Wachset und mehret euch

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Imogene ist winzig und sehr weiß, hat Haar wie Zuckerwatte, eine blasse Stirn und Kreide-Arme. Imogene, die Eiskönigin. Imogene, die Milch-Prinzessin. Auf ihren linken Oberarm ist ein schwarzes Spinnennetz tätowiert. Sie arbeitet als Budget-Manager für Cyclops Engineering in Laramie, Wyoming.

Herb ist mittelgroß, hat eine Glatze und nicht gerade viel Mut. Sein Lächeln ist ein unbeholfenes Zahnmosaik, Adern ranken wie Wurzelformationen über seine Unterarme. Herb unterrichtet Studienanfänger in Molekular-Phylogenetik. Er und Imogene wohnen fünfundzwanzig Kilometer außerhalb der Stadt in einem einstöckigen Ziegel-Holz-Haus auf fünf Morgen Land, auf denen hauptsächlich Salbei und Dach-Trespe wachsen. Es gibt aber auch ein paar Pappeln in einem ausgetrockneten Bachbett und einen Friedhof weggeworfener Autoreifen, die Herb loszuwerden versucht, dazu ganze Wachtelschwärme, die mitunter frühmorgens über die Einfahrt sprinten. Imogene hat zweiundzwanzig Vogelhäuschen, einige auf Pfosten, andere hängen an der Dachtraufe. Es gibt einfache Häuschen und Gitterkugeln, umgebaute Kaffeekannen und kleine Gebirgs-Chalets, und jeden Abend nach der Arbeit trägt ihre Besitzerin eine Stehleiter von einem zum anderen, schleppt eine Körnermischung mit sich und hält die Häuschen gefüllt.

Im September 2002 schluckt Imogene ihre letzte Antibabypille, und Herb und sie gehen hinaus auf die Einfahrt, damit sie den leeren Pillenspender mit dem stumpfen Ende einer Axt zertrümmern kann. Das erregt Herb: Plastiksplitter im Schotter, die straffen Sehnen in Imogenes Hals. Seit einiger Zeit denkt er ständig an Kinder und stellt sich vor, wie er nach Hause kommt und sie überall in der Wohnung sitzen.

An den nächsten dreißig Morgenden schlafen Herb und Imogene zwanzigmal miteinander. Hinterher reckt Imogene die Hüften zur Decke, schließt die Augen und versucht sich vorzustellen, was Herb ihr beschrieben hat: Riesige Schwärme seiner Spermien strömen durch ihren Muttermund, durchqueren den Uterus und erklettern die Eileiter. In ihrer Vorstellung verbinden sich Herbs und ihre Chromosomen mit dem denkbar leisesten Geräusch: Zähne eines Reißverschlusses, die sich verhaken.

Dann: Sonne fällt durchs Fenster, Herb macht Toast. Eine einem winzigen Fragezeichen gleichende befruchtete Eizelle wandert in ihre Gebärmutter.

Nichts geschieht. Ein Monat, eine Periode. Zwei Monate, zwei Perioden. Nach vier Monaten, an Silvester, treibt der Wind Graupel über ihre Einfahrt, und Herb weint ein wenig.

«Ich hab’ noch damit zu tun, die Pille aus meinem System zu kriegen», sagt Imogene. «So was geht nicht über Nacht.»

Es folgt das Jahr 2003. Imogene fängt an, überall schwangere Frauen zu sehen. Vorm Loaf ’N Jug steigen sie aus Minivans, hocken bei Walmart auf den Gängen und halten Babystrampler ins Licht. Eine schwangere Monteurin wartet den Fotokopierer im Büro, eine schwangere Kundin verschüttet im Besprechungszimmer ein Glas Orangensaft. Was funktioniert bei Imogene nicht, das für diese Frauen kein Problem ist?

Sie liest im Internet, dass ein Paar im Durchschnitt ein Jahr braucht, bis es ein Kind erwartet. Also. Kein Problem. Da ist noch reichlich Zeit. Sie ist schließlich erst dreiunddreißig. Im März wird sie vierunddreißig.

Auf Herbs Drängen fängt Imogene an, sich jeden Morgen nach dem Aufwachen das Fieberthermometer in den Mund zu stecken. Er dokumentiert ihre Körpertemperatur auf einem Bogen Millimeterpapier. Wir wollen, erklärt er ihr, den Eisprungausschlag terminieren, und verzeichnet jeden Geschlechtsverkehr mit einem Kreuzchen auf dem Diagramm.

Drei weitere Monate, drei weitere Perioden. Vier weitere Monate, vier weitere Perioden. Herb greift Imogenes Temperaturausschläge mit wahren Kreuzchen-Kommandos an. Sie liegt mit zur Decke gerichteten Zehen im Bett, er wühlt auf ihr und grunzt, die Spermien paddeln voran.

Und nichts geschieht. Imogene bekommt ihre Krämpfe, findet Blut und flüstert ins Telefon: «Ich bin ein verdammtes Schweizer Uhrwerk.»

Das Semester geht zu Ende. Der Purpurstärling kehrt zurück, der Lerchenspatz kehrt zurück. Imogene stapft durch den Garten und füllt ihre Vogelhäuser. Vor gar nicht so langer Zeit, denkt sie, wäre ich öffentlich gesteinigt worden. Herb hätte mich verstoßen. Unsere Ernten würden verbrannt, Schamanen würden mir Knoblauchzehen in die Fortpflanzungskanäle stecken.

Im August bringt die Verwaltungsbeamtin des Fachbereichs Biologie, Sondra Juetten, ein Mädchen zur Welt. Herb und Imogene besuchen sie mit einem Strauß Nelken im Krankenhaus. Das Baby ist schrumpelig, schielt und sieht wunderbar aus. Es trägt eine Baumwollmütze über dem spitzen Köpfchen.

Herb sagt: «Wir freuen uns so für dich, Sondra.»

Und er freut sich tatsächlich, Imogene kann es sehen. Er hüpft auf den Zehen und fragt Sondra alles Mögliche über die Nabelschnur.

Imogene steht an der Tür und fragt sich, ob sie großherzig genug ist, sich ebenfalls für Sondra zu freuen. Schwestern drängen an ihr vorbei. Eingetrocknete Tropfen Blut sind auf den Linoleumboden neben dem Krankenhausbett gesprenkelt. Sie sehen wie winzige braune Sägeblätter aus. Eine Schwester wickelt das Baby aus, sein Zwerchfell hebt und senkt sich unter dem schmalen Brustkorb, und der kleine Körper scheint Imogene das Destillat Dutzender Generationen, der Mutter der Mutter von Sondras Mutter, ein ganzer Stammbaum in einer einzigen Flamme, die in den blauen Aderwerken unter seiner Haut brennt.

Sie denkt: Warum ich nicht?

Wyoming wendet sich von der Sonne ab. Goodbye, Brautenten. Goodbye, Zaunkönige. Goodbye, kleiner Gold-Waldsänger, der gestern im Häuschen am Fenster gelandet ist und Imogene zugezwinkert hat, bevor er weitergeflogen ist. Die weggeworfenen Reifen frieren am Boden fest. Die Vögel machen sich auf ihre schonungslosen Flüge nach Süden.

