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Das Beste an ihm

»Hallo«, sagte Frieda. Sie hatte Michael Autenrieth schon von Weitem erkannt. Seine Schiebermütze saß heute etwas höher, und den Dufflecoat hatte er gegen einen Trench eingetauscht. Aber die Lachfalten um die Augen, die sie beim Näherkommen wiederentdeckte, waren noch dieselben.

»Da ist sie ja. Frieda Fuchs.« Er hatte ihr die Hand gegeben und ihre einen Moment in seiner gehalten. »Die einzige Grafikerin in der Stadt mit diesem Vornamen, sagt das Internet. Zu meinem Glück.«

»Ich freue mich, dass sie gesucht haben.«

»Und ich bin froh, dass sie Ihre Telefonnummer auf Ihre Homepage gesetzt haben. Da ich Ihren Nachnamen jetzt kenne: Wollen wir Du sagen? Ich bin Michael.«

»Frieda«, sagte Frieda. Sie standen einen Moment lang unbeholfen da, ein Sektglas zum Anstoßen und als Anlass für ein Küsschen fehlte. Schließlich umarmten sie einander doch. Frieda schloss die Augen für den isolierten Moment, in dem sie ihm nahe war. Es entstand kein Funkenflug, aber umso besser, sagte sie sich. Es war Zeit, dass sie die Eriks dieser Welt aus dem Kopf bekam. Er roch angenehm, seine Haut strich weich über ihre Wange. Dann traten sie beide zurück.

»Also.« Michael Autenrieth schaute sich um. »Ein Flohmarkt. Das ist ja … lebhaft.«

»O ja«, sagte Frieda. »Lebhafter als der Anlass unseres letzten Treffens.«

In den Bäumen des Platzes, teils frischgrün, teils noch kahl, schaukelte Kleidung, aufgehängt an den Ästen wie bunte Lampions. Die Goldrahmen düsterer alter Ölschinken leuchteten wie neu in der Sonne, und halb blinde Spiegel reflektierten auf einmal wieder munter das Sonnenlicht. In Glasvitrinen und auf Tapetentischen glitzerte es. Manche der Stände hatten fröhlich gestreifte Markisen.

Die Anbieter lümmelten gut gelaunt in Gartenstühlen und plauderten über kurze Distanz miteinander. Kinder kauerten vor ausgebreiteten Tischdecken, das Spielzeug von gestern feilbietend, andächtig starr vor Erwartung. Stolz standen Männer in mittleren Jahren neben sorgsam in Plastik eingetüteten Comicheften, Fahrtenbüchern oder Briefmarken. An den Ersatzteilständen ging es hoch her. Die Würstchenbude tätigte bereits gute Geschäfte.

Frieda sog mit bebenden Nasenflügeln den Geruchsmix von Frühlingsblüte, modrigem Speicher und Pommes ein. »Ach, das liebe ich.« Sie schaute ihn an, und ihr war, als könnte etwas von dieser Zuneigung auf ihren Begleiter überspringen. Wenn sie es zuließe.

»Also wollen wir?«, fragte sie und stockte, als ein kleines Mädchen mit fuchsroten Haaren auf sie zulief. »Du hast ja deine Tochter mitgebracht.«

»Ich habe Lily dieses Wochenende.«

»Nächstes Wochenende wäre ein anderer Markt oben an der Burg gewesen.«

»Meine Tochter ist das Beste an mir.« Er streckte die flachen Hände aus, als wollte er zeigen, dass er nichts zu verbergen hätte. »Und sie hat sich so auf dich gefreut.«

»Ich hab eine Barbie gesehen, die hat einen Fischschwanz!«, verkündete Lily. Und schon war sie verschwunden.

»Wir sollten dicht an ihr dranbleiben.« Während er gemessen an Friedas Seite dahinschlenderte, folgte Michael Autenrieths Blick seiner Tochter, die ottergleich durch die Menge tauchte, mal hier an die Oberfläche kam, mal dort, an jedem Stand etwas anfasste, um es dann für die nächste Entdeckung fallen zu lassen. Besorgt meinte er: »Es wird schwer werden, ihr hier ihre Wünsche auszureden.«

»Müssen wir das denn?«, fragte Frieda. Sie verließ Flohmärkte nie ohne irgendeinen glücklichen Fund. Es war so wunderbar, dass die Sachen eine Geschichte hatten, das Flair eines vergangenen Jahrzehnts mit sich trugen. Dagegen fielen Sprünge, Stöße, ein wenig Kitsch oder ein nicht ganz passendes Maß doch nicht ins Gewicht. Außerdem konnte man bei den Preisen nichts falsch machen: ein Reich voller Möglichkeiten. Frieda war bereit, ihre Groschen mit maximalem Spaß unters Volk zu bringen.

»Ja, aber das ist doch fast alles gebraucht«, sagte Michael Autenrieth.

Frieda fehlten einen Moment lang die Worte. Dann musste sie lachen. »Ja, genau das ist der Spaß.« Sie hakte sich ein und zog ihn mit.

