Wenn wir die Kunst des Āyurveda untersuchen, erkunden wir die verborgenen Geheimnisse des Lebens. Jeder von uns führt ein kollektives und ein individuelles Leben. Wir haben einen kollektiven Geist und einen individuellen Geist. Ebenso haben wir kollektives Leiden und individuelles Leiden. Dies ist ein sehr altes Konzept, das von den yogischen Gelehrten in Indien offenbart wurde, lange ehe Quantenphysik gelehrt wurde. Diese Rishis waren hochgradig verwirklichte Seelen, aber sie haben nie ihre Namen hinter ihre Entdeckungen gesetzt, denn sie erklärten, dass dieses Wissen sich aus dem kosmischen Bewusstsein entfaltet hat.
Der kollektive Zustand des Bewusstseins heißt Samashti, das individuelle Bewusstsein Vyashti. Vyashti ist ein Teil von Samashti. Wir sind uns jedoch nicht darüber im Klaren, dass wir alle eins sind. Wir sind die Welt und die Welt ist wir. Wir leiden individuell, weil wir uns vom kollektiven Bewusstsein getrennt fühlen, das die Quelle unseres Seins ist. Ihre Furcht ist die Furcht der ganzen Menschheit, Ihr Ärger ist der Ärger der gesamten Menschheit, Ihre Frustration die Frustration aller Leute. Wenn Sie leiden, teilen Sie das Leiden vom Rest der Menschheit und aus diesem geteilten Leiden entsteht Mitgefühl. Diese Erkenntnis kann Heilung bringen, doch wir denken nie so. Das Āyurveda erklärt, dass man die Beziehung zwischen Vyashti und Samashti verstehen muss, um ein Heiler zu werden.
Genau genommen kommt Leiden von innen. Wir müssen selbstreflektieren (vichāra) und fragen: „Wer ist das Selbst?“ und „Wem geschieht dieses Leiden?“ Leiden gehört zu Körper und Geist, dennoch bin ich weit jenseits von Körper und Geist. Ich bin das reine, bezeugende Bewusstsein. Halten Sie sich daran. Bleiben Sie dabei und Sie gehen über das Leiden hinaus. Dieser Vorgang der Befragung ist selbstheilend und heißt Ātma Chikitsā. Selbstheilung ist nur möglich, wenn der Einzelne die Realität deutlich wahrnimmt, ohne die Störung dessen, was sein „sollte“.
Um sich selbst zu heilen, bedarf man eines umfassenden Bewusstseins der äußeren und inneren Wirklichkeit. Ihr Bewusstsein hat eine enorme Heilkraft. Bewusstsein wird zu Wahrnehmung, dann zu Empfindung und dann erzeugt der Geist Gefühle aus diesen Empfindungen. Das ist der Punkt, an dem wir leiden. Wenn der individuelle Geist die Wahrnehmungen einfach nur aufnimmt, ohne Gefühle und Emotionen zu erzeugen, gelangt Klarheit in diesen Geist und daraus entstehen Mitgefühl und Liebe. Liebe ist der wichtigste Heilfaktor im Leben. Es mangelt uns an dieser Klarheit und Liebe, deswegen leiden wir. Ehe man versucht, einem Patienten zu helfen, muss man als Heiler diese Klarheit, dieses Mitgefühl und diese göttliche Liebe besitzen.
Kollektives Bewusstsein und individuelles Bewusstsein sind ein und dasselbe. Es gibt Gewalt in dieser Welt, weil es in jedem Individuum Gewalt gibt. Es besteht viel Spaltung, Verwirrung und Konflikt, weil fast jeder Mensch Verwirrung und Konflikt in sich trägt. In unserem täglichen Leben gibt es eine Separierung zwischen dem Beobachter und dem Beobachteten. Diese Trennung ist einer der Faktoren, der zu Konflikt führt.
Falls wir nicht klar in unserem Denken sind, können wir nicht die rechte Einsicht gewinnen und zu perfekten Heilern werden. Dies erfordert ein hohes Maß an Bewusstsein und Klarheit in der Wahrnehmung. Im Āyurveda gilt, ein Heiler zu werden, ist die größte Tugend. Ein wahrer Arzt kennt Körper, Geist, Gedanken, Gefühle und Bewusstsein des Patienten. Nur wenn man mit dem Licht aus Bewusstsein, Wissen, Mitgefühl und Einsicht in das Herz seines Klienten blickt, wird man imstande sein, sein Problem zu diagnostizieren und den Betreffenden entsprechend zu heilen.
Jnāna buddhi pradīpena yo nāvishati tattvavit
Āturasyāntarātmānam na sah rogānsh chikitsati
Einer, der ein Kenner der Wirklichkeit ist und mithilfe der Lampe aus Wissen und Intelligenz nicht ins innere Selbst des Patienten eindringt, kann Krankheiten nicht erfolgreich behandeln.
Charaka Samhitā, Vimānasthānam, Kapitel 4, Vers 12
„Erst wenn ein Arzt ins Herz eines Patienten mit der Flamme des Lichts über eine Krankheit (d. h. das Wissen der āyurvedischen Prinzipien) eindringt, ist er oder sie imstande, die Krankheit zu behandeln“.
~Vasant Lad