«Was ist mit euch beiden?», fragt Herbs Bruder. Es ist Thanksgiving in Minnesota. Herbs Mutter legt den Kopf schief und ist plötzlich interessiert. Herbs Neffen trommeln wie kleine Schlagzeuger mit dem Besteck auf den Tisch. «Denkt ihr über Kinder nach?»

Herb sieht Imogene an. «Klar. Man weiß ja nie.»

Imogenes Bissen Kürbiskuchen wird in ihrem Mund zu Zement. Herbs Schwägerin sagt: «Wartet nur nicht zu lange. Ihr wollt schließlich nicht im Rollstuhl zum Flötenkonzert eurer Kleinen fahren.»

Es gibt noch andere Momente. Herbs zwei Jahre alter Neffe klettert Imogene auf den Schoß und gibt ihr ein Buch mit dem Titel Große Fische, kleine Fische. «Groooooß!», sagt er. «Groooooßer Fisch!» Er windet sich an ihrer Brust, und sein Haar riecht wie ein tiefer, kühler See im Sommer.

Tags darauf am Flughafen zieht Herb Imogene am Ärmel und zeigt auf einen Zeitungsständer: Da steht ein flachsblondes Zwillingspärchen in süßen Einteilern, vielleicht drei Jahre alt. Die beiden hüpfen aufgeregt auf der Stelle und singen ein Lied von einer kleinen Spinne, die von einem Wasserspeier weggespült wird, und als sie fertig sind, klatschen sie grinsend in die Hände und rennen in Kreisen um ihre Mutter herum.

Imogenes Eltern starben, als sie einundzwanzig war und der elterliche Buick Le Sabre keine zwei Kilometer von zu Hause von der Route 506 abkam und in einen Graben schleuderte. Die Straße war nicht vereist, es gab auch sonst keinen Verkehr, und der Buick war in einem guten Zustand. Die Polizei nannte es einen Unfall. Imogene und Herb standen anschließend in einer ganzen Reihe Wohnzimmer und hielten kleine Teller mit Triscuits vor sich. Dann schloss Imogene das College ab und zog nach Marokko.

Drei Jahre wohnte sie in einer Ein-Zimmer-Wohnung in Rabat ohne Kühlschrank und mit nur einem Fenster. Sie konnte weder Shorts noch Röcke tragen oder mit nassem Haar auf die Straße gehen. Manche Tage verbrachte sie nur in ihrer Küche und las Krimis. Ihre Briefe waren in der Zeit mehrere Seiten lang, und Herb las sie wieder und wieder, über das Armaturenbrett seines Trucks gebeugt.

«Es gibt hier zwei Sorten Tauben, die dick wirkenden Felsentauben, die wir auch bei uns zu Hause haben und die nachts auf den Dächern klagen. Dann gibt es aber auch noch andere mit weißen Flecken am Hals, große Vögel, die dunkel und schimmernd über den Dächern schweben und weite Kreise ziehen. Wie mächtige, metallene Mobiles hängen sie dort, und manchmal stoßen morgens Krähen auf sie hinab, worauf die Tauben zu kreischen beginnen, was sich für mich in meinem Bett anhört, als flögen da Babys am Himmel, die um Hilfe rufen.»

Ihre Eltern erwähnte sie nie. Einmal schrieb sie: Niemand hier will sich anschnallen. Ein anderes Mal: Ich hoffe, du hast Salzsäcke hinten in deinem Truck. Präziser wurde sie nicht. Am Ende schloss sie sich einer Peace-Corps-Initiative an und begann, mit blinden Frauen zu arbeiten.

Mehr als einmal in jenen Jahren stand Herb in der Innenstadt von Laramie vorm Büro von Destinations Travel und sah zu, wie sich der über ein Meter große Plastikglobus im Fenster drehte, konnte sich aber nicht überwinden, ein Flugticket zu kaufen. Sie waren nur vier Wochen zusammen gewesen, bevor ihre Eltern umkamen. Und eingeladen hatte sie ihn auch nicht.

Er schrieb seine banalen Antworten, erzählte von einer Wanderung zu einem See, einem neuen Müsli, das er mochte. Alles Liebe, Herb, schloss er und fühlte sich gleichzeitig entschlossen und dumm. Er hatte Angst, zu viel zu schreiben. Er hatte Angst, zu wenig zu schreiben.

2004, als sie nach sechzehn Monaten immer noch nicht schwanger ist, geht Imogene zu ihrem Gynäkologen. Der sagt, da ließen sich Untersuchungen anstellen. Endokrinologen könnten konsultiert werden, auch Urologen. Es gibt viele Optionen.

«Da muss man», sagt er, «nicht gleich verzweifeln.»

«Wir müssen nicht verzweifeln», sagt Imogene zu Herb.

«Ich verzweifle nicht», sagt er.

Sie machen einen Aidstest. Sie machen einen Hepatitistest. Zwei Tage später onaniert Herb in einen 0,2-l-Probenbecher und fährt hundert Kilometer über die I-80 zu einem Urologen. Den Becher hat er in einer kleinen Weihnachtstüte für Bürogeschenke dabei, weil ihm und Imogene die neutralen Papiertüten ausgegangen sind. Die kleinen Weihnachtsmänner grinsen ihn vom Beifahrersitz aus an. Seine Probe bedeckt kaum den Boden des Bechers, und er fragt sich, ob manche Männer ihn ganz füllen?

Am selben Nachmittag macht Imogene früher Feierabend, um sich mit Kohlendioxid aufpumpen zu lassen. Ihr wird ein strahlenundurchlässiger Farbstoff durch den Muttermund in den Uterus und bis hinauf in die Eileiter injiziert, und sie fahren sie in einen Röntgenraum, wo ihr eine Schwester mit Erdnussbutter-Atem und Snoopy-Ohrringen eine Bleischürze über die Brust breitet und sie bittet, sich nicht zu bewegen. Die Schwester tritt zur Seite. Imogene hört, wie die Maschine zum Leben erwacht und sich die Elektronen in hohem Ton wimmernd anhäufen. Sie schließt die Augen und versucht sich nicht zu bewegen. Das Licht fließt in sie.

Sechs Tage später klingelt das Telefon. Die Ärzte haben die Situation diskutiert. Sie haben es mit einer doppelt begründeten Unfruchtbarkeit zu tun. Imogene behält drei Worte: polyzystisches Ovar-Syndrom. Herb hört zwei Worte: starker Mangel – an Beweglichkeit, Dichte und noch etwas. Nur drei Prozent seiner Spermien sind funktionsfähig.

Herbs Gesichtszüge scheinen jede Fassung zu verlieren. Er legt sein halb gegessenes Stück Zuckermelone auf die Arbeitsfläche, geht ins Bad und macht die Tür hinter sich zu. Imogene starrt in die Lücke zwischen Arbeitsplatte und Kühlschrank, wo sich Staub um einen einzelnen Cheerio-Ring sammelt. Aus dem Bad klingt ein Ächzen herüber, dann rauscht die Toilettenspülung. Imogene befühlt mit den Fingern einer Hand vorsichtig ihren Unterleib.

