einem nassen Säuseln vorbeigefahren. Tom findet Halt an einer Ziegelmauer und schließt die Augen.
Ein Polizist hilft ihm nach Hause. Den ganzen Tag liegt Tom auf dem Bauch in seinem gemieteten Bett und schreibt an seinem Brief, bis die Sonne hinter seinen Augen explodiert. Liebe Ruby, ich habe dich im Krankenhaus gesehn und ich habe auch dein Baby gesehn. Seine Augen sind ser hüpsch. Fran sagt später werden sie warscheinlich blau. Mutter ist tot und ich bin einsamm wie das Polameer.
Abends im Krankenhaus sucht Fran ihm die Adresse heraus. Tom legt das Foto des Walskeletts mit in den Umschlag und klebt eine extra Marke auf den Brief, die ihm Glück bringen soll. Er denkt: Sieh, wie die Blumen direkt daneben am stärksten leuchten. Und die Blätter in der Nähe das satteste Grün haben.
Er schläft, zahlt seine Miete und geht die einunddreißig Straßen zur Arbeit. Jeden Tag schaut er in sein Postfach. Der Winter verblasst, der Frühling kommt und Tom verliert allmählich die Hoffnung.
Eines Morgens beim Frühstück sieht Mr Weems ihn an und sagt: Du bist gar nicht hier, Tom. Du hast einen Fuß auf der anderen Seite des Flusses. Du musst ihn zurückholen.
Genau an diesem Tag kommt die Antwort: Lieber Tom, wie schön, von dir zu hören. Es sind nicht mal zehn Jahre, aber anfühlen tut es sich wie tausend. Ich bin verheiratet, das hast du dir wahrscheinlich schon gedacht. Das Baby heißt Arthur. Vielleicht kriegt er blaue Augen. Es könnte sein.
Auf der Briefmarke ist ein kahlköpfiger Präsident. Das Papier riecht bloß nach Papier, sonst nach nichts. Tom streicht mit dem Finger über jedes einzelne Wort und horcht es aus. Er will sicher sein, dass er nichts übersehen hat.
Ich weis du bist verheiratet und ich wünsche dir nichts als Glück aber villeicht kann ich dich mal sehn? Wir könnten uns im Aquarihum treffen. Wenn du nicht antwortes ist das okay. Ich weis warum.
Zwei weitere Wochen. Lieber Tom, auch ich wünsche dir nichts als Glück. Wie wäre es am nächsten Dienstag? Ich bringe das Baby mit, okay?
Am nächsten Dienstag, dem ersten im Mai, verlässt Tom das Krankenhaus nach seiner Schicht. An den Rändern seines Blickfelds flimmert es, und er hört die Stimme seiner Mutter: Sei vorsichtig, Tommi-Schatz. Das ist es nicht wert. Langsam geht er bis zur nächsten Kreuzung und nimmt den ersten Bus nach Belle Isle, wo er in eine goldene Morgendämmerung tritt.
Es sind nur wenige Autos zu sehen, alle parken. Eines ist ein Ford, darin ein riesiges Präsent mit einer gelben Schleife auf dem Rücksitz. Ein alter, zerfurchter Mann harkt die Kieswege. Die Sonne trifft auf den Tau und entzündet die Rasenflächen.
Die Fassade des Aquariums ist gotisch und mit Ranken überzogen. Tom findet eine Bank und wartet darauf, dass sich sein Puls beruhigt. Im netzartig angelegten Glasdach über dem Blumengewächshaus spiegelte sich eine vorüberziehende Wolke. Endlich öffnet ein Mann in einem Overall das Tor. Tom kauft zwei Eintrittskarten, und als ihm das Baby einfällt, noch eine dritte. Mit den drei Karten in den zitternden Händen geht er zurück zu der Bank.
Um elf ist der Himmel mit einem platinfarbenen Dunst bedeckt, und auf der Insel herrscht reger Betrieb. Männer auf Fahrrädern knirschen über die Wege. Ein Mädchen lässt einen gelben Drachen fliegen.
Tom?
Ruby Hornaday steht vor ihm, aufrecht, das Haar ungewohnt kurz, vor sich einen Kinderwagen aus Chrom und Stoff. Er steht schnell auf, der Park verflüssigt sich, nimmt aber gleich wieder Form an.
Tut mir leid, dass ich zu spät komme, sagte sie.
Sie ist eindrucksvoll, schlank. Zwei schnelle Striche als Brauen, dieselbe schmale Nase. Kein Make-up. Kein Schmuck. Diese hellen, blauen Augen und das Haar.
Sie neigt den Kopf etwas zur Seite. Sieh dich an. Ein erwachsener Mann.
Ich habe Karten gekauft, sagt er.
