♦ ♦ ♦
♦ ♦ ♦
Der Dorfvorsteher steht unter einem Schirm. Von der Fassade des Amtsgebäudes hinter ihm tropft es. Der Himmel ist ein fadenscheiniger Silbervorhang. «Es stimmt», sagt er. «Unser Untergang ist beschlossen. Für das verlorene Eigentum werden Entschädigungen gezahlt, die Umzugskosten übernommen. Wir haben elf Monate Zeit.» Unter ihm, auf der untersten Stufe, haben seine Töchter die Knie an sich gezogen. Männer in Regenjacken neigen die Köpfe und reden leise. Ein Dutzend Möwen fliegt vorbei und stößt Rufe aus.
Auf den Projektplänen, in einem Gewirr von Höhenlinien, ist das Dorf mit einem roten Überflutungskreis markiert, der kaum größer als ein Staubkorn ist. Die einzige Beschriftung ist eine Zahl.
Eins-eins-drei, eins-dreizehn, eins und eins und drei sind fünf. Die Wahrsagerin hockt in ihrer Bude und schüttelt Pollen über ein Feld mit Zahlen. «Ich sehe Selbstsucht», sagt sie. «Ich sehe Entschädigungen. Den Kelch der Ekstase. Das Ende der Welt.»
Entfernte Cousins aus anderen Orten am Fluss, die bereits umgesiedelt worden sind, schreiben Briefe und bestätigen, wie gut ihr Leben jetzt ist. Mit richtigen Schulen, lohnenden Krankenhäusern, Heizung, Kühlschränken und Karaokemaschinen. Die Umsiedlungsgebiete verfügen über alles, was es in den Dörfern nicht gibt. Strom fließt Tag und Nacht, überall ist dunkles Fleisch zu kaufen. Ihr überspringt ein halbes Jahrhundert, schreiben sie.
Der Dorfvorsteher spendiert ein paar Fässchen, es gibt ein Fest. Generatoren knurren auf dem Kai am Fluss, in den Bäumen hängen Lichter und gelegentlich platzt eine Birne. Die Dorfbewohner applaudieren, wenn es zwischen den Ästen raucht.
Die Dammkommission hängt Fotos des Umsiedlungsgebiets an die Wände des Amtsgebäudes: Zwei Mädchen sitzen auf Schaukeln, und ihre Zöpfe fliegen im Wind. Models in Kaki lehnen auf Ledersofas und lachen. Der Fluss in Flaschen, lautet eine Überschrift. Die Nation ernährt. Warum warten? Bauern auf dem Weg vom Markt bleiben stehen, lassen die leeren Körbe auf den Schultern ruhen und starren die Bilder an.
♦ ♦ ♦
Lehrer Ke schüttelt seinen Stock in Richtung der Passanten. Sein Mantel besteht aus Lumpen, sein Haus ist ein Schuppen. Er hat zwei Kriege überlebt, eine Kulturrevolution und den Winter des großen Hungers. Sogar für die ältesten Dorfbewohner ist Lehrer Ke noch alt, hat keine Familie, keine Zähne. Er liest in drei Sprachen. Er lebt schon länger in den Schluchten, sagen sie, als die Felsen.
«Sie kippen einen Lastwagen Erde in die Wüste und nennen es Ackerland? Sie nehmen uns unseren Fluss und geben uns eine Busfahrkarte?»
Die Samenhüterin hält den Kopf gesenkt. Sie denkt an ihren Garten, die großen Kohlköpfe, die wachsenden Kürbisse. Sie denkt an das Saatgut in ihrem Laden: den Pfeffersamen, cremefarben und weiß, den Lauchsamen, schwarz wie Obsidian. Samen in Gläsern, Samen in Trichtern, Samen kleiner als Schneeflocken.
«Fühlst du dich nicht betrogen?», ruft ihr der Lehrer hinterher. «Bist du nicht wütend?»
♦ ♦ ♦
Licht fällt wie Klingen zwischen den Wolken hindurch, die Luft riecht nach herumfliegenden Blättern, Regen und Schotter. Die Bauern holen ihre Karren für die Ernte heraus. Obstbauern starren trübsinnig auf die Reihen ihrer Bäume.
Seit Jahren wird über den Damm gemunkelt, über ein Ende der Überschwemmungen in den unteren Flussabschnitten, saubere Energie für die Stadt. Abgelegenheit, Verbundenheit, eine Quelle in der Mitte jedes Dorfes – wird das nicht schon in den ältesten Geschichten vorausgesagt? Die Flüsse werden ansteigen und die Erde bedecken, die Meere werden erblühen, die Berge zu Inseln. Das Wort ist das Wasser und die Erde der Brunnen. Alles kehrt zu sich selbst zurück. In dem Tempel sind solche Sätze über die Fenster graviert.
Die Samenhüterin steigt die Treppen hinauf, vorbei an Frauen mit Feuerholz, an Trägern mit Zeitungshüten, an den Bänken und Gingko-Bäumen des Parks der Helden, hinauf auf die Wege oberhalb des Dorfes. Bald schon wird sie von Wald umschlossen, dem Geruch von Fichtennadeln, dem Rauschen der Luft. Darüber liegen Klippen, Gräber, Höhlen mit Lehmwänden.
Hier haben sich vor tausend Jahren Mönche an Felsen gefesselt. Hier stand sechzehn Winter lang bewegungslos ein Jäger, bis seine Zehen zu Wurzeln und seine Finger zu Zweigen wurden.
Ihre Beine sind schwer von Blut. Unter sich, zwischen den Ästen, kann sie hundert zusammengekauerte Dächer sehen. Darunter liegt der Fluss: seine große, elegante Biegung, sein grünes, rastloses Gesicht.
♦ ♦ ♦
Nach Mitternacht tritt der einzige Sohn der Samenhüterin auf ihre Schwelle. Er trägt eine riesige Brille, zwischen seinen Lippen steckt eine Zigarette mit Goldpapier.
Er lebt dreihundert Kilometer den Fluss hinunter in der Stadt, und sie hat ihn seit vier Jahren nicht mehr gesehen. Seine Stirn glänzt stärker, als sie es in Erinnerung hat, und seine Augen sind feucht und haben rosa Ringe. Mit einer Hand hält er ihr eine einzelne weiße Pfingstrose hin.
«Li Qing.»
«Mutter.»
Er ist vierundvierzig. Einzelne Haare fallen ihm hinter die Ohren. Der Hals über seinem Kragen sieht aus wie aus weichem, hellem Teig.
Sie stellt die Pfingstrose in eine Vase und setzt ihm Nudeln mit Ingwer und Lauch vor. Er isst bedächtig und behutsam. Hinterher nippt er an seinem Tee und sitzt ganz aufrecht da.
«Erstklassig», sagt er.
Draußen bellt ein Hund und verstummt wieder, die Luft im Raum ist warm und unbewegt. Flaschen, Tütchen und Kartons mit Samen drängen sich um den Tisch, und ihr Geruch, wie geöltes Holz, ist mit einem Mal sehr stark.
«Du bist zurück», sagt sie.
«Für eine Woche.»
Eine Pyramide Zuckerwürfel wächst langsam vor ihm hoch. Die Falten auf seiner Stirn, der Schimmer auf seinen Ohren – in seinen nervösen, blassen Fingern erkennt sie seine Kinderfinger, und wo sein großes, rundes Kinn den Hals bedeckt, sieht sie noch sein Neugeborenenkinn. Blut flüstert all die Jahre hindurch.
Sie sagt: «Das ist eine neue Brille.»
Er nickt und schiebt sie höher auf die Nase. «Ein paar der anderen Wachen, sie machen sich lustig. Sie sagen: ‹Werde nicht selbst zu einer Brille, Li Qing›, und lachen und lachen.»
Sie lächelt. Draußen auf dem Fluss lässt ein Lastkahn sein Horn ertönen. «Du kannst hier schlafen», sagt sie, aber ihr Sohn schüttelt bereits den Kopf.