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Den ganzen Morgen sitzt Imogene am Computer und ertrinkt in Erinnerungen. Ein Bus kämpft sich durch Schichten immer kälterer Luft in die Höhe, Berge in der Farbe von Pappe, ein Phosphorhimmel. Gazellen, die im Garten den Müll durchstöbern. Schäferhunde, die auf Dorfdächern dösen.

«Keine Eltern, kein Mann, keine Kinder», hat eine blinde Frau ihr einst erklärt. Ihr Blick war vollkommen leer. Imogene wusste nicht, wohin sie gucken sollte. «Ich bin ein Ein-Personen-Stamm.»

Ihr Computerbildschirm verschwimmt. Sie legt den Kopf auf den Tisch.

«Bist du mir böse? Bist du böse auf mich, Imogene?» Herb kann nicht anders. Die Worte sind fast mit Händen zu greifen, wie ein Nebel wirbeln sie vor ihm im Kreis, wie die Flügel eines Ventilators.

«Nein, ich bin dir nicht böse», sagt sie. Ihrer beider Scheitern, beschließt sie, ist von Beginn an unvermeidlich gewesen. Festgeschrieben. Genetisch. Ihre Unzulänglichkeiten, ihre Ängste, die Art, wie sie sich von allen anderen unterschieden haben. Sie, Imogene, ist immer schon verwirrt gewesen, hat weit außerhalb der Stadt gewohnt, ständig gelesen, alle Tanzeinladungen an der Junior High abgelehnt. Imogene, die Eiskönigin. Imogene, das Hirngespinst. Zu zierlich, zu blass, zu hübsch. Zu leicht versengt.

«Es ist alles okay», sagt sie zu Herb, während sie zu Abend essen und Jeopardy! sehen. Zehn Jahre haben sie versucht, kein Kind zu bekommen, und jetzt stellt sich heraus, dass sie es sowieso nie gekonnt hätten.

Herb entwickelt seine eigene Theorie: Es sind die Reifen draußen auf ihrem Land. Der Reifenfriedhof mit seinen siebzehn Metallen und sechzehn verschiedenen Arten von Kohlenwasserstoffen, die ins Wasser gelangt sind, in die Dusche und die Pasta. Und jetzt sind die Gifte in ihren Körpern.

Mehr Tests. Imogene lässt eine Bauchspiegelung machen, während der ein Arzt ein Dutzend Mal ihre Eierstöcke mit einer elektrochirurgischen Nadel punktiert. Herb onaniert in einen weiteren Becher, fährt ein weiteres Mal die anderthalb Stunden nach Cheyenne und lässt vor einem anderen Urologen die Hose herunter.

Weitere sechs Tage Warten. Ein weiterer Anruf. Die Diagnose wird bestätigt. Imogene mustert sich im Badezimmerspiegel. Sie hatte gedacht, sie könnte ihren Job aufgeben. Sie hatte gedacht, sie könnte anfangen, marokkanisches und tunesisches Essen zu kochen, ihr Baby in einem Tragetuch vor der Brust, dampfende Töpfe auf dem Herd. Vielleicht ein paar Hühner züchten. Stattdessen beginnt sie eine Metformin-Kur und hat eine Woche lang Durchfall.

Das ist kein wirkliches Leiden, sagt sie sich. Sie programmiert nur ihr Bild der Zukunft neu. Und versteht, dass die Wege der Fortpflanzung nicht kontinuierlich, sondern willkürlich verlaufen. Dass in jeder Genealogie immer auch Endpunkte erreicht werden: das letzte Blatt eines Stammbaumes, der letzte Grabstein in einer Familiengruft. Hat sie das nicht schon längst gewusst?

Nach der Arbeit geht Herb hinaus auf die große Weide hinter dem Haus und macht sich an die Reifen. Manche liegen so tief, unter so viel Dreck und Schnee, dass er, wenn er einen ganz oder in Teilen freihackt, unvermeidlich noch einen weiteren darunter findet. Manchmal fragt er sich, ob die Reifen bis hinunter zum Erdkern reichen. Er zersägt sie mit einer Axt und schaufelt die Stücke auf seinen Truck. Es ist kalt, der Wind weht durchs Gras und in den Pappeln klingelt leise das Eis. Nach ein paar Stunden richtet Herb sich auf und sieht zum Haus hinüber. So aus der Entfernung ist es klein, eine Streichholzschachtel unter dem Himmel. Die winzige Gestalt Imogenes stapft durch den Salbei und füllt die Vogelhäuschen auf. An einem Arm hat sie ihren Zwanzig-Liter-Eimer hängen, mit dem anderen schleppt sie die Stehleiter, ihre Beine verschwinden im Dunst.

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Sie verständigen sich auf einen Besuch in der Fertilitätsklinik. Bei gutem Wetter ist sie in knapp anderthalb Stunden zu erreichen. Gleich neben dem Eingang parkt ein Mercedes mit dem Nummernschild BBYMKR.

Der Arzt sitzt hinter einem Glastisch und zeichnet es für sie umgekehrt auf. Er zeichnet einen Uterus, die Eileiter und zwei Eierstöcke. Er zeichnet Instrumente, die sich da hineinbewegen und Eier herausholen. An der Wand hängt ein gerahmtes Plakat mit einer riesigen Vagina und Erläuterungen ihrer Funktionsweise. Daneben, ebenfalls gerahmt, lassen sich drei pausbäckige, an einem Honda lehnende Töchter bewundern.

«Okay», sagt Herb. «In Ordnung.»

Hat Imogene noch Fragen? Imogene hat keine Fragen. Sie hat tausend Fragen.

«Sie können wirklich toll verkehrt herum zeichnen», sagt sie und versucht ein Lachen.

Der Arzt hat ein Viertellächeln für sie.

«Übung», sagt er.

Die Finanzierungsfrau ist nett und riecht nach Zigaretten. Sie können ein Darlehen bekommen. Die Zinssätze sind klasse. Ihre Tochter hatte drei «Durchgänge». Sie zeigt auf die Fotos.

Einschließlich der Medikamente, des Embryolabors und des Anästhesisten kostet die Prozedur dreizehntausend Dollar. Auf dem Weg nach Hause flackern Abkürzungen durch ihre Gedanken: KB, ICSI, hCG, IVF. Eine Antilopenherde steht in den Schneeresten direkt neben der Interstate, die Schatten klar und nackt auf dem Hang dahinter, die Augen schwarz und leer. Die Antilopen sprengen davon, gerade waren sie noch da, dann sind sie verschwunden. Herb greift nach Imogenes Hand. Der Himmel ist blau und ohne Tiefe.

Sie unterschreiben. Eine Kiste mit Medikamenten trifft ein. Herb packt sie in den Schrank im Bad. Imogene kann nicht hinsehen. Herb kann kaum hinsehen. Es gibt vier verschiedene Schnellverschlussbeutel mit Spritzen. Ampullen und Pillenfläschchen. Videokassetten. Behälter für benutzte Nadeln. Vierhundert Alkoholtücher. Synthetische Hormone im Wert von vierzehnhundert Dollar.