Wie geht es Mr Weems?
Oh, der ist aus Salz, der lebt ewig.
Sie gehen den von Bänken und schimmernden Bäumen gesäumten Pfad hinunter. Hin und wieder nimmt sie seinen Arm, um ihm Halt zu geben, obwohl ihre Berührung ihn nur noch mehr verwirrt.
Ich dachte, du wärst vielleicht weit weg, sagt er. Ich dachte, du würdest vielleicht zur See fahren.
Ruby stellt den Kinderwagen ab und hebt das Baby heraus. Es ist in eine blaue Häkeldecke gewickelt, und dann gehen sie durch das Drehkreuz.
Drinnen ist es düster und feucht, links und rechts reihen sich gläserne Aquarien aneinander. Von der Decke hängen Farne, und kleine Jungen beugen sich über das Messinggeländer und drücken ihre Nasen an die Scheiben. Ich glaube, es gefällt ihm, sagt Ruby. Stimmt’s, Baby? Die Augen des Jungen sind weit geöffnet. Hinter dem Glas schwimmen die Fische in langsamen Ellipsen.
Sie sehen durchsichtige Tintenfische mit Korkenzieherschwänzen, wie schwimmende Laternen glitzernde rosa Kraken, blaue, violette und goldene Kofferfische. Schimmernde grüne Kacheln leuchten von der gewölbten Decke und werfen zitternde Muster auf den Boden.
In einem runden Bassin mitten im Gebäude jagen schwarze Umrisse hin und her, genau aufeinander abgestimmt. Stachelmakrelen, murmelt Ruby. Oder?
Tom blinzelt.
Du bist blass, sagt sie.
Tom schüttelt den Kopf.
Sie hilft ihm zurück ins Tageslicht, unter Himmel und Bäume. Das Baby liegt in seinem Kinderwagen, saugt an seiner Faust und studiert angestrengt die Wolken. Ruby führt Tom zu einer Bank.
Personenwagen, Lastwagen und eine weiße Limousine fahren langsam über eine weiße Brücke, hoch über dem Fluss. In der Ferne glitzert die Stadt.
Danke, sagt Tom.
Für was?
Das hier.
Wie alt bist du jetzt, Tom?
Einundzwanzig. Genau wie du. Eine Brise fährt durch die Bäume, die Blätter vibrieren im Licht. Alles strahlt.
Die Welt geht zum Teufel, aber Babys werden immer geboren, flüstert Tom.
Ruby schaut in den Kinderwagen und zupft etwas zurecht, und für einen Moment wird ihr Nacken zwischen Haar und Kragen sichtbar. Der Anblick der beiden Wirbelhöcker, mit ihrer Haut bedeckt, erfüllt Tom mit einer Sehnsucht, die den Rasen bersten lässt. Für einen Augenblick hat es den Anschein, als würde Ruby langsam von ihm weggezogen werden, wie ein Schwimmer, der aufs Meer hinausgetrieben wird – als würde mit jedem Zug ihr Nacken in weitere Ferne verschwinden. Dann richtet sie sich wieder auf, der Park verheilt, und Tom spürt, wie die Bank unter ihm eine neue Festigkeit gewinnt.
Ich dachte immer, sagt Tom, ich müsste vorsichtig damit umgehen, wie sehr oder wie viel ich lebe. Als wäre das Leben eine Tasche voller Münzen und als hättest du nur soundso viele bekommen und wolltest sie nicht auf einmal ausgeben.
Ruby sieht ihn an. Ihre Wimpern flattern auf und nieder.
Aber jetzt weiß ich, dass das Leben das Eine auf dieser Welt ist, das niemals vergeht. Meines mag vergehen, auch deines, doch die Welt wird immer weiterleben. Und wir haben alle großes Glück, ein Teil davon zu sein.
Sie erwidert seinen Blick. Einige verdienen mehr Glück, als sie haben.
Tom schüttelt den Kopf. Er schließt die Augen. Auch ich habe Glück. Keine Frage.
Das Baby fängt an zu jammern, und aus dem Wimmern wird ein Schreien. Ruby sagt: Er hat Hunger.
Zwischen Toms Füßen öffnet sich eine Falltür im Kies, schwarz wie ein Schlüsselloch, und er sieht hinein.
Kommst du zurecht?
Ich komme zurecht.
Goodbye, Tom. Sie berührt seinen Arm und geht. Sie schiebt den Kinderwagen zwischen den Leuten hindurch, und er schaut zu, wie sie stückweise verschwindet: erst die Beine, dann die Hüften, die Schultern und am Ende auch die Rückseite ihres hellen Kopfes.
Tom sitzt da, die Hände im Schoß, und lebt noch einen weiteren Tag.