♦ ♦ ♦
Den ganzen nächsten Tag steigt Li Qing Treppen hinauf und hinunter, spricht mit Dorfbewohnern und schreibt Zahlen auf einen Block. Eine Untersuchung, sagt er. Eine Einschätzung. Kinder folgen ihm, sammeln seine Zigarettenstummel ein und untersuchen das Goldpapier.
Wieder kommt er erst kurz vor Mitternacht an ihre Tür, wieder isst er wie ein alternder Prinz. Ihr fallen Mängel auf, die sie tags zuvor nicht bemerkt hat: einen losen Faden an einem Knopf, eine nicht rasierte Stelle auf der Wange. Seine Brille ist trübe und verschmiert. An seiner Unterlippe hängt ein Reiskorn, und sie muss sich zwingen, sich nicht vorzubeugen und es wegzuwischen.
«Ich laufe herum», sagt er, «und frage mich: Wie viele Pflanzen, wie viel von der Struktur dieses Dorfes ist aus deinen Samen entstanden? Die Reisstoppeln, die Kartoffelfelder. Die Bohnen und der Salat, den die Bauern auf den Markt tragen, ihre eigenen Muskeln. Alles ist aus deinen Samen entstanden.»
«Einige Leute haben immer noch ihren eigenen Samen. Früher wurde gar kein Samenhüter gebraucht. Die Familien sammelten und handelten mit ihrem eigenen Samen.»
«Ich meine das als Kompliment.»
«Gut», sagt sie.
Er schiebt einen Stift in seiner Hemdtasche auf und ab. Die Laterne spiegelt sich im linken wie im rechten Brillenglas. Als Junge schlief er auf seinem Mathematikbuch ein. Schon damals hatte sein Haar die Farbe von Schatten, und seine Stifte waren voller Bissspuren. Sie wundert sich, welch tiefe Freude und was für ein Dorn im Herzen es gleichzeitig sein kann, den Sohn am Tisch zu haben.
Die Laterne spuckt. Er steckt sich eine Zigarette an.
«Du bist hier, um zu sehen, was wir über den Damm denken», sagt sie. «Der ist den Leuten egal. Sie wollen nur wissen, wer den größten Umsiedlungsscheck bekommt.»
Sein Zeigefinger malt kleine Kreise auf den Tisch. «Und du? Ist es dir auch egal?»
Vor dem Fenster fliegt ein rechteckiges Stück Papier vorbei, ein Brief oder eine Seite aus einem Buch, dreht sich, wird die Straße hinaufgeweht, saust in die Höhe und über das Dach des nächsten Hauses in Richtung Fluss. Sie denkt an ihre Mutter und wie sie mit dem Messer Melonen geöffnet hat, denkt an die nasse, glänzende Schale, das Geräusch des Aufbrechens, als lösten sich Hemisphären voneinander. Sie stellt sich vor, wie das Wasser die beiden steinernen Löwen im Park der Helden verschluckt. Sie antwortet nicht.
♦ ♦ ♦
Ingenieure der Dammkommission laden Stricke, Stative und Rollen mit Plänen auf den Anleger. Abends richten sie laute, hell erleuchtete Festessen aus, tags sprühen sie rote Zeichen, Wasserstandshöhen, auf Häuser.
Die Samenhüterin leert Kürbisse und breitet das Fleisch auf alten Plastikplanen aus. Die Samen glänzen und sind weiß. Das Innere der Kürbisse riecht wie der Fluss.
Als sie den Blick hebt, steht Lehrer Ke vor ihr, dünn und unglaublich alt. «Dein Sohn», sagt er. «Er ist einer von ihnen.»
Es nieselt, und der Garten ist feucht und ruhig. «Er ist erwachsen. Er trifft seine eigenen Entscheidungen.»
«Wir sind für ihn nichts als Zahlen. Weniger noch.»
«Es ist in Ordnung, Lehrer», sagt sie. «Einen Augenblick.» Sie wischt sich mit der nassen Hand über die Stirn. «Ich bin so gut wie fertig. Ihnen muss kalt sein. Ich koche uns einen Tee.»
Der Lehrer weicht mit abwehrend erhobenen Händen zurück. Wind fährt ihm in seine Kleider, und plötzlich sieht es so aus, als bestünde er nur aus Stoff und könnte jeden Moment davongeweht werden.
«Er ist hier, um mich festzunehmen», zischt er. «Er ist hier, um mich umzubringen.»
♦ ♦ ♦
Das Gedächtnis ist ein Haus mit zehntausend Zimmern, ein Dorf, das überflutet werden soll. Die Samenhüterin sieht den sechsjährigen Li Qing durch den Matsch am Rande des Anlegers stapfen. Sie sieht ihn an den Dachgauben des Tempels vorbei zu den Sternen hinaufstarren.
Bei seiner Geburt hatte er Haar so dick und schwarz, dass es das Licht zu schlucken schien. Sein Vater ertrank drei Monate später, und sie zog den Jungen alleine groß. Mathematik war das einzige Schulfach, das ihn interessierte: Algebra, Geometrie, Kurven und Diagramme, unbestechliche Regeln und klare Ergebnisse. Eine Welt nicht aus Matsch, Bäumen und Lastkähnen, sondern aus Rauminhalten, Umfängen und Flächen.
«Gleichungen sind vollkommen», hat er ihr einmal erklärt. «Wenn sie eine Lösung haben, ist sie für jedermann gleich, nicht wie …», er deutete auf ihre Setzlinge, das Haus und die Schlucht dahinter, «wie das hier.» Mit vierzehn wechselte er auf die Schule in der Stadt. Mit siebzehn schrieb er sich für eine Ingenieursschule ein und hatte keine Zeit mehr für irgendetwas anderes. Ich bin so beschäftigt, schrieb er. Hier herrscht ein scharfer Wettbewerb.
Er ging zur Öffentlichen Sicherheit, patrouillierte durch Eisenbahnwagen, trug eine Pistole, eine Kappe mit kurzem Schirm und Hosen mit Streifen an der Seite. Jedes Mal, wenn er nach Hause kam, sah er leicht verändert aus, nicht nur älter, sondern anders: hatte einen neuen Akzent, rauchte, klopfte dreimal hart an. Es war, als dringe die Stadt in seinen Körper und schaffe ihn neu. Er betrachtete die niedrigen Häuser, die herumlaufenden Hühner und die Bauern mit ihren Stricken um die Hosen wie einen Film aus einem anderen Jahrhundert.
Es gab kein dramatisches Zerwürfnis, keinen kulminierenden Streit. Er schickte ihr Teekannen zum Geburtstag. Zu Neujahr schickte er einen gläsernen Delfin, eine elektrische Zahnbürste oder sieben Wolken aus Pailletten. Was immer an Raum zwischen ihnen war, wurde größer, wuchs unsichtbar an, die Luftwurzeln von Efeu gruben sich in Mörtel. Ein Jahr verging. Ein weiteres.
Jetzt dämmert es wieder, und Li Qing sitzt mit Jackett und Krawatte an ihrem Tisch und trägt Zahlen vor. Die Staumauer wird aus elf Millionen Tonnen Beton gegossen. Ihr oberer Rand wird eins Komma sechs Kilometer lang. Das Staubecken wird ein Dutzend Städte, hundert Kleinstädte und tausend Dörfer verschlucken. Aus dem Fluss wird ein See werden, und der See wird noch vom Mond aus zu sehen sein.
«Sein schieres Ausmaß», sagt er, und Rauch zieht vor seiner Brille vorbei.
♦ ♦ ♦
Familienoberhäupter werden in Sechsergruppen ins Amtshaus bestellt. Zur Wahl stehen eine Anstellung bei der Regierung oder ein Jahresgehalt ihn bar. Die Wohnungen in den Umsiedlungsstädten werden zu Sonderpreisen angeboten. Alle nehmen das Geld.
Die Erzfabrik schließt. Der Besitzer des Nudelrestaurants zieht weg. Der Friseur zieht weg. Jeden Tag werden Hochzeitsschränke, Kleiderkörbe, Kartons und Kisten auf den Rücken von Trägern am Fenster der Samenhüterin vorbeigetragen.