Imogenes Plan fängt ausgerechnet mit der Einnahme von Verhütungsmitteln an. Um ihren Zyklus zu steuern, sagt die Broschüre. Sie schenkt sich ein Glas Milch ein und betrachtet die kleine rosa Tablette.

Es dämmert, Herb sitzt am Küchentisch und korrigiert Arbeiten. Die Wolken werden schwerer und dunkler. Imogene geht mit ihrer Stehleiter und dem Futtereimer hinaus, die Pille löst sich in ihrem Inneren auf, das Schweigen vertieft sich, der Himmel wird dunkler, die Vogelhäuser scheinen Kilometer auseinanderzuhängen, und es fühlt sich an wie Sterben.

Jedes Mal, wenn sie hört, wie eine Spritze aus ihrer Verpackung gerissen wird, verspürt Imogene eine leichte Übelkeit. Siebzehn Tage Injektionen eines Eierstockstimulators namens Lupron. Dann zwei Wochen Progesteron, um ihren Uterus auf die Schwangerschaft vorzubereiten. Dann Vaginalzäpfchen. Wenn sie schwanger wird, folgen acht Wochen mit täglichen Injektionen. Manchmal tritt ein kleiner Blutstropfen aus, wenn die Nadel herausgezogen wird, und Herb drückt ein Alkoholtuch darauf, hält es dort und schließt die Augen.

Nach den Spritzen legt er ihre Pillen heraus. Es sind fünf. Vor der Arbeit isst sie Toast mit Apfelmus und schluckt die Kapseln auf dem Weg aus der Tür.

«Sag mir, dass du mich liebst!», ruft Herb aus der Küche. Imogene ist bereits in der Garage, die Fenster des Autos sind geschlossen, sie hört ihn womöglich nicht. Der Corolla springt an. Die Garagentür öffnet und schließt sich. Die Autoreifen zischen in der Schlacke, die Prärie verschiebt sich unter ihrem Eisteppich.

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Es ist Frühling. Imogenes Eierstöcke blähen sich auf nach Plan, werden zu Wasserballons, Löwenzahnköpfen, geschwollenen Pfingstrosen. Der Arzt misst ihre Follikel auf einem Ultraschallmonitor: In ihrem Inneren tobt ein Pixelsturm. Neun Millimeter. Dreizehn Millimeter. Der Arzt will, dass sie bis auf sechzehn, zwanzig anwachsen. Die Menge macht’s: dreißig Eier, zwanzig Embryos, drei Blastozysten. Ein Fötus.

Mitte April ruft Ed Collins, der Regionalleiter von Cyclops Engineering, Imogene in sein Büro und rügt sie, weil sie an so vielen Nachmittagen fehlt.

«Wie viele Arzttermine kann ein einzelner Mensch denn haben?» Er fingert an den Knöpfen seines Polohemds herum.

«Ich weiß. Es tut mir leid.»

«Sind Sie krank?»

Sie sieht auf ihre Schuhe hinunter. «Nein. Ich bin nicht krank.»

Je mehr Östrogen Imogenes Körper flutet, desto hübscher wird sie. Ihre Lippen sind fast purpurn, ihr Haar ist eine große, schillernde Krone. Unten auf ihren Armen kann Herb die lila Netze ihrer Adern sehen.

Hormone wirbeln durch ihre Zellen. Sie schwitzt. Sie friert. Sie humpelt in ihrer Trainingshose herum, ihre Eierstöcke sind voller Follikel und die Follikel voller Eizellen. «Es ist, als hättest du zwei volle Blasen», sagt sie. Vor jedem Schlagloch muss sie den Corolla auf Kriechtempo abbremsen.

Herb sitzt neben ihr, seine Hoden pochen zwischen seinen Schenkeln, verräterisch, zu warm. Auf seinem Schreibtisch liegen dreiundachtzig Arbeiten über Proteinstrukturen, die es zu benoten gilt, und er ist ziemlich sicher, dass er die Zahlung für das Haus in diesem Monat mit seiner Kreditkarte leisten muss. Er sagt sich: Andere Leute haben es weit schwerer. Andere Leute wie Harper Ousby, der Trainer der Frauenbasketball-Mannschaft, dem die Rippen aufgesägt werden, weil sie ihm neue Herzklappen einsetzen, Herzklappen von einem Tier.

Wolken türmen sich am Horizont, pflaumenfarben und voller Schultern.

Am ersten Mai onaniert Herb in einen weiteren Becher, bringt Imogene und seine Spermien in die Fertilitätsklinik, und der Arzt dringt in Imogenes Eierstöcke ein und saugt ihre Follikelflüssigkeit mit etwas ab, das wie eine Hydra aus rostfreiem Stahl aussieht: An einem Ende befindet sich etwa ein Dutzend segmentierter Stahlschlangen, am anderen eine Saugpumpe. Herb sitzt im Wartezimmer und lauscht auf ein Zischen, hört aber nur das Schwirren und Klicken der Heizung und das Radio der Empfangsdame: Rod Stewart.

Nach einer Stunde rufen sie ihn wieder herein. Imogene sitzt zitternd auf einem Stuhl im Raum der Schwester. Ihre Lippen sind grau und langsam, und sie fragt ihn mehrfach, ob sie sich übergeben hat. Er sagt, er wisse es nicht, aber er denke, nicht.

«Ich erinnere mich, dass ich mich übergeben habe», sagt sie und trinkt schlückchenweise Gatorade aus einem Pappbecher. Er legt eine Einlage in ihren Slip, befreit sie von ihrem Kittel und hilft ihr in die Trainingshose.

Drei Tage lang wollen sie die Eier wachsen lassen, eine Zelle teilt sich in zwei, zwei teilen sich in vier. Die Zartheit der Mitose: Ein Schneekristall lässt sich auf einem Ast nieder, der einzelne Schlag eines Mottenflügels.

«Ich war in Afrika», sagt Imogene. «Da gab es lauter Geier am Himmel.»

Zwei Tage später ruft die Schwester an, um ihnen zu sagen, dass nur sechs Eier erfolgreich befruchtet worden sind, dass aber aus zweien lebensfähige, achtzellige Embryos geworden sind. Wieder fahren sie nach Cheyenne. Mit einer Spritze und einer langen Röhre, die wie ein halb gekochtes Stück Pasta aussieht, pflanzt der Arzt Imogene die beiden Embryos ein. Das Ganze dauert dreißig Sekunden.

Zurück nach Laramie fährt Imogene auf der Rückbank liegend, der Himmel rast über der Windschutzscheibe vorbei. Auf Anweisung des Arztes liegt sie drei Tage im Bett, isst Joghurt und dreht Herb alle zwölf Stunden die Hüfte für ihre Injektionen zu. Dabei fragt sie sich, ob da etwas Winziges in ihr geschieht, ein mikroskopischer Funke aufflammt, verblasst und wieder aufflammt. Am vierten Tag geht sie wieder zur Arbeit, wund, immer noch voll, eine unsichtbare Punktierungswunde in jedem Eierstock. Sie stellt fest, dass sie sehr vorsichtig geht. Sie stellt fest, dass sie Dinge denkt wie: Zwillinge? Eine Woche später fährt Herb sie wieder in die Klinik. Sie machen einen Bluttest.

