6

Indian Summer mit Laubbläsern

Laubbläser am Morgen bringt Kummer und Sorgen, dachte Frieda anderntags und betrachtete etwas unglücklich das Warensortiment der Firma Stuhmpf.

Wenn man den Ausführungen des Salesmanagers glauben durfte, handelte es sich um Geräte in Profiqualität, genau wie bei den Elektrosägen, Rasenmähern, Akkuschraubern und Baumschneidern, die Frieda für einen Katalog ins rechte Licht rücken sollte. Seine Augen leuchteten, während er ihr stapelweise Abbildungen von seinen Waren vorlegte und deren Eigenschaften aufzählte. Extrem leistungsstark, kompakt, unbegrenzt aufladbar. Für harte Einsätze geeignet.

Frieda fühlte sich dieser Welt unterlegen.

Außerdem sahen die Sachen alle gleich aus. Und sie trugen Bezeichnungen wie 8732-1X. Mit Sorge betrachtete Frieda, wie der Stapel Bilder vor ihr wuchs und wuchs. Irgendwann gab sie das Mitschreiben auf. Sie würde schon irgendwie klarkommen. Aber was für eine Fitzelei, bis sie das alles auseinandersortiert und auf den Katalogseiten verteilt hätte! Frieda hoffte inständig, dass der extrastarke Schwarztee noch seine Wirkung entfalten würde, aus dem ihr Frühstück bestanden hatte. Mehr hatte sie um die Uhrzeit nicht runtergebracht. Sie schaute zu der großen Digitalanzeige über der Tür. Kaum acht. Handwerker standen wirklich früh auf.

Frieda bemühte sich, mit einigermaßen interessiertem Gesichtsausdruck allem zu folgen, was der Verkaufsleiter ihr zu sagen hatte. Er wirkte wie die Männer auf seinen Prospektfotos: quadratisch, praktisch, gut. Gleich nach der Begrüßung hatte er das Jackett abgelegt und die Ärmel aufgekrempelt. Sicher besaß er eine beneidenswert unkomplizierte, positive Lebenseinstellung. »Kein Problem« war sein Standardsatz. Und er wusste genau, was er wollte.

Frieda dagegen gingen gerade jede Menge Probleme im Kopf herum. Warum mussten Gewerbegebäude immer so hässlich sein? Wieso servierten sie hier nur Kaffee, der noch dazu grässlich schmeckte? Wozu brauchte die Welt Vertikutierer? Und wieso in aller Welt nur tat sie sich das an?

Nun, sie war alt und brauchte das Geld, ganz einfach. Also nickte sie tapfer zu allen Ausführungen. Wie ein Wackeldackel auf der Autoablage, dachte sie und skizzierte heimlich zwischen ihre Notizen eine Frieda mit einem an einem Häkchen aufgehängten Kopf und heraushängender Zunge. Als Nächstes zeichnete sie sich eine Motorsäge in die Hand. Mit großen Zähnen. Und drumherum unternehmungslustige Lärmlinien. Brumm, brumm. Was könnte sie denn als Erstes zerlegen?

»Stimmen Sie mir da zu?«, fragte Patrik Igel.

Frieda zuckte zusammen. Schnell schob sie das entstehende Bild unter ihre Mappe. »Kein Problem«, sagte sie. Sie hatte schon nach den ersten fünf Minuten beschlossen, dass es sinnlos wäre, hier eigene Vorschläge zu machen. Keine Einwände, keine Differenzierungen, keine kreativen Volten. Gott, würde die Arbeit langweilig werden. »Wir halten also das Layout sauber und sachlich.«

Sie überlegte gerade, ob sie es wagen sollte, statt der eintönigen weißen Hintergründe hellgrüne vorzuschlagen. Angesichts des letztjährigen Katalogs wäre das vermutlich eine Revolution. Sie wollte es gerade ansprechen, damit wenigstens irgendwas passierte, als ihr Mobiltelefon vibrierte. Unauffällig warf sie unter dem Tisch einen Blick auf die eingegangene Nachricht.

»Vier Smileys, ein Eisbrecher und eine Gesprächsanfrage«, lautete die kryptische Botschaft. Sie stammte von Yvonne. »Nicht schlecht für den Anfang, oder?«

Was sollte das heißen? Frieda runzelte die Stirn. Dass gleich am ersten Tag auf der Dating-Plattform sechs Männer Kontakt mit ihrer Freundin aufgenommen hatten? Der arme Bernd, war Friedas erster Gedanke. Sie liebte ihren Freund heiß und innig, aber er war irgendwie nicht der Typ, der mit sechs anderen konkurrieren konnte. Er war der eine oder keiner. Schade drum. Vielleicht wenn der Boom erst mal abgeflaut war? Denn abflauen musste er ja wohl.