Kaum jemand kauft Saatgut für den Winterweizen. Die Samenhüterin betrachtet ihre Vorräte und denkt: Es wäre leichter, hätte ich Reisen unternommen. Ich hätte Li Qing in der Stadt besuchen, eine Fähre besteigen und etwas von der Welt sehen können.
Am Ende der Woche sind die Ingenieure wieder verschwunden. Die höchste Reihe roter Markierungen halbiert die Felsen über der Stadt. Der Fluss wird um vierundsechzig Meter ansteigen. Noch die Kronen der ältesten Bäume werden nicht bis an die Oberfläche reichen, und auch der Giebel des Amtshauses nicht. Sie versucht sich vorzustellen, wie ihr Garten in alldem Wasser aussehen wird. Nashi-Birnen und Kakis, die erdigen Ellbogen der Kürbisranken, und fünfzehn Meter über ihrem Dach ziehen die Kiele der Lastkähne dahin.
Außerhalb ihres Hühnerdrahts flüstern die Nachbarsjungen Geschichten über Li Qing. Er hat Männer getötet, sagen sie, seine Aufgabe ist es, alle loszuwerden, die den Dammbau nicht unterstützen. In der Tasche hinten in seiner Hose steckt eine zusammengefaltete Liste mit Namen. Wenn er dich unter den Namen findet, nimmt er dich mit an den Anleger, und ihr zwei fahrt flussaufwärts, aber nur einer kommt zurück.
Geschichten, nichts als Geschichten. Nicht jede Geschichte enthält ein Körnchen Wahrheit. Trotzdem liegt sie im Bett und stürzt durch Albträume: Der Fluss steigt die Bettpfosten hinauf, Wasser bricht durch die Fensterläden. Sie erwacht und schnappt nach Luft.
♦ ♦ ♦
Sie gehen die alten Treppen zum Anleger hinunter und überqueren die Brücke der schönen Blicke. Die Bojen der Fischreusen kämpfen in den Stromschnellen, und ein halbes Dutzend Ruderboote zerrt an seinen Halteleinen.
Der Wind trägt den Geruch von Regen heran. Hin und wieder rutscht Li Qing vor ihr etwas aus, und kleine Steine fallen ins Wasser.
Der Fluss schluckt alle Geräusche. Es gibt nur die kaum sichtbaren Bögen der Fledermäuse hoch vor den Felsen und das Mondlicht auf fernen Kornreihen und dem silbrigen Rand des Flusses, wo er an die Ufer stößt.
«So», sagt er.
Die Asche seiner Zigarette leuchtet auf, seine Hand fährt zur hinteren Tasche seiner Hose, und ein plötzlicher Panikanfall schnürt ihr die Kehle zu. Sie denkt: Er weiß Bescheid. Mein Name steht auch auf der Liste. Aber er holt nur ein kleines Tuch hervor und putzt sich die Brille.
Li Qing blickt in die Dunkelheit, als stünde er am Rande eines kalten, tiefen Abgrunds, doch dann setzt er die Brille wieder auf und ist nichts als Li Qing, vierundvierzig Jahre alt, unverheiratet, die stellvertretende Sicherheits-Kontaktperson der dritten Ingenieursabteilung der Dammkommission.
«Ich habe gesehen, dass du deine Umsiedlungszahlung nicht abgeholt hast», sagt er.
Er spricht behutsam. Er wägt, wie sie feststellt, seine Worte sorgfältig ab. «Du wirst älter, Mutter. All die Stufen, all die Stunden, die du gebeugt in deinem Garten verbringst. Das Leben hier ist hart. Die Kälte, der Wind. Niemand hat eine Elektroheizung. Nicht mal Telefon.»
Feiner Regen beginnt über den Fluss zu wehen, und sie lauscht, wie er näher kommt. Innerhalb von Sekunden hat er sie erreicht und besprenkelt Li Qings Brille. «Eine Abfindung in bar oder ein Regierungsjob. Und dein Sohn lebt in der Nähe. Das sind keine schrecklichen Aussichten. Jeden Tag verlassen Leute das Land für weniger.»
In der Schlucht hallt das Geräusch des Regens wider, der Wind dringt in die Höhlen und wirbelt zurück ins Freie. Der kleine orange Punkt seiner Zigarette beschreibt einen Bogen auf den Fluss hinaus und verschwindet. Sie sagt: «Was ist mit einer dritten Möglichkeit?»
Li Qing seufzt. «Es gibt keine dritte Möglichkeit.»
♦ ♦ ♦
Lehrer Ke steht achthundert Meter entfernt in der Dunkelheit vor dem Amtshaus. Regen weht an den Laternen vorbei. Er hält eine Kerze in einem Glas, deren Flamme hin und her zuckt. Der Wind hebt den Plastikponcho über seinen Schultern hoch in den Regen, wie die Flügel eines Geistes.
♦ ♦ ♦
Es gibt wenig Arbeit. Sie isst allein. Die Nächte fühlen sich ohne Li Qing leerer an. Sie hängt seine Pfingstrose kopfüber in die Tür, und eines nach dem anderen fallen die Blätter herunter.
Die Zwergeiche hinter dem Haus wirft ihre letzten Eicheln ab, und die Samenhüterin lauscht dem Rauschen der Zweige, dem Pfeifen und Pochen der großen Samen auf ihrem Dach. Hier, scheinen die Bäume zu sagen. Hier.
Ein Brief:
Mutter – ich wünschte, wir hätten reden können. Ich wünsche mir viele Dinge. Wir sollten anfangen, nach einer Wohnung für dich zu suchen. Nicht zu weit von mir entfernt, mit einem Aufzug. Es gibt Dinge, die dir das Leben erleichtern. Was ich sagen wollte, ist, dass du nicht dein ganzes Leben einem einzigen Ort treu bleiben musst.
Es wäre eine große Hilfe, wenn du bitte deinen Umsiedlungsanspruch geltend machtest. Der 31. Juli ist nicht mehr so fern. Die Warteliste wird jeden Tag länger.
Es gibt keine Landverkäufe, keine Heiratsanträge mehr. Jeden Nachmittag legt ein anderer Lastkahn an, und eine weitere Familie verstaut ihre Besitztümer darauf – Bettrahmen, nackte Puppen, sabbernde kleine Hunde und Stiche lange verstorbener Söhne in Uniform.
Die Frau des Dorfvorstehers kommt in den Samenladen und blickt in ein Dutzend offene Umschläge. Den ganzen Sommer über war ihr Garten hinter dem Amtshaus ein einziges Blütenmeer: Astern, purpurn, violett, weiß. Jetzt verlässt sie das Dorf mit fünfzig Samen. «Es heißt, wir haben einen Balkon», sagt sie, aber ihre Blicke sind voller Fragen.
Wie es scheint, gibt es fast nichts, was sich nicht mitnehmen lässt: Dächer, Schubladen, Filzteppiche, Fenstereinfassungen. Ein Nachbar hat den ganzen Tag auf einer Leiter gestanden und Schindelnägel herausgezogen. Ein anderer Pflastersteine aus der Straße. Ein Fischer exhumiert die Knochen dreier Hauskatzengenerationen und wickelt sie in eine Schürze.
Sie lassen auch Dinge zurück: kaputte Schminkkästen, abgebrannte Feuerwerkskörper, benotete Arithmetik-Hausaufgaben und staublose Ringe auf einem Kaminsims, auf dem einmal kleine Figuren gestanden haben. Alles, was sich noch in einem Restaurant findet, sind die Scherben eines Aquariums, im Laden eines Schusters liegen noch drei blaue Socken und die obere Hälfte einer weiblichen Ankleidepuppe.
Den ganzen Monat über sieht die Samenhüterin den Lehrer Ke kein einziges Mal. Sie stellt fest, dass sie anfängt, nach ihm Ausschau zu halten. Ihre Füße tragen sie an der winzigen, schiefen Hütte des Lehrers vorbei, aber sie kann nicht sagen, ob sich jemand in ihr befindet.
Vielleicht hat er das Dorf schon verlassen. Auf ihrem Tisch liegt Li Qings Brief, klein und weiß. Der 31. Juli ist nicht mehr so fern. Du musst nicht dein ganzes Leben einem einzigen Ort treu bleiben.