Er ließ sich mitziehen, sie hatte das Gefühl, als wage er eine vorsichtige Annäherung. »Für manche Sachen kann ich mir das absolut nicht vorstellen«, setzte er gerade an. »Zum Beispiel für Schuhe!«

Im selben Moment hatte sie an einem Stand ein paar Schnürstiefel entdeckt, halbhoch mit schwarzen Häkchen, die eindeutig viktorianisches Flair verströmten. Sie hatte das Paar schon hochgehoben und einladend baumeln lassen. »Kirschrot kann man nicht häufig tragen. Aber für sieben Euro?« Als sie sein Gesicht sah, drehte sie einen Schuh um und guckte auf die Sohle. »Siebenunddreißig, nicht meine Größe. Schade.«

Sie gingen weiter. Es dauerte eine Weile, bis Michael Autenrieth sagte: »Bei Schuhen habe ich meine Marke. Da weiß ich, egal welches Modell, es passt mir garantiert. Die kann ich blind kaufen, sogar online. Ich bestelle. Sie passen.«

»Das ist schön«, sagte Frieda. Eine Weile schwiegen sie. »Hat Lily denn schon einen neuen Hamster?«

»Ich versuche, sie für etwas Haltbareres zu begeistern«, sagte ihr Begleiter. »Eine Schildkröte, zum Beispiel.«

Frieda musste lachen.

Michael Autenrieth fuhr erfreut fort: »Außerdem sind sie nicht nachtaktiv. Weniger Begräbnisse, mehr Schlaf.«

»Eindeutig eine Win-win-Situation«, gab Frieda zu. Sie begann, sich ein wenig zu entspannen.

Unvermittelt schlossen sie zu Lily auf, die an einem Stand in die Hocke gegangen war, um in einer Bücherkiste zu wühlen. Frieda hockte sich neben sie. »Was schaust du denn da an? Das ist ja spannend.« Sie griff in die Kiste mit Bilderbüchern. »Das ist Der Wind in den Weiden. Kennst du das? Schau!« Sie blätterte die Illustrationen für Lily auf. »Da ist auch gerade Frühling. Und der Maulwurf kann sich kaum halten vor Freude und Lebenslust.«

Michael Autenrieth nieste. »Hausstaub«, erklärte er. »Alte Bücher sind voll davon.« Er zog ein Stofftaschentuch heraus und schnäuzte sich ausgiebig. »Kaufst du etwa auch alte Bücher?«

»Manchmal«, gab Frieda zu. »Ich bastle Briefumschläge daraus.«

»Das will ich haben«, verkündete Lily, ihren Vater einer Antwort enthebend. Sie hielt einen Band der Häschenschule hoch.

Frieda reichte dem Verkäufer die geforderten fünfzig Cent. »Wenn man es für ein paar Tage in die Gefriertruhe legt, tötet das die Milben ab«, sagte sie tröstend zu Michael Autenrieth.

»Wie es scheint, kann ich jede Menge von dir lernen.« Er hielt inne. »Ehrlich gesagt ist das einer meiner Hintergedanken gewesen bei diesem Treffen.«

Frieda legte erwartungsvoll den Kopf schräg. Sie war bereit, sich die Hintergedanken anzuhören.

»Erinnerst du dich noch an den Grabstein, den Lily angeschleppt hat?«

»Diesen Felsbrocken, den sie fast nicht tragen konnte?«

»Ja, wir haben ihn mitgenommen. Aber mehr als ein Felsbrocken ist es immer noch nicht. Dürfen wir da noch mal um deine Hilfe bitten?« Er setzte seine Lachfältchen wieder in Aktion. »Ich besorge auch Farben und alles. Du musst nur eine Liste machen.«

»Du willst mit mir eine Malstunde veranstalten?« Sie konnte die Verblüffung nicht ganz aus ihrer Stimme heraushalten.

»Anschließend natürlich Essen?«, sagte er schnell. »Ich koche. Ich koche ausgezeichnet.« Als er ihr unschlüssiges Gesicht sah, fügte er hinzu: »Linguine con Limone. Danach Hähnchen-Piccata?«

»Ist das denn auch das Richtige für Lily?«, fragte Frieda.

Er verzog das Gesicht, als hätte sie ihn erwischt. »Sie wird nach dem Tiramisu schlafen gehen. Wie wäre es? Mein Tiramisu ist berüchtigt.« Da waren sie wieder, diese Lachfältchen.

»Na ja«, sagte sie.

»Prima!«, rief er erfreut. »Also abgemacht. Du kommst uns besuchen.« Er hatte eindeutig etwas Jungenhaftes.

»Vielleicht«, sagte Frieda. Als er ihr seinen Arm anbot, nahm sie ihn. Sie schlenderten weiter durch den Frühlingstag. Etwas wie eine zarte grüngoldene Glocke schien sich um sie zu bilden und sie von dem Treiben ringsum abzuheben.