Die Ergebnisse sind negativ. Die Einpflanzung war nicht erfolgreich. Sie ist nicht schwanger. Es gibt keine Zwillinge. Kein Baby. Nichts.

Zwischen Herb und Imogene herrscht jetzt eine Stille. Rechnungen kommen mit der Post, eine nach der anderen. Um zusätzlich etwas zu verdienen, gibt Herb einen Sommerkurs in Biologie, verliert aber ständig mitten in seinen Erklärungen den Faden. Eines Nachmittags, während er an der Tafel steht und eine einfache Proteinsynthese skizziert, sieht er plötzlich nur noch Ärzte vor sich, die zwischen Imogenes Beinen herumkrabbeln und golfballgroße Eier aus ihren Eierstöcken zerren.

Es wird gekichert. Er lässt die Kreide fallen. Eine hochgewachsene Studentin im zweiten Studienjahr, die in der ersten Reihe sitzt, eine Schwimm Stipendiatin namens Misty Friday, trägt Tarnshorts und eine Bluse mit etwa hundert Schnüren vor ihren Brüsten, ähnlich wie etwas, das ein Ritter unter seiner Rüstung tragen mag. Ihre Waden sind unglaublich lang.

«Professor Ross?»

Sie kaut auf den Enden ihrer Blusenschnüre herum. Herb sieht alles nur noch verzerrt, der Boden unter seinen Füßen scheint sich langsam zu drehen. Die Deckenfliesen senken sich ab. Er bricht den Unterricht ab.

Imogene und Herb kaufen Lebensmittel, essen zu Abend, sehen fern. Eines Abends hockt Imogene sich an den Rand ihrer Einfahrt und sieht zu, wie eine Gottesanbeterin ihre Eier auf einem Unkrautstängel ablegt, ein scheinbar unendlicher Strom von ihnen quillt aus ihr hervor, Tapiokakügelchen in einem bernsteinfarbenen Glibber. Drei Minuten später hat eine Schwadron Ameisen die Ladung mit ihren winzigen Kiefern abtransportiert. Was, fragt sich Imogene, ist mit den beiden Embryos geschehen? Sind sie aus ihr herausgerutscht und in der Bettwäsche verloren gegangen? Sind sie bei der Arbeit herausgefallen, ihr Hosenbein hinuntergepurzelt und in dem schrecklichen beigen Teppich zertreten worden?

Herb versucht es im Juni, dann wieder am 4. Juli: «Meinst du, wir könnten noch einen Durchgang probieren, Imogene?»

Nadeln. Telefonanrufe. Nichts. «Noch nicht», murmelt sie. «Jetzt noch nicht.»

Sie liegen wach nebeneinander, sprachlos, und suchen im Putz der Decke nach Mustern. Zehn Jahre Ehe, und hatten sie sich nach dieser Zeit nicht Kinder vorgestellt? Einen Fötus in einem Ozean von Fruchtwasser, eine Tochter, die mit matschigen Turnschuhen an der Hintertür steht und einen kleinen Vogel in der Hand hält? Fünfundsiebzig Billionen Zellen haben ihre Körper, und sie können keine zwei davon miteinander verbinden?

Und es gibt noch ein Problem: die Klischees. Es gibt zu viele Klischees bei dieser Sache, eine ganze Armee. Am wenigsten mag Imogene die offensichtlichen, die für gewöhnlich von den Müttern bei der Arbeit kommen: Du wirst auch nicht mehr jünger. Oder: Ich beneide dich um deine Freiheit – du kannst tun, was immer du willst!

Genauso schlimm ist der Moment beim Sommerpicknick der Abteilung für Biologie, als Goss, der neue Pflanzenkunde-Kollege verkündet, dass seine Frau schwanger ist. «Meine Jungs können schwimmen», erklärt er, schiebt die Brille höher und klopft Herb auf die Schulter.

Es ist ein Klischee, wenn Imogene zu Herb sagt (Samstagabend, Sonntagabend), dass es ihr gut geht und sie nicht darüber reden muss; wenn Herb hört, wie ein Student ihn auf dem Korridor einen «ziemlich potenten Professor» nennt; wenn Imogene mittags an zwei Frauen von der Rezeption vorbeikommt und die eine sagen hört: «Ich brauch’ Jeff nur anzugucken und schon bin ich schwanger.»

Schwangerschaftsstreifen, Babynahrung, Kinderwagenmarken. Wenn du auf etwas achtest, hörst du plötzlich nichts anderes mehr.

«Erzähl mir, was du willst, Imogene», sagt Herb, «aber nicht, dass es dir gut geht.»

Sie blickt auch weiterhin an die Decke. Ihr Name hängt zwischen ihnen in der Luft. Sie antwortet nicht.

Das Kapitel über die menschliche Fortpflanzung im Lehrbuch auf Herbs Schreibtisch heißt Das Wunder des Lebens. Imogene schlägt das Wort Wunder nach: Ein Ereignis, das im Gegensatz zu den Gesetzen der Natur zu stehen scheint.

Sie schlägt gut gehen nach: sich in einer guten Lage, einer guten Verfassung befinden, oder: einen guten Verlauf nehmen.

Herb telefoniert mit seinem Bruder in Minnesota. Sein Bruder versucht ihn zu verstehen, hat aber seine eigenen Sorgen, Kündigungen, ein krankes Kind. Auf der letzten Weihnachtskarte prangte das Foto eines Golflochs. Drinnen stand: Der Weg zum Erfolg bemisst sich an deinem eigenen Schwung. Frohe Weihnachten!

«Immerhin müsst ihr reichlich Spaß beim Probieren haben», sagt sein Bruder. «Oder?»

Herb macht einen Witz und legt auf. In der Küche lehnt Imogene den Kopf an den Kühlschrank. Draußen bläst der Wind aus den Bergen herunter, den ganzen Abend war kein einziges Auto auf der Straße zu sehen, und Imogene hört nichts als die Spülmaschine, das leise Schluchzen ihres Mannes und den heißen Wind im Salbei.

Laramie: Staub auf der Windschutzscheibe, ein Autoballett auf einem riesigen Parkplatz. Läden: das Home Depot, das Office Depot, der Ein-Dollar-Laden. Sonne dringt durch fernen Rauch, abgerissen wirkende Männer sitzen auf der Bank an einer Bushaltestelle und rubbeln Lotterielose. Zwei munter wirkende Frauen in langen Kleidern halten Salat in Plastikschachteln. Ein Flugzeug dröhnt über sie hinweg. Alles ist auf tödliche Weise normal. Wie lange noch kann sie hier leben?

Sie streiten. Er sagt, sie sondert sich ab. Er sagt, sie kann nicht gut mit Trauer umgehen. Sie sieht Laub umherfliegen. Ich sondere mich ab, denkt Imogene und muss an einen Film über einen Seestern denken, den sie einmal gesehen hat. Im Zeitraffer löste sich der Seestern vom Pfosten einer Hafenanlage und lief auf seinen tausend winzigen Füßchen über den Meeresboden.