Manchmal abends, wenn sie zwischen den Tausenden düsteren Formen ihrer Samenbehälter sitzt, verspürt sie eine leichte Übelkeit, fühlt sich aus dem Gleichgewicht gebracht, als zöge ihr Sohn am Ende einer endlos langen, unsichtbaren Schnur an ihr, als wären Tausende und Abertausende Drähte in sie eingepflanzt.
♦ ♦ ♦
Hier ist der Park der Helden. Hier stehen die Gingko-Bäume, eine Prozession im Dunkeln. Hier sind die alten Löwen, die Rücken blank poliert von Kindern, die über fünf Jahrhunderte auf ihnen geritten sind. Immer bei Vollmond, pflegte ihre Mutter zu sagen, erwachen die Löwen zum Leben und tappen durchs Dorf, sehen in Fenster und schnüffeln an den Bäumen.
Nebel zieht durch die Straßen, Mondlicht fließt wie Milch in ihn hinein. Vor dem ersten Morgenlicht schlichen die Löwen zurück auf ihre Podeste, legten die Pfoten übereinander und wurden wieder zu Stein. Zweifle nicht an Dingen, nur weil du sie nicht sehen kannst. Sie geht den alten Weg mit den verfallenen Mauern hinunter. Die Hütte des Lehrers hat kaum mehr eine Form. Die Tür steht offen.
«Hallo?» Eine Katze läuft vorbei. Die Samenhüterin steigt eine Stufe hinauf und noch eine. Das Holz ächzt. «Lehrer Ke?»
Drinnen erblickt sie Papierstapel und einen kleinen Fassofen, kohleverschmiert und kalt. Zwei Töpfe hängen an einem Nagel, das Bett ist leer, die Decke aufgefaltet.
Der Nebel wälzt sich voran, unten auf dem Fluss lässt die Fähre ihr Horn ertönen. Es klingt wie das Blöken eines Bullen, tief und prähistorisch. Sie eilt zitternd davon.
Am Morgen ist es kälter geworden, und die Nachbarsjungen stapeln außerhalb von ihrem Hühnerdraht Eisscheiben auf und flüstern: Habt ihr schon gehört? Nein? Er hat ihn den Fluss hinaufgebracht. Den alten Lehrer. Zweihundert Kilometer weit in die Berge. Mit einem Boot? Mit einem Boot. Da hat er ihn ausgesetzt. Ohne Proviant? Nur eine goldene Zigarette hat er ihm gegeben. Schwimmen musste er dafür. Kilometerweit entfernt von allem. Den alten Mann? Er hat ihn in die Wildnis gebracht, damit er da stirbt.
Sie lehnt sich gegen den Draht. Lange sitzt sie so da, bis der Garten von Schatten gesäumt ist und die Dämmerung den Himmel mit Gräben und Wunden füllt.
♦ ♦ ♦
Weiße Felsen flackern im Nebel vorbei. Innerhalb von fünfzehn Minuten kommt die Samenhüterin durch eine Gegend, die sie vielleicht fünf Mal in ihrem Leben gesehen hat. Die Schlucht öffnet sich und weicht zurück: Terrassierte Anbauflächen gleiten vorbei, Winterkartoffeln, brauner Senf und die gelben Stoppeln von abgeerntetem Reis.
Den ganzen Tag fährt das Schiff durch Schluchten, den ganzen Tag gewinnt der Fluss an Stärke, sammelt Zuflüsse, ist einmal fünfzig Meter breit, dann wieder zwischen Felsen eingeklemmt und steigt an. Sie kann seine Kraft unter ihren Füßen spüren. Das leere Bett des Lehrers, sein Bild, steht über einem vorbeiziehenden Dorf und sieht zu ihr herüber, behauptet sich im Spiegelbild der hinter den Wolken verborgenen Sonne, zerfällt anklagend auf dem Wasser und bildet wieder einen Schwarm.
Sie verlässt das Deck nicht. Eine Familie gibt ihr von ihrem Reis ab. Das Tageslicht verwandelt sich eilig in Dunkel, und einer nach dem anderen verabschieden sich die Passagiere in ihre Kabinen, um zu schlafen. Ein Dutzend Dörfer zieht während der Nacht vorbei, Spielhöllen, baufällige Hotels, Fischerboote. Über den Anlegern schwingen Lichter wie eigensinnige Sterne. Sie denkt: Zwei fahren flussaufwärts, aber nur einer kommt zurück. Sie denkt: In sechs Monaten steht das alles hier unter Wasser.
♦ ♦ ♦
Eine hochragende schwarze Fassade, in Glas gehüllt, mit einem Außenskelett aus Balkonen. Seine Wohnung liegt im achtundvierzigsten Stock. Die Küche füllt sich nach und nach mit Licht. Li Qing macht Klößchen in einer Mikrowelle heiß und schüttet Tee in zwei Becher mit Ingenieurslogos darauf.
«Iss», sagt er. «Nimm meinen Bademantel.» Vor dem Fenster, dem Balkon, verliert sich der Sonnenaufgang hinter einem Gewirr von Dächern und Antennen.
Ihre Matratze ist klein und fest. Sie atmet und lauscht dem gedämpften Rauschen des Verkehrs und ihrem Sohn, der sich behände durch den Raum bewegt, einen Anzug anzieht und sich eine Krawatte umbindet. Alles scheint die Bewegung des Flusses anzunehmen, das Bett wiegt sich vor und zurück, eine Strömung zieht sie voran.
«Ruh dich aus», sagt Li Qing, und sein Gesicht hängt über ihr wie ein Mond. «Es ist gut, dass du gekommen bist.»
Als sie aufwacht, ist es Abend. Ein Käfer läuft an der Decke entlang und schwelgt in den Wellen des Putzes. Wasser spült durch die Wände, aus den Toilettenkästen der Nachbarn und sich leerenden Spülbecken.
Sie setzt sich an den Tisch und wartet auf ihren Sohn. Der Schlaf verlässt sie nur langsam. Die zugezogenen Vorhänge sind dick und schwer.
Er kommt kurz vor acht und wirft seine Jacke aufs Sofa. «Hast du geschlafen? Ich bestelle uns was zu essen.» Eine seiner Socken hat ein Loch, man kann die Ferse sehen.
«Li Qing.» Sie räuspert sich. «Setz dich.»
Er schaltet den Wasserkocher ein und lässt sich ihr gegenüber nieder. Sein Blick ist sehr fest, sie versucht ihm standzuhalten.
«Hast du auch Lehrer Ke befragt? Als du im Dorf warst?»
«Den pensionierten Lehrer?»
«Ja. Was hast du ihm gesagt?»
Der Wasserkocher stöhnt, während er aufheizt. «Ich habe ihm den Damm erklärt. Er hatte einige Fragen, denke ich. Ich habe versucht, sie zu beantworten.»
«Das ist alles?»
«Das ist alles.»
«Du hast nur mit ihm geredet?»
«Ich habe nur mit ihm geredet und ihm seinen Umsiedlungsscheck gegeben.»
Das Balkongeländer vibriert im Wind, und die Samenhüterin schluckt. Ihr Sohn holt eine Zigarette aus der Tasche, steckt sie sich in den Mund und entzündet ein Streichholz.
♦ ♦ ♦
Er lässt sie seine Pullover tragen, er kauft ihr ein Handtuch. Sie sieht zu, wie sich die Sachen in seinem Trockner drehen und drehen. Nach dem Essen raucht er auf dem Balkon, und der Wind strömt über ihn, hebt seine Krawatte und lässt ihr Ende gegen die Scheibe schlagen. Die Zigarettenstummel trudeln in Spiralen in die Tiefe und außer Sicht.
Vielleicht hat Lehrer Ke das Dorf verlassen wie alle anderen. Vielleicht, denkt sie, habe ich das alles missverstanden. Vielleicht sollte ich irgendwann damit aufhören, Urteile zu sammeln, und stattdessen anfangen, sie aufzugeben.