Prompt kam eine Aktualisierung. »Sechs Smileys!« Armer Bernd. Und überhaupt: sechs Smileys, sechs? Yvonne konnte doch nicht mehr als ein paar Stunden online sein! Hatte sie etwa die ganze Nacht dort verbracht?

»Alles in Ordnung?«, fragte Patrik Igel.

»O ja«, erwiderte Frieda. »Ich finde das Thema Rasenkantenschneider sehr, äh, anregend.«

Sie versuchte, sich wieder zu konzentrieren. Aber irgendwie war ihre ohnehin schwache Konzentration jetzt endgültig dahin. Dafür konnte sie sich bei Yvonne bedanken.

Sie warf Patrik Igel einen Seitenblick zu. Unter dem Anzug war er sportlich gebaut für sein Alter, viel Fleisch, aber selbst der Bauch wirkte straff. Er hatte sich ein nur leicht verblühtes Gutaussehen bewahrt, mit vollem Silberhaar und auffallend wasserblauen Augen. Dazu eine leichte Neigung zum Bluthochdruck. Er würde bestimmt keine Sekunde zögern, einen tropfenden Wasserhahn zu reparieren, anschließend ein Bier nicht ausschlagen und grundvernünftige Ansichten äußern, während er es trank. Nach dem zweiten Bier würden seine Wangen sich röten, und er würde sie vielleicht ein wenig genauer betrachten. Möglicherweise besaß er sogar ein gutes Herz.

»Weiß also«, wiederholte sie mit etwas weicherer Stimme. »Schönes, reines Weiß für die Hintergründe.« Auf Grün, tröstete sie sich, konnte sie immer noch den Heraussteller setzen, einen pro Seite. Und rote Balken für die Sonderangebote. Rot und Grün waren Komplementärfarben, die immer etwas zueinander – hinzog.

»Dann kommen wir jetzt zu den Kärchern«, sagte Patrik Igel. Er holte weitere Fotos hervor. »Da ergibt sich folgendes Problem.«

Wann, überlegte Frieda, war sie zum letzten Mal im wirklichen Leben von einem fremden Mann einfach so angesprochen worden? Das war in dieser neu eröffneten Cafébar gewesen. Sie hatte an der Theke gestanden und darauf gewartet, dass ihr Iced Chai fertig wurde. Ihr Blick war nach draußen geschweift, wo die Alleebäume rot und gelb leuchteten. Und plötzlich hatte der Mann hinter ihr in der Schlange leise gesagt: »Indian Summer.«

»Interessant, dass Sie das sagen«, hatte sie gemeint. »Ich habe mich nämlich immer gefragt, was dieser Ausdruck bedeutet: Indian Summer?« Der Fremde hatte sich geräuspert und erwidert, dass er das nicht wisse, und dann für den Rest der Wartezeit ungut geschwiegen. Frieda erinnerte sich noch so genau an den Vorfall, weil Yvonne sie dafür gescholten hatte, als sie davon erzählte. »Du hast ihn verschreckt. Der Typ wollte flirten, keine etymologischen Debatten führen. O Mann, Frieda.«

»Was hätte ich denn sonst sagen sollen?«, hatte Frieda sich verteidigt. »Es hat mich eben interessiert.«

»Ja«, hatte Yvonne geblafft. »Du hättest einfach ›Ja‹ sagen sollen. Oder: ›Ach ja, wie interessant.‹ Du solltest überhaupt viel öfter Ja sagen, weißt du? Es kann so einfach sein.« Ob Yvonne Ja sagte zu diesen »Herzmatch«-Männern?

»Frau Fuchs?«

»Ja?«, sagte Frieda. »Ja, kein Problem.«

»Wir haben markiert, welche Geräte wir mit einem Anwender fotografiert haben möchten.« Der Salesmanager fuhr in seinem Vortrag fort. »Sehen Sie? Hier.«

»Ich dachte, das wäre das Zeichen dafür, dass das Angebot nur im Onlinekatalog stehen soll?« Ich sollte mich jetzt wirklich auf diese Sache hier konzentrieren, dachte Frieda, während sie nach einer ihrer Locken griff und begann, sie sich um den Finger zu wickeln. Sie unterließ die Geste, als sie ihr bewusst wurde, und setzte sich aufrecht hin.

»Nein, das sind die mit dem roten Kreuz, sehen Sie?« Patrik Igel legte seinen rechten Zeigefinger auf die entsprechende Stelle. Er trug, wie sie bemerkte, keinen Ring. »Die grünen Kreise bedeuten: Da kommt ein Foto mit Anwendungssituation hin. Und wenn blaue Rauten dabei sind, lassen Sie Platz für ein Testimonial.«

»Aha. Und was bedeuten die gelben Rahmen hier?«

»Das sind die Artikel, die in die spanische Ausgabe kommen.«

»Es gibt auch eine spanische Ausgabe?«, rief Frieda entsetzt.