Sie flieht in die Garage und fährt mit den Händen durch ihren Eimer voller Körner.

Er zerhackt Reifen auf der Wiese, bis kleine Sterne hinter seinen Lidern platzen. In einer Parallelwelt, denkt er, habe ich neun Kinder. In einer Parallelwelt warte ich mit einem Schirm darauf, dass meine Kinder aus dem Regen kommen.

Das Sommerkolleg geht zu Ende. Die Schwimmerin aus der ersten Reihe, Misty Friday, will ihre Abschlussarbeit besprechen. Ihr Trägerhemd ist aus einem glänzenden Material, sie hat Sommersprossen auf den Schultern und ihr Haar mit goldenen Gummis hochgebunden. Der Seminarraum leert sich. Herb setzt sich an den Nebentisch, Misty lehnt sich über die Lücke, und sie beugen die Köpfe über einen Absatz, den sie über Eukaryoten geschrieben hat. Bald schon ist das Gebäude vollkommen leer. Irgendwo draußen dröhnt ein Rasenmäher. Fliegen brummen an den Fenstern. Misty riecht nach Körperlotion und Chlor. Herb betrachtet die perfekten, ausladenden Rundungen ihrer Schrift und hat das Gefühl vornüber auf die Seite zu stürzen, als er sie, ganz aus Versehen, Sweetheart nennt.

Sie blinzelt zweimal. Leckt sich vielleicht über die Lippen. Es ist schwer zu sagen.

Er stottert: «Was haben alle Zellen, Misty. Eine Zellmembran, Zellplasma und genetisches Material, richtig? Ob Hefe, Mäuse, Menschen, es ist völlig egal …»

Misty lächelt, klopft mit der Spitze ihres Stifts auf den Tisch und sieht den Gang hinunter.

Die Berge verfärben sich braun. Waldbrände säumen die Sonne mit Rauch. Imogene bringt die Energie nicht auf, von der Arbeit nach Hause zu fahren. Sie bringt nicht einmal den Willen auf, sich von ihrem Schreibtisch zu erheben. Bildschirmschoner-Fische schwimmen über den Computerschirm, das Tageslicht schwindet allmählich, dann herrscht Dunkelheit, und Imogene sitzt immer noch auf ihrem Plastikstuhl und spürt das Gewicht des Gebäudes um sich herum.

Ein Mensch kann aufstehen und sein Leben hinter sich lassen. Die Welt ist groß genug. Er kann eine 4.000-Dollar-Erbschaft nehmen, zum Flughafen fahren, und bevor ihn sein Kopfschmerz einholt, mitten in einer Wüstenstadt sitzen, bellenden Hunden lauschen, und niemand im Umkreis von 5.000 Kilometern würde seinen Namen kennen.

Das Nichts ist die ewige Wahrheit. Das Nichts ist die Regel. Das Leben ist die Ausnahme.

Es ist fast Mitternacht, als sie über die dunkle Straße nach Hause fährt, und in der Garage lehnt sie sich aufs Lenkrad, bevor sie hineingeht und spürt, wie Scham ihren Körper erfasst und aus den Achseln sickert.

Es sollte eindeutig sein, denkt sie. Entweder kann ich Babys bekommen oder nicht. Und mein Leben weiterleben. Aber nichts ist eindeutig.

Im August bekommt Herb eine E-Mail von misty45@hotmail.com. Betrifft: Neuronen.

«wenn neuronen wie sie neulich im seminar gesagt haben das sind was uns alles fühlen lässt was wir fühlen und alle rezeptoren arbeiten gleich und pumpen diese ionen hin und her warum tun manche dinge dann weh und manche prickeln und manche fühlen sich kalt an?? warum fühlen sich manche dinge gut an professor ross und warum wenn es die nervenfasern sind die uns sachen fühlen lassen kann ich dann so VIEL fühlen ohne dass ein rezeptor irgendwie stimuliert worden ist professor ross ohne dass irgendein teil von mir jemals berührt worden ist??»

Herb liest die E-Mail noch einmal. Und dann noch einmal. Es ist Mittwochmorgen, und sein Stück Toast, dick mit Erdbeermarmelade bestrichen, bleibt ihm halb im Mund stecken. Er stellt sich Antworten vor: Das ist kompliziert, Misty, oder: Hören Sie, es gibt Fotorezeptoren, Mechanorezeptoren und Chemorezeptoren, oder: Reden wir darüber, oder: Freitag, 16 Uhr, in meinem Auto, und keine Sorge, ICH KANN SIE NICHT SCHWÄNGERN, aber dann stellt er sich vor, dass er sie schwängern könnte, dass er es nur wollen müsste, ein paar Worte hier, ein Lächeln da, ihre zwanzigjährigen Eierstöcke schäumen praktisch mit Eiern über, so gesund, so reif, Eizellen fast nur halb so alt wie Imogenes und gleichsam mit Traktorstrahlen ausgestattet. Selbst seine sterbenden Spermien, die schwachen drei Prozent, könnten es da noch schaffen. Er denkt an Mistys Fesseln, ihr Schlüsselbein, eine Zwanzigjährige mit Glitter auf den Augenlidern und einem Namen wie eine Wettervorhersage.

In der Küche hört er Imogenes Stuhl über den Boden scharren. Herb löscht die Mail und sitzt mit rotem Kopf vor dem Bildschirm.

Sechs Monate nach Imogenes Rückkehr aus Marokko haben sie geheiratet. In ihren Flitterwochen ist er mit ihr nach Montana gefahren und hat sie auf einen Pfad unter Skilifttürmen den Berg hochgeführt. Nieselregen ist an ihren nackten Armen herabgeronnen, vertrocknetes Gras ist ihr um die Knie gestreift. Die Reihe der Skilifttürme hat stumm im Regen gestanden. Er hat eine Flasche Wein und einen Hähnchensalat dabeigehabt.

«Weißt du», hat er gesagt, «ich glaube, wir werden ewig zusammen sein.»

Jetzt ist es 2004, und sie sind fast elf Jahre verheiratet. Er trägt die Abschlussnoten des Sommerseminars in das Register ein, setzt sich auf einen Hocker am Rand der Bar bei Cole’s und trinkt einen Krug süßes, dunkles Bier.

Dann fährt er zum Corbett Pool. Auf der Tribüne unter dem fünfzehn Meter großen Wandgemälde eines Cowboys sitzen ein paar Leute in kurzärmeligen Hemden. Misty Friday ist leicht auszumachen: Sie ist größer als der Rest der Frauen und trägt einen eng anliegenden, weiß abgesetzten marineblauen Einteiler. Ihre Schwimmkappe ist golden. Herb schwitzt in seinen Kakis. Die Schwimmerin auf Mistys Bahn macht ihre Wende und kommt zurück. Misty klettert auf den Startblock, rückt sich die Brille zurecht. Von überall hallen Stimmen wider, von der Decke, dem aufgewühlten Wasser. Komm, Tammy. Los, Becky. Herb hat das Gefühl, er pumpt sich durch das Innere einer lebenden Zelle, Mitochondrien fliegen vorbei. Geladene Ionen werden von Membranen zurückgeworfen, alles ordnet sich ständig neu.