Sie fährt mit ihm in seiner schwarzen Limousine zur Arbeit. In der Eingangshalle seines Bürogebäudes, auf einem riesigen Tisch, steht ein Modell des Damms. Touristen drängen sich um die Plexiglaskuppel, Kamerablitze zucken.
Der sanfte, gleichförmige Bogen der Stützmauer ist etwa so groß wie Qi Lings Auto. Hier und da stehen kunstvolle Kräne auf ihm, drehen sich links, drehen sich rechts und heben und senken ihre Ausleger. Die Flussufer sind voll mit kleinen Baggern und Planierraupen, und eine winzige Lastwagenkolonne fährt über eine mechanische Spur. Kleine Büsche und Bäume sprenkeln die Hügel, überall leuchten Lampen und Lichtmasten. Wasser fließt durch Schleusentore, rinnt durch Überläufe und sammelt sich ruhig im Reservoir, alles wunderbar blau.
Willkommen, sagt eine Stimme von der Decke herunter, wieder und wieder. Willkommen.
♦ ♦ ♦
Er fährt sie durch einen Umsiedlungsdistrikt. Riesige neue Wohngebäude überspannen zentrale Plätze. Eines nach dem anderen zieht vorbei, weißer Beton, blaues Glas, Neon, Vogelmärkte, Fleischstände, brummende, wirbelnde Straßenkehrmaschinen und beschwingte Namen an den Kreuzungen: Strahlender Weg, Paradiesstraße. Bauplanen schlagen im Wind, Eimer hängen von Gerüsten. Alles ist mit Kohlenstaub überzogen.
«Der Distrikt hier», sagt Li Qing, «ist einer der schönsten. Die meisten Leute kommen aus den ersten zwanzig evakuierten Orten.»
Sie halten an einer Ampel. Links und rechts von ihnen rattern Motorräder. Dahinter kann sie das Wummern eines dumpfen Basses hören, das Klirren von Meißeln und Dröhnen eines Presslufthammers. Li Qing erzählt, wie aufregend es für einen Städtebauingenieur ist, ganze Viertel aus dem Nichts aufzubauen, ein taugliches Abwassersystem zu planen, breite Straßen, aber sie stellt fest, dass sie ihm nicht länger zuzuhören vermag. Frauen kommen auf Fahrrädern vorbei, die Alarmanlage eines Autos heult auf und verstummt, und aus den Auspuffen der wartenden Motorräder quellen Abgase. Die Ampel schaltet auf Grün, in tausend Fenstern färben Fernseher das Licht gleichzeitig blau.
Nach dem Abendessen möchte er wissen, was sie denkt: Sind ihr die hohen Fenster aufgefallen? Würde sie gern noch einmal hinfahren und sich eine Musterwohnung ansehen? Der dreijährige Li Qing taucht hinter ihren Lidern auf, rollt Tannenzapfen über den Boden und übt sich im Lügen. Der Wind hat die Samen verstreut. Ein Geist hat den Flecken auf die Decke gemacht.
Dann war er zwölf, band Tausendfüßler an Gasballons und sah zu, wie sie über die Felsen getragen wurden. Wie kann er vierundvierzig sein?
«Manche Leute denken, der Damm ist keine gute Idee», sagt er. «Sie rufen bei den Radiosendern an und organisieren sich. In einem Dorf haben sie damit gedroht, sich an die Dachsparren ihrer Häuser zu ketten und vom Wasser ertränken zu lassen.»
Worte steigen ihr in den Mund, doch sie stellt fest, dass sie damit keine Sätze zu formen vermag. Die ganze Stadt breitet sich unter Li Qings Fenster aus, ein Rätsel aus Dächern und Feuerleitern, ein Antennennebel. Der Wind legt sich ums Haus: Alles wiegt sich in ihm.
«Aber das sind nur ganz wenige», sagt Li Qing. «Fast alle anderen wollen den Damm. Die Überschwemmungen flussabwärts sind schrecklich, weißt du. Im letzten Sommer sind zweitausend Menschen ertrunken. Und wir können auch nicht immer weiter so viel Kohle verbrennen. Diskussionen sind gut. Sie sind gesund. Ich fördere sie.»
Selbstsucht, Entschädigungen und der Kelch der Ekstase. Ihr Sohn möchte mehr über seinen Vater erfahren: Was meint sie, hätte er von dem Damm gehalten? Aber alles schwankt, sie wird durch Stromschnellen gespült, ist zwischen den Wänden einer Schlucht gefangen. Kalkstein rast vorbei, weiß und brüchig.
♦ ♦ ♦
Im dreihundert Kilometer entfernten Dorf verlässt ein weiterer Nachbar sein Zuhause: Mutter, Vater, Sohn, Tochter. Ein ganzes Möbeldefilee. Ein Meerschweinchen, ein Kaninchen, ein Frettchen – ihre Käfige hängen an den Bambusstangen von Trägern, ihre schwarzen Augen blicken in fallenden Schnee, der Atem stößt in kleinen Wölkchen hervor.
Sie ist seit neun Tagen in der Stadt, als sie aufsteht, sich anzieht und ins andere Zimmer tritt, wo ihr Sohn auf seinem Polyestersofa eingerollt schläft. Seine Brille liegt neben ihm auf dem Boden, seine Nasenflügel zittern sanft mit jedem Atemzug und seine Augenlider sind groß und blau und mit einem feinen Adernnetz durchzogen.
Sie sagt seinen Namen.
Seine Lider öffnen sich flatternd.
«Wie kommt das Wasser, wenn es kommt?»
«Wie meinst du das?»
«Kommt es schnell? Steigt es wie eine Flut in die Höhe?»
«Es steigt langsam» – er blinzelt –, «es tritt über die Ufer und wird dann sehr ruhig. Die Stromschnellen verschwinden, tags darauf der Anleger. Achteinhalb Tage wird es dauern, bis es seinen Höchststand erreicht, denken wir.»
Sie schließt die Augen. Der Wind zischt durch das Geländer des Balkons. Das Zischen hat etwas Elektrisches.
«Du kehrst zurück», sagt er. «Du gehst.»
♦ ♦ ♦
Über Monate ist nichts gebaut worden. Zerbrochene Fenster nicht repariert worden, Felsbrocken groß wie Hunde auf die Straßen gefallen, und niemand schafft sie weg. Sie steigt die Treppe hinauf und schleicht durch den Weg mit den verfallenden Hütten zum Haus des Lehrers. Die Tür steht offen, eine Petroleumlampe hängt vom Balken herunter. Lehrer Ke, eine Decke auf dem Schoß, sitzt in ihrem Licht über einen Bogen Papier gebeugt und taucht einen Pinsel in ein Tintenfass. Sein Bart schwingt über dem Papier hin und her.
Er ist nicht festgenommen worden, niemand hat ihn umgebracht. Vielleicht war er nie wirklich weg, vielleicht war er nur im Nachbardorf und hat mao tai getrunken.
«Guten Abend, Lehrer!», ruft sie.
Ihr Haus ist unbehelligt. Ihre Samen sind, wo sie sie zurückgelassen hat. Sie zieht den Kohleeimer über den Boden und öffnet die Ofenklappe.
Es sind vielleicht noch hundert Dorfbewohner da, ein paar alte Fischer, einige Ehefrauen und eine Handvoll Reisbauern, die darauf warten, dass ihre Setzlinge groß genug sind, um umgepflanzt zu werden. Die Kinder sind weg. Der Dorfvorsteher ist weg. Exkremente liegen in den leeren Häusern. Dennoch fühlt sich die Samenhüterin am Morgen seltsam erleichtert, sogar euphorisch. Es fühlt sich richtig an, hier zu sein, in der Silberluft, in ihrem Garten zwischen den Resten von Schneematsch zu stehen und den Wind durch die Schlucht strömen zu hören.
Licht bricht durch die Wolken, lässt die Dächer glänzen und spritzt auf Straßen und Wege. Sie trägt einen Eintopf die Treppe hinauf, durch die verfallende Straße und lässt ihn dampfend auf den Stufen zum Haus des Lehrers stehen.