»Eine spanische, eine finnische und eine tschechische«, erklärte Patrik Igel stolz. »Wir sind international aufgestellt.«

Na wunderbar. Die Sache begann, sie zu überfordern. Das Mobiltelefon vibrierte erneut.

Siehe da, Yvonne hatte mit einem der Kandidaten gechattet und sich prompt verabredet. Wie viele Männer waren das jetzt, acht? Frieda selbst war in ihrem ganzen Leben gerade mal mit sechs Männern intim gewesen. Ein ganzes Leben, überrollt an einem einzigen Tag!

»Sie schaffen das schon«, sagte Patrik Igel.

Unglücklich starrte Frieda auf die Bilder. Sie würde Stunde um Stunde am Computer sitzen, um briefmarkengroße Fotos zu sortieren, Stunde um Stunde, in denen sie verwelkte, alt und kurzsichtig wurde und keine Chance hatte, irgendjemanden kennenzulernen.

»Die lilafarbenen Markierungen können sie vorläufig ignorieren«, sagte Patrik Igel tröstend. »Da warten wir noch auf Rückmeldung vom Vertrieb. Litauen ist ein etwas schwieriger Markt.«

»Ich verstehe.« Frieda schluckte. Ihr Blick fiel auf das Frieda-Figürchen mit der fröhlichen Kettensäge. Sie nahm den Stift und skribbelte ihr in die andere Hand eine Fahne. Darauf schrieb sie: Litauen.

Schwierig zu vermarkten? Was konnte sie tun?

Sie räusperte sich. »Was halten Sie davon«, fragte sie, »wenn wir die verschiedenen Sortimente durch atmosphärisch gestaltete Auftaktseiten voneinander trennen? Da zögen wir dann jeweils ein schönes großes Farbfoto dahinter.«

Patrik Igel lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »Hm«, sagte er schließlich. »Was schwebt Ihnen vor?«

Was schwebte ihr, was schwebte ihr vor? Sie tastete im Durcheinander ihres Gehirns nach einer Idee. »Für die Laubbläser zum Beispiel … prachtvoll verfärbte Laubbäume in einem Park. Indian Summer.« Sie hielt inne. Wo war das denn nur hergekommen?

Patrik Igel wiegte den Kopf. »Und für die Rasenmäher?«

Frieda versuchte, sich die Panik nicht anmerken zu lassen. »Für die Rasenmäher ein idyllisches Gartenbild mit Blumenwiese. Oder vielleicht eine Laube.« Frieda glaubte, ein wenig durchatmen zu können.

»Und für die Sägen?« Der Salesmanager ließ nicht locker.

»Holz vor der Hütte?«, bot Frieda mit letzter Kraft an. »Einen wild bewaldeten Berghang?« O Gott. Am liebsten hätte sie sich irgendwo versteckt.

Patrik Igel klopfte mit den Fingerknöcheln auf den Tisch. »Das ist es. Berghang mit Wald. Was für die Förster. Genial. Ich wusste, Sie sind die Richtige für den Job.« Sein Blick schien sie zum ersten Mal, seit sie im Raum war, richtig wahrzunehmen.

Frieda schaffte es, ein unverbindliches Lächeln aufzusetzen. Sie spürte ihr Telefon vibrieren. Vermutlich war Yvonne beim nächsten Date angekommen. Aber auch sie hatte hier ein Smiley zu verzeichnen. Einen Eisbrecher geradezu, wenn sie so sah, wie Patrik Igel plötzlich an seinem Hemdkragen herumruckte. Das hatte sie jetzt davon.

»Ich denke, jetzt ist alles klar«, sagte Frieda und stand auf.

Er erhob sich ebenfalls. »Hätten Sie vielleicht Lust, in unserer Kantine noch einen Kaffee zu trinken?«

Sie bräuchte nur noch ein letztes Mal Ja zu sagen: Ja klar, kein Problem. Für einen Moment war Frieda sogar ein klein wenig in Versuchung. Sie stellte sich Patrik Igel und sich selbst vor, erst in der Kantine, danach in einer gemütlichen Pizzeria, mit einer Laubbläserkapelle, die nur für sie spielte.

Sie beugte sich vor, um die ganzen Fotos zusammenzuschieben und in ihre Mappe zu packen. »Ich mache mich besser sofort an die Arbeit.« Seinen Blick vermeidend, fügte sie hinzu: »Es ist ja eine Menge Holz.«

»Vielleicht ein andermal.« Patrik Igel räusperte sich.

»Ein andermal«, sagte Frieda. »Warum nicht?«

»Ich hab ja Ihre Nummer«, sagte er.

Während sie nach Hause fuhr, überlegte Frieda, dass Patrik Igel nicht nur ihre Telefonnummer hatte, sondern auch ihre Anschrift, ihr Bankkonto und ihre Steuernummer. Was sollte sie tun, wenn er sich wirklich meldete?