Und doch, aus einer anderen Perspektive, ist alles bewegungslos. Mistys Knie sind gebeugt, die Arme über ihrem Kopf in der Schwebe. Der Moment, bevor ihre Mannschaftskameradin anschlägt, bevor Misty springt, dehnt sich zu einer Minute, einer Stunde. Das Chlor in der Luft dringt bis nach hinten in Herbs Kehle.

Misty taucht ins Wasser, Herb eilt zurück zu seinem Truck. Er sagt sich, es ist nichts als Biologie, die chemische Faust des Verlangens, und sein Rückgrat erzittert dabei wie bei einem Grünschnabel. Die Wahrheit. Die Fragen. Keine Verfehlung ohne Tat. Haben sie das nicht in der Sonntagsschule so gelernt? Misty hatte Recht, sich zu fragen, wie Leute andere Leute etwas empfinden lassen können, ohne sie zu berühren.

Er fährt nach Hause. Die Sonne versinkt westlich hinter Medicine Bow und schickt goldene und silberne Bänder in die Luft.

«Du kannst nie sagen, was alles einer Ehe Bestand gibt», hat seine Mutter ihm einst erklärt, und die Wimperntusche ist ihr über die Wangen gelaufen. «Du kannst nie sagen, was hinter verschlossenen Türen vorgeht.»

Als Herb ins Haus kommt, sitzt Imogene weinend am Küchentisch. Im verblassenden Licht ist ihr Haar weißer denn je, fast schon durchsichtig.

«Okay», sagt sie. «Ich mach’s. Ich versuche es noch einmal.»

Die Klinik kann sie erst Anfang Oktober wieder auf den Plan setzen. Dieses Mal kennen sie die Namen der Schwestern, den Ablauf, die Dosierungen. Dieses Mal ist die Sprache nicht so undurchdringlich. Die Kiste mit den Medikamenten ist kleiner. Probenbecher, Alkoholtücher und Spritzen haben sie noch. Imogene zieht den Bund ihrer Schlafanzughose herunter, und Herb versenkt die erste Nadel.

Bei Cyclops Engineering spannen die Empfangsdamen falsche Spinnweben unter die Decken. Goss, der Planzenkundler, kommt mit Sandwiches in Herbs Büro. Truthahn, Tomaten, Essig. Er erzählt von der Schwangerschaft seiner Frau, wie sie sich in die Küchenspüle übergibt und dass ihre ungeborene Tochter jetzt avocadogroß ist.

«Ist es nicht verrückt», sagt er, «dass jeder Student in diesem Gebäude, jeder Mensch in der Stadt, jede einzelne Seele, die je gelebt hat, nur existiert und existiert hat, weil zwei Leute miteinander gevögelt haben?»

Herb lächelt. Sie essen. «Seid fruchtbar und mehret euch!», ruft Goss und spuckt Salatfetzen auf Herbs Schreibtisch.

In der Nacht träumt Imogene: Herb und sie sitzen im Wohnzimmer einer blinden Frau auf einem geblümten Sofa, trinken kalten Tee und die blinde Frau stellt ihnen Fragen über ihr Sexualleben. Imogenes Mutter kommt herein und zieht zwei alte Reifen hinter sich her. Die blinde Frau gibt Imogene ein Ultraschallbild. Tauben flattern unter der Decke.

Subkutan, intramuskulär. Herb schraubt die benutzten Nadeln ab, wirft sie in den Behälter für scharfe Gegenstände und reiht Imogenes Pillenkranz auf. Draußen im Garten klammert sich Bodennebel an den Salbei und versiegelt die Erde. Ein paar Finken flattern wie Geister zwischen den Vogelhäusern hin und her.

Im Büro sagt Imogene zu Ed Collins, dass sie wieder ein paar Nachmittage ausfallen wird. Sie hebt den Saum ihrer Bluse und zeigt ihm das Spektrum ihrer Injektionsblutergüsse über der Unterhose. Lila Feuerwerke.

«Da habe ich schon Schlimmeres gesehen», sagt er, aber beide wissen, dass das nicht stimmt. Ed hat zwei Töchter, eine Wasserrutsche hinten im Garten, spielt jeden Freitagabend Minigolf und betrinkt sich dabei heillos.

Fünfundzwanzig Kilometer entfernt sitzt Herb am Küchentisch und überschreibt seinen Rentenplan.

Wieder schwellen Imogenes Eierstöcke an. Wieder wechseln die Jahreszeiten: Blätter wehen über das Feld mit den alten Reifen, und der Himmel wird von einem riesigen, geriffelten Wolkenrückgrat gesäumt.

«Unsere zwei Frösche produzieren also eine Baby-Kaulquappe», erklärt Herb seinem Donnerstagskurs, «und die Baby-Kaulquappe wird wie ihre Eltern sein, aber nicht genau so: Fortpflanzung ist nicht Wiederholung.»

Nach dem Kurs wischt er die Baby-Kaulquappe von der Tafel, dann die Herkunftspfeile, Elternfrosch A, Elternfrosch B. Der Körper hat die eine Verpflichtung, denkt er: sich fortzupflanzen. Wie viele männliche Vertreter der Spezies Homo sapiens klettern in diesem Augenblick auf ihre Bräute und stöhnen unter der Last ihrer Bestimmung?

Morgen wird der Arzt mit seinem Instrument in Imogene eindringen und ihre Eier herausholen. Herb fährt nach Hause und brät Hähnchenbrüste. Das Dach ächzt im Wind.

«Glaubst du, sie lassen mich diesmal Strümpfe tragen?»

«Wir nehmen welche mit.»

«Glaubst du, mir wird das Haar ausfallen?»

«Warum sollte es?»

Imogene weint. Er beugt sich über den Tisch und hält ihre Hand.

Es fängt an zu schneien. Es schneit so viel, als wollten sich die Wolken niemals leeren, und am Morgen fahren sie ihre hundert Kilometer durch ein einziges, konturloses Weiß. Während der ganzen Fahrt sprechen sie kein Wort. Alle paar Kilometer sehen sie umgekippte Lastwagen. Der Schnee weht in hypnotischen Wirbeln durchs Licht der Scheinwerfer, und die Interstate sieht aus, als stünde sie in drei, vier Meter hohen weißen Flammen. Herb beugt sich vor und späht angestrengt in das Weiß. Imogene hält seine Spermien zwischen den Schenkeln. Die Köpfe ihrer Eierstöcke wiegen sich schwer in ihr. Etwas in der Art, wie der Schnee herumwirbelt, innehält und dann weiterwirbelt, erinnert sie daran, wie sie als kleines Mädchen gebetet hat, dass die Welt weiß wird, wie sie beim Vaterunser jedes einzelne Wort betont hat, und sie fragt sich, wie sie eine fünfunddreißigjährige Waise sein kann, wenn sie doch gestern noch eine Neunjährige in Moon Boots war.

Als Herb vor der Klinik parkt, haben sie drei Stunden im Auto gesessen. Er muss seine Finger mit Gewalt vom Lenkrad lösen.