♦ ♦ ♦
Der Februar bringt Regen und den ersten Duft von Rapssamen. Wasser rinnt die Wände der Schlucht herunter, und im Tempel ist zwischen dem Donnergrollen der Gesang von Frauen zu hören. Das Dach ist undicht, das Regenwasser leckt durch große braune Flecken und tropft in überall aufgestellte Töpfe.
Es gibt kein Frühlingsfest, kein Ruderrennen auf dem Fluss, keine Feuerwerke hoch auf den Gipfeln. Eigentlich würde sie jetzt Reis aussäen, ein Samenkorn in jede Vertiefung ihrer Plastikkästen, dann Erde, dann Wasser. Stattdessen sät sie ihren Garten und den des Nachbarn ein, dann wirft sie Samen in die Gärten verlassener Häuser: Grünkohl, Steckrüben, Rettich, Lauch. Plötzlich ist sie wohlhabend, sie hat Samen für fünfzig Gärten. Abends kocht sie scharfe Nudeln, Tofu-Suppe, und stellt das Gekochte auf die Stufen des Lehrers, in Töpfen mit Deckeln, und nimmt die alten Töpfe wieder mit, leer, unbeholfen gesäubert.
Währenddessen verschwindet das Dorf. Die Bretter des Anlegers verschwinden. Die Baumumhüllungen verschwinden. Uhrenzeiger verschwinden, die Türen des Amtshauses, Antennenkabel und die Antennen selbst. Ganze Bambuswäldchen verschwinden, Magnolienbäume werden ausgegraben und in Schubkarren auf Lastkähne geschafft. Türangeln, Türgriffe, Schrauben und Muttern lösen sich in Luft auf. Auch noch das letzte Gramm Teakholz wird aus den Häusern geholt, in Decken gepackt und die Treppen hinuntergeschleppt.
Im März dreschen die paar übrig gebliebenen Bauern ihren Weizen. Wenn der Wind nachlässt, kann sie das Tschopp-tschopp-tschopp von Sensen hören. In jedem März ihres Lebens hat sie das gehört.
Sie kann sich an keinen farbenfroheren Frühling erinnern. Die Blumen scheinen aus dem Schlamm zu explodieren. Im April ist alles scharlachrot, lavendelblau und jadegrün. Hinter dem Amtshaus gedeihen die Zinnien mit einer tiefen, fast schon unnatürlichen Kraft, als sprudelten sie aus der Erde. Sie kniet eine halbe Stunde bei ihnen und studiert die glatten, kräftigen Stängel der jungen Pflanzen.
Bald schon sprießt so viel in ihrem Garten, dass sie damit anfangen muss, einiges auszureißen. Es ist, als wäre da jemand in der Erde und drückte das Gemüse mit seinen Fingern heraus. Ist der Frühling immer schon so gewesen? So überraschend und überwältigend? Vielleicht ist sie in diesem Jahr besonders empfänglich dafür. Bienen treiben mit ihren schweren Körben durch die Straßen, offenbar betrunken. Unter dem Ahorn zu stehen ist, als befände man sich in einem Samensturm.
Abends geht sie durch das Dorf und hat das Gefühl, als wäre die Dunkelheit ein großer, kühler See. Alles scheint sich darauf vorzubereiten, davonzutreiben. Die Dunkelheit, denkt sie, ist das, was bleibt.
Und die Stille. Ohne die Menschen und den Lärm der Erzfabrik ist es, als sei das Dorf zu einem Hort der Stille geworden, als wäre das Geräusch ihrer Schuhe auf den Stufen und das der Luft, die in ihre Lunge hinein- und wieder hinausströmt, das Einzige, was im Umkreis von Kilometern zu hören ist.
Der Postdienst wird eingestellt, sie hört nichts mehr von Li Qing. Jeden Moment könnte er in ihrer Tür auftauchen und verlangen, dass sie das Dorf mit ihm verlässt. Aber er kommt nicht. Abends gibt es nur noch drei, vier Lichter vor dem riesigen Hintergrund der Schlucht, des dunklen Himmels und des noch dunkleren Flusses, in dem sich schwach die Sterne spiegeln.
♦ ♦ ♦
Abends kommen die Glühwürmchen zu Tausenden die Treppen heraufgeschwebt, hängen in den Bäumen und senden ihre Lichtsignale aus, bis die ganze Schlucht aussieht, als wäre sie von grünen Lichterketten durchzogen. Die Samenhüterin bückt sich, um einen Topf Suppe gegen den leeren auszutauschen, der auf den Stufen des Lehrers steht, als sich die Tür öffnet.
«Beobachtest du die Käfer?», fragt er, klettert durch die Tür und setzt sich, den Stock auf die untere Stufe gestützt. Sie nickt.
«Ich dachte, du wärst weggegangen, im Winter.»
Sie zuckt mit den Schultern. «Alle gehen weg.»
«Aber du bist noch hier.»
«Sie auch.»
Er räuspert sich. In seinen Obstbäumen steigen die Glühwürmchen auf und blinken, steigen auf und blinken. «Mein Sohn …», sagt sie.
«Sprechen wir nicht von ihm.»
«Gut.»
«Sie umwerben die Weibchen», sagt er. «Die Käfer. In einigen großen Bäumen am Fluss habe ich Tausende gesehen, die alle im gleichen Rhythmus blinkten. An, aus. An, aus.»
Sie wendet sich zum Gehen.
«Bleib», sagt er. «Lass uns ein wenig reden.»
♦ ♦ ♦
Jeder Stein, jede Stufe gibt Anlass zu Erinnerungen. Hier haben die Söhne ihrer Nachbarn ihre Drachen fliegen lassen, dort hat der zahnlose Messerschleifer immer seinen hustenden, rauchenden Schleifstein aufgestellt. Hier hat vor vierzig Jahren ein beinloses Mädchen Nüsse in einem Kupferwok geröstet, und dort hat die Mutter der Samenhüterin ihre Tochter am Alten Festtag einst ein Glas Bier trinken lassen. Hier hat ihr der Fluss ein sauberes Hemd aus den Händen gerissen. Hier war einmal ein Feld mit einem Fell aus grünen Trieben. Hier hat ein Fischer seinen heißen, trockenen Mund auf ihren gelegt. Der Geruch der Träger, die weißen Vorderseiten der Gräber, die hübschen, prallen Waden von Li Qings Vater – das Dorf ertrinkt in Erinnerungen.
Wieder und wieder tragen die Füße der Samenhüterin sie die Treppen hinauf, am Park vorbei in die verfallende Straße, durch die Wogen der Glühwürmchen in den sauren Duft des Gartens des Lehrers. Sie bringt einen Topf heißes Wasser und einen Beutel Würfelzucker, der Lehrer setzt sich zu ihr auf die Stufen, sie trinken und beobachten die blinkenden, aufsteigenden Käfer, und es ist, als schwelte die Schlucht und als wären die Käfer vom Feuer auffliegende Funken.
Vor dem Bau des Amtshauses, vor Einrichtung des Postdienstes, vor der Fabrik war das hier ein Ort für Mönche, Krieger und Fischer. Immer für Fischer. Die Samenhüterin und der Lehrer sprechen von Präsidenten und Kaisern, von den Liedern der Fährtensucher, dem Tempel und den Vögeln. Meist lauscht sie der Stimme des alten Mannes in der Dunkelheit, und seine Sätze verselbständigen sich einer nach dem anderen, bis der gebrechliche Körper neben ihr verschwindet und da nur noch eine Stimme, die verblassende Vortragskunst eines Lehrers ist.
«Vielleicht», sagt er, «sieht ein Ort anders aus, wenn du weißt, dass du ihn zum letzten Mal siehst. Oder dass ihn niemand je wiedersehen wird. Vielleicht verändert ihn das.»
«Verändert den Ort oder die Art, wie wir ihn sehen?»
«Beides.»
Sie nippt an ihrem süßen Wasser. Er sagt: «Die Erde ist viereinhalb Milliarden Jahre alt. Weißt du, wie viel das ist?»
Einhundertdreizehn. Sechsundsechzig. Vierundvierzig. Hundert Milliarden Sonnen pro Galaxie, hundert Milliarden Galaxien im Universum. Lehrer Ke schreibt jeden Tag drei Briefe, jeweils mit hundert Worten. Er zeigt sie ihr, das weiße Papier, seine zittrigen Zeichen. Er schickt sie an Zeitungen, Regierungsvertreter, Ingenieure. Er zeigt ihr die Hunderte Seiten dicke Liste der Angestellten der Dammkommission. Sie denkt: Der Name meines Sohnes steht darauf.
«Was schreiben Sie in Ihren Briefen?»
«Dass der Damm ein Fehler ist. Dass sie Jahrhunderte von Geschichte versenken, Leben riskieren, mit falschen Zahlen arbeiten.»
«Und ändert es etwas?»
Er sieht sie an. In seinen feuchten Augen spiegeln sich die Glühwürmchen, die steil aufragenden, glänzenden Ruinen der Felsen. «Was glaubst du?»
♦ ♦ ♦
Alles nimmt eine schreckliche Schönheit an. Die Morgendämmerungen sind lang und rosa, die Abenddämmerung dauert eine Stunde. Schwalben flitzen am Himmel entlang, schwenken links, rechts, tauchen weg, und der Streifen Licht über den Wänden der Schlucht ist purpurn und weich wie Fleisch. Die Glühwürmchen schweben höher vor den Felsen, ein grüner Schaum. Es ist, als wüssten sie es, als spürten sie das Wasser kommen.
Versucht Li Qing, sie zu erreichen? Rast er gerade mit einem Tragflächenboot den Fluss herauf, um sie zu holen?
Lehrer Ke bittet sie, seine Briefe nach unten zum Kai zu bringen und zu sehen, ob vorbeifahrende Boote sie mit in ein anderes Dorf nehmen und dort aufgeben können. Die Fischer sagen fast immer Nein. Sie sehen die zittrige Schrift auf den Umschlägen und spüren, dass sie gefährlich sind. Bei den hohläugigen Aasgeiern, die auf maroden Barkassen den Fluss heraufkommen, um Metalle und Pflastersteine zu sammeln, hat sie mehr Glück. Sie besticht sie mit einem alten Kleid, einer Kanne Petroleum oder einer Papiertüte voller Auberginen. Vielleicht geben sie die Briefe auf, vielleicht werfen sie sie aber auch hinter der nächsten Biegung in die Stromschnellen.
Mittlerweile sind alle unzerbrochenen Steinplatten verschwunden, und Sonnenblumen sprießen auf den Wegen. Ihre improvisierten Gärten auf den Grundstücken der Nachbarn wuchern wild und sind voller Bienen. «Es gibt Stunden», sagt der Lehrer, «in denen ich daran denke, wie sich die Schuhputzerjungen über mich lustig gemacht haben, an die im Regen dampfenden Müllhaufen und die Verbrennungen an meinen Händen von dem alten Ofen, und dann kann ich es nicht erwarten, alles im Wasser versinken zu sehen.»
Die lange Treppe, ein Absatz nach dem anderen, die Vorderseiten der Stufen in Licht gefasst. Kein Meißeln, kein Bellen, kein Motorenlärm. Nur der Himmel, das Licht fällt wie feiner Regen zwischen die Häuser, und ihre Schritte hallen durch die Gassen.
Sie steht in ihrem Haus und starrt in die Öffnungen all der Behältnisse, sieht die kleinen Lichtdiamanten auf den glatten, wie poliert wirkenden Samen, ihre perfekte Form, ihre Winterträume.
Sie linst am Lehrer vorbei in seine kleine Hütte, sieht die Papierstapel überall, die Bücher, seine verrußte Laterne und die Käferhülsen in den Ecken.
Sie sagt: «Sie werden mit dem Dorf ertrinken.»
«Du bist diejenige», antwortet er, «um die wir uns Sorgen machen sollten.»
♦ ♦ ♦
Zwei Abende vor dem Ende des Juli steht der Lehrer in ihrer Tür. Er trägt einen Anzug, seine Schuhe sind geputzt, und sein Bart ist gekämmt. Seine Augen glänzen. Über der Schulter trägt er einen Rucksack, in einer Hand hält er seinen Stock, in der anderen eine große Plastiktasche.
«Sieh.» Drinnen sind Hunderte, vielleicht Tausende Glühwürmchen. «Honig und Wasser, davon können sie nicht genug bekommen.»
Sie lächelt. Er packt seinen Rucksack aus: eine Flasche Mao Tai und ein Bündel von etwa dreißig Briefen.
«Zwei Gläser», sagt er, schleppt sich auf seinen steifen Beinen zu ihrem Stuhl, setzt sich und befreit die Flasche von ihrem Korken. Sie prosten sich zu.
«Auf die letzte Postsendung.»
«Auf die letzte Postsendung.»
Er erklärt, was er braucht, und sie leert jede Flasche, die sie hat, in Eimer und Schalen. Der Lehrer schnitzt mit seinem Taschenmesser Korken, rollt Briefe in die Flaschen, und mit einem Papiertrichter schüttelt sie Glühwürmchen mit hinein. Die Insekten fliegen davon und verstopfen die Flaschenhälse, aber sie bekommen etwa dreißig in jede Flasche.
Die verkorkten Flaschen packen sie in einen Korb. Innen am Glas kriechen die Glühwürmchen. Das Licht der Laterne flackert, Schatten schlagen über die Wände. Sie fühlt, wie der Schnaps in ihrem Magen und an den Innenseiten ihrer Arme entlang brennt.
«Gut», sagt Lehrer Ke, «gut, gut, gut.» Seine Stimme ist ein Flüstern, das zischende Kratzen einer Nadel auf einer alten Grammofonplatte.
Als sie die Laterne löscht, glimmen die Flaschen leicht. Sie hievt sich den Korb auf die Schulter und trägt ihn die Treppen hinunter. Der Lehrer humpelt neben ihr her und stützt sich auf seinen Stock.
Die Luft ist warm und feucht, der Himmel ein Streifen dunkelblauer Tinte zwischen den schwarzen Felswänden. Im Korb auf ihrer Schulter summt es leise. Sie kommen zu den Resten des Anlegers, etwa fünfzehn in den Flussgrund getriebenen Pfählen, und sie stellt den Korb ab und betrachtet ihn.
«Sie werden nicht genug Luft haben», sagt sie und spürt die Wirkung des Schnapses. Lehrer Ke atmet heftig, ebenfalls schon halb betrunken. Alles ist still, bis auf den Fluss.
«Gut», sagt er. «Geben wir sie hinein.»
Sie watet hinaus ins kalte Wasser. Kiesel rollen unter ihren Schuhen. Die Strömung teilt sich um ihre Knie. Der Lehrer ist eine zitternde Last an ihrem Ellbogen. Den Korb zieht sie neben sich her durchs Wasser. Die Flaschen blinken und blinken. Am Ende stehen beide, die Samenhüterin und der Lehrer, bis zur Taille im Wasser.
Vielleicht wird der Fluss bereits langsamer, staut sich und steigt. Vielleicht strömen Geister aus der Erde, aus den Gräbern die Schluchten hinauf und hinunter, aus den Zweigspitzen am Ende von Ästen. Die Glühwürmchen klopfen gegen das Glas. Trauriger als alles, denkt sie, wird es mich machen zu sehen, wie das Wasser seine Geschwindigkeit verliert.
Sie gibt ihm die erste Flasche, er setzt sie in den Fluss, und sie sehen zu, wie das Wasser sie davonträgt, ein grünblau blinzelndes Licht im Strom, das sich leicht zur Seite dreht, als es schneller wird.
Zwanzigtausend Tage und Nächte an einem Ort, einer auf dem anderen, gestapelt, gefaltet, gefangen, die Falten in ihren Händen, die Schmerzen zwischen ihren Wirbeln. Embryo, Samenmantel, Nährgewebe: Was ist ein Same, wenn nicht die reinste Form der Erinnerung, die Verbindung zu den Generationen, die ihm vorausgegangen sind?