Der Anästhesist trägt Schwarz und ist extrem klein. Sie sind zu spät, und so geht alles sehr schnell.

«Ich gebe Ihnen jetzt etwas Süßes», sagt der Anästhesist zu Imogene durch seine Atemmaske und injiziert ihr das Penthotal.

Herb versucht im Wartezimmer Kursarbeiten zu korrigieren. Auf dem Teppich schmilzt Schneematsch zu dunklen Pfützen. Ganz gleich, was passiert, denkt er, ganz gleich, wie schlimm die Dinge laufen werden, irgendwer ist immer schlimmer dran. Da draußen gibt es Krebspatienten mit brennenden Schmerzen, Kleinkinder, die verhungern, und irgendwo einen Menschen, der beschließt, eine Pistole zu laden und zu benutzen. Du bist einen Marathon gelaufen? Gut für dich. Hast du schon mal was von einem Ultramarathon gehört? Es mag ja kalt sein, wo du wohnst, aber in Big Piney ist es noch kälter.

Nach einer Weile wird er wieder hereingerufen. Er kniet sich neben Imogene, füllt ihren Becher mit Gatorade auf und sieht zu, wie ihre Augen erneut zum Leben erwachen. Zehn, zwanzig Meter entfernt spült ein Embryologe zum zweiten Mal in diesem Jahr Eier von Imogene, schwächt die Zona pellucida und injiziert ein gutes Spermium in jedes einzelne von ihnen.

Eine Schwester kommt herein und sagt: «Sie beide sehen zusammen so süß aus.»

«Uns geht es gar nicht so schlecht», hört Imogene Herb sagen, als er sie durch den Matsch zum Auto bringt, wobei er sie halb führt, halb trägt. «Uns geht es ganz und gar nicht schlecht.»

Der Himmel ist aufgerissen, und die Sonne überschüttet den ganzen Parkplatz mit Licht. Im Truck döst sie und träumt und wacht durstig auf.

In Minnesota, quer durchs Land, schicken Herbs Eltern Gebete in die nackten Bäume vor ihrem Schlafzimmerfenster. Herbs Neffen prosten Herb und Imogene mit ihrer Milch zu. Bei Cyclops stellt Ed Collins ein Usambaraveilchen in einem Plastiktopf auf Imogenes Schreibtisch.

Das Telefon klingelt. Es sind zwanzig befruchtete Eier. Vierzehn Embryos. Eine ganze Brut. Imogene steht lächelnd in der Tür und sagt: «Ich kann eine ganze Schulklasse aufmachen.»

Zwei Tage später haben sich drei Embryos in acht Zellen geteilt und wirken kräftig genug, um eingesetzt zu werden. Auf dem Dach schmilzt der Schnee, das ganze Haus ist vom Tropfen des Schmelzwassers erfüllt.

Wenn es etwas Trauriges dabei gibt, denkt Herb, sind es die Embryos, die nicht mal drei Tage überleben, die ausgesondert werden, die klumpigen, brüchigen, die für unbrauchbar gehalten werden. Zellen mit Kernen und Aureolen wie winzige Sonnen. Kleine Söhne. Kleine Töchter. Herb und Imogene, Vater und Mutter, die DNA aufgebrochen und wieder verbunden, die Fähigkeit zum Klavierspiel, Feldhockey und öffentliches Sprechen determinierend. Helle Augen, adrige Arme und Beine, Nasen wie die Herbs. Aber nicht gut genug. Nicht brauchbar.

Herb und Imogene, die Vögel in den Vogelhäusern, Goss, der Pflanzenkundler, und Misty Friday, die Schwimmerin, sie alle waren einst unsichtbar, zu klein, um sie sehen zu können. Staubteilchen im Sonnenlicht. Der Splitter eines einzelnen Haares. Kleiner. Tausendmal kleiner.

«Die Sterne», hat ein Lehrer einmal zu Herb gesagt, «sind auch tagsüber da oben.» Das zu verstehen, hat Herbs Leben geändert.

«Selbst wenn wir diesmal schwanger werden», sagt Imogene, «glaubst du, dass wir dann aufhören, uns Sorgen zu machen? Glaubst du, dann werden wir ruhiger? Werden wir dann nicht wissen wollen, ob das Baby vielleicht am Downsyndrom leidet? Warum es weint, warum es nicht essen will, warum es nicht schläft?»

«Ich werde mir niemals Sorgen machen», sagt Herb. «Ich werde das alles nie vergessen.» Sie fahren die hundert Kilometer zurück nach Cheyenne. Der Arzt gibt ihnen Fotos ihrer drei guten Embryos: graue Kleckse auf Glanzpapier.

«Alle drei?», fragt er, und Imogene sieht Herb an.

Herb sagt: «Es ist dein Uterus.»

«Alle drei», sagt Imogene.

Der Arzt zieht sich Handschuhe an und holt das halb gekochte Stück Pasta hervor. Er pflanzt die Embryos ein. Herb trägt Imogene zum Truck. Die Interstate zieht unter ihnen her, Asche klackt in den Radkästen. Er trägt sie ins Schlafzimmer, ihre Füße stoßen gegen den Lampenschirm. Seidengleich liegt ihr Haar auf dem Kissen ausgebreitet. Sie soll drei Tage nicht aufstehen. Sie soll sich kleine Samen vorstellen, winzige Wurzeln, die sich in die Wände ihrer Gebärmutter graben.

Am Morgen verteilt Herb in der Universität die Trimestertests. Seine Studenten hocken hinter ihren Tischen, Schnee auf den Schuhen, ein nervöses Flattern in der Brust.

«Alles, was Sie tun müssen», sagt er und geht durch die Reihen, «ist, mir zu zeigen, dass Sie die Prinzipien verstanden haben.»

Sie sehen ihn mit offenen Augen an, mit Gesichtern wie Ozeanen.

Fünfundzwanzig Kilometer entfernt dreht sich Imogene im Bett. In ihrem Uterus verrutschen drei unendlich kleine Embryos, halten sich fest, verrutschen, halten sich fest. In zehn Tagen wird ein Bluttest sagen, ob sich einer von ihnen hat festsetzen können.

Zehn Tage. Im Moment ist da nur die Stille im Haus. Draußen die Vögel. Die Reifen auf dem Feld. Imogene betrachtet ihre Handflächen, Flüsse und Täler. Eine Erinnerung: Imogene, vielleicht sechs Jahre alt, hatte sich die Schneidezähne auf dem Geländer abgebrochen. Ihr Vater suchte nach Stücken im Flor des Teppichs. Die Armbänder der Mutter lagen kalt an Imogenes Wange.

Das Telefon beginnt zu klingeln. Vor dem Schlafzimmerfenster flattert ein schieferfarbenes Junkopärchen in eines von Imogenes Vogelhäuschen.

«Sag mir, dass alles gut ist», flüstert Herb, den Hörer seines Bürotelefons ans Ohr gedrückt. «Sag mir, dass du mich liebst.»

Imogene beginnt zu zittern. Sie schließt die Augen und sagt Ja, sie liebe ihn.