Die Flasche verschwindet. Sie gibt ihm die nächste. Als er sich ihr zuwendet, sieht sie, dass er weint.
Alles hat sie darauf vorbereitet, dass diese Sache schlecht ausgehen wird. Li Qing mit seinen Zigaretten, der Lehrer mit seinen Fragen. Unsere Seite, ihre Seite. Aber vielleicht, denkt sie, ist es weder gut noch schlecht. Alle menschlichen Erinnerungen werden am Ende im Wasser versinken. Der Fortschritt ist ein Sturm, und alle Flügel werden von ihm mitgerissen.
Sie beugt sich vor und wischt dem Lehrer mit dem Daumen über die Augen. Die zweite Flasche treibt davon.
Lehrer Ke reibt sich den Unterarm über die Nase. «All dieser Ärger», sagt er, «und trotzdem, fühlt es sich nicht gut an? Sorgt er nicht dafür, dass du dich jung fühlst?»
Der Fluss murmelt gegen ihre Körper, und die Flaschen verlassen den Korb eine nach der anderen. Der alte Mann nimmt sich Zeit. Die Flaschen leuchten und blinken in der Strömung, treiben um die Biegung und sind verschwunden. Sie lauscht dem Wasser, der alte Mann schickt seine Briefe den Fluss hinunter. Sie stehen im Wasser, bis sie nicht mehr sagen können, wo ihre Beine aufhören und wo der Fluss beginnt.
♦ ♦ ♦
Am letzten Tag kommen fünf oder sechs kräftige, gleichmütige Soldaten mit Kettensägen, um die Bäume zu fällen. Sie zerlegen sie in meterlange Stücke, laden sie auf Handkarren und poltern damit die Reste der Treppen hinunter, vorbei am aufgebrochenen Pflaster, den Sonnenblumen und den Gärten der Samenhüterin auf den Grundstücken ihrer Nachbarn. Sie holen die Eichen, die Gingkos und die drei alten Ahorne aus dem Garten hinter dem Amtshaus. Die Löwen lassen sie zurück.
Den ganzen Tag über sieht sie den Lehrer nicht und hofft, dass er bereits weg ist, flussaufwärts über einen alten Pfad oder im Kanu eines vorbeifahrenden Fischers, den Blick auf die vorbeiziehenden Felswände der Schlucht gerichtet. Vielleicht ist sie die Letzte im Dorf, vielleicht ist sie die Letzte am Fluss.
Am Nachmittag durchstreifen drei Polizisten das Dorf, leuchten in Zimmer und heben mit den Fußspitzen weggeworfene Sperrholzstücke an, aber es ist leicht, sich vor ihnen zu verstecken. Nach einer Stunde hat ihr Tragflächenboot wieder abgelegt, und sie fahren dröhnend auf den nächsten Ort zu.
Sie breitet eine Decke über den Tisch und leert Samenbehälter darauf aus. Senfknolle, Pak Choi, Kohl, Aubergine, Blumenkohl. Hirse, Kastanie, Radieschen. Die Stimme ihrer Mutter: Samen sind die Träume der Pflanzen, wenn sie schlafen. Samen groß wie Münzen, Samen leicht wie ein Atemzug. Alles kommt auf die Decke. Als alles leer ist, verknotet sie die Ecken der Decke zu einem Bündel.
In ihren Armen ist es vielleicht so schwer wie ein Kind. Die Sonne rollt hinter die Schlucht. Mittlerweile ist die Umleitung geschlossen, und das Wasser sammelt sich hinter dem Damm.
Eine Wollmütze. Eine Jacke. Das Geschirr lässt sie im Schrank.
Sie geht die Stufen ein letztes Mal hinab, hinaus auf die Brücke der schönen Blicke und setzt sich auf das Geländer. Die Hitze des Tages dringt aus dem Stein in ihre Schenkel. Alles strahlt.
Vögel landen auf dem Dach des Amtshauses. Den Fluss herauf dringt das leise Brummen eines Motorboots. Als es um die Biegung kommt, dreht sie sich um. Hinter der Scheibe steht ein Fahrer und daneben Li Qing. Er winkt ihr zu und trägt seine lächerliche Brille.
♦ ♦ ♦
Sie wohnt in einem Gebäude, so lang wie ein ganzer Block, mit dem Namen Neuer Einwanderer 606. Ihre Wohnung hat drei Zimmer, jedes mit einer Tür und einem einfach verglasten Fenster. Die Wände sind weiß und leer. Eine Rechnung bekommt sie nie.
Sonntags kommt Li Qing, sitzt ein paar Stunden bei ihr und trinkt Bier. In letzter Zeit bringt er Penny Ou mit, eine geschiedene Frau mit einer sanften Stimme und drei Muttermalen neben der Nase. Manchmal ist ihr Sohn dabei, ein rundgesichtiger Neunjähriger namens Jie. Sie essen Eintopf oder Nudeln mit Bohnensprossen und reden über nichts.
Jie schwingt die Beine unter dem Tisch vor und zurück, auf der Anrichte murmelt ein Radio. Hinterher trägt Penny das Geschirr zur Spüle, wäscht ab, trocknet ab und stellt alles wieder zurück in den Schrank.
Die Tage scheinen aus Zwielicht gemacht, materielos wie Schatten. Wenn ihr Erinnerungen kommen, sind sie oft zähflüssig und schwach, gefangen zwischen fernen Oberflächen oder in neurofibrilläre Bündel verwoben. Sie steht über einer vollen Badewanne, kann sich aber nicht erinnern, sie eingelassen zu haben. Sie geht den Wasserkessel füllen, doch er dampft schon.
Ihre Samen liegen modernd, aufplatzend oder längst vertrocknet in einer massenangefertigten Sperrholzkommode, die bereits in der Wohnung stand. Gelegentlich starrt sie die Kommode an, ihre unlackierte Front, die acht glänzenden Griffe, und ein Gefühl nagt ganz hinten in ihrem Bewusstsein, ein Gefühl, als hätte sie etwas verlegt, könnte aber nicht mehr sagen, was es ist.
Ihre Mutter sagte immer, Samen seien die Verbindungsstücke einer Kette, kein Anfang und kein Ende, aber sie hatte unrecht: Samen sind gleichzeitig Anfang und Ende, sie sind die Eierschalen und der Sarg einer Pflanze. Obstgärten hocken unsichtbar in beidem. Für ein Schulprojekt bringt Jie sechs Styroporbecher mit Torf. Die Samenhüterin bietet ihm sechs Magnoliensamen an, jeder hell wie ein Tropfen Blut.
Der Junge sticht mit dem Finger ein Loch in jeden Becher Erde und lässt die Samen wie winzige Bomben hineinfallen. Sie stellen die Becher auf ihre Fensterbank. Wasser. Erde. Licht. «Jetzt warten wir», sagt sie.
Wir fahren nur um die Welt, um zurückzukommen. Eine Samenhülse platzt, eine winzige Wurzel drängt heraus. In den Nachrichten dementiert ein Regierungssprecher Berichte über Risse in den Schiffsschleusen des Dammes. Li Qing ruft an: Er ist diese Woche unterwegs, es gibt so viel zu tun. Penny Ou wird versuchen, sie zu besuchen.
Die Samenhüterin geht zum Fenster. Auf dem Platz unten treiben Menschenwogen in hundert Richtungen, Fahrradfahrer, Pendler, Bettler, Müllmänner, Käufer, Polizisten. Lehrer Ke wäre jetzt sogar noch älter. Es wäre kaum möglich, dass er noch lebte. Und doch: Was, wenn er einer von den Menschen dort unten ist, in einem der Autos sitzt, über einen der Bürgersteige geht, ein Kopf auf Schultern, mit winzig kleinen Schuhen?
Hinter dem Platz zittern Zehntausende Lichter im Wind, von Flugzeugen, Geschäften und Anzeigetafeln, Richtungslichter und Lichter in Fenstern, Warnlichter auf Antennen. Über alldem zeigt sich kurz eine Handvoll Sterne, trübe, kaum sichtbar zwischen den Wolken blitzen sie blau, rot und weiß. Und sind verschwunden.