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Stolpern in Moll

Frieda setzte den Stift ab und betrachtete die kleine Zeichnung, die sie gedankenlos angefertigt hatte, während die Computertastatur auf ihre nächste Eingabe wartete. Sie zeigte eine Katze, die Geige spielte. Als Instrument hielt sie ein Bündel Mäuse, die gespannten Schwänze die Saiten, die Körper das Griffbrett. »Tonart: Ess-Dur« stand darunter. Sie hörte ihren Magen rumoren.

Der Nachmittag in ihrer Wohnung war verdammt lang und still gewesen. Sie sollte losgehen, um etwas Frisches einzukaufen, danach kochen, sich etwas gönnen. Und warum alleine essen?

Frieda nahm ihren Mut zusammen, griff zum Hörer und lud Yvonne auf ein Abendessen ein. Mit klopfendem Herzen legte sie auf. Jetzt war der Rubikon überschritten. Sie würde mit Yvonne reden, die Dinge loswerden, die ihr durch den Kopf gingen. Alles zwischen ihnen klarstellen. Dann hätte sie auch endlich jemanden, dem sie von Michael Autenrieth erzählen könnte. Yvonne würde finden, dass sie sich tapfer gehalten hatte.

Bye, bye, Werkzeugkatalog. Sie schaltete den Computer ab und schnappte sich ihre Einkaufstasche. Die Sonne schien auch heute, ein wenig halbherzig, silberblass, und in den blauen Schatten war es kühl. Frieda ging zügig, hielt die Nase in den frischen Wind und überlegte, dass sie mit Yvonne vielleicht gar nicht alles würde durchhecheln müssen. Vielleicht hatte die Freundin sich längst auf den Anwalt umorientiert, was wusste sie schon. Der Spaß mit einem wie Erik konnte ja wohl nicht lange währen? Dann brauchte sie gar keine großen Enthüllungen vorzunehmen. Und ihre eigene, kurze kleine Verwirrtheit könnte auf jeden Fall ein Geheimnis bleiben. Mit jedem Schritt, den sie tat, wurde Frieda munterer und zuversichtlicher. Es war wirklich die richtige Entscheidung gewesen, mal rauszugehen.

Am Gemüsestand schien Sahin heute seinen Großvater zu vertreten. Er lächelte sie an. »Was darf es heute sein?«

»Kartoffeln«, sagte sie, »Sahin.« Ihr Blick schweifte über die Auslagen. »Und etwas von dem Mangold.« Dann bemerkte sie die Äpfel, immer noch rot und verlockend. Ob er ihr heute wieder einen verehren würde? Das wäre doch ein gutes Zeichen.

Im selben Moment tauchte eine junge Frau hinter der Standplane auf und umarmte Sahin so schwungvoll, dass er beinahe aus dem Gleichgewicht geriet, während sie ihn heftig kichernd auf den Hals küsste. Gutmütig ließ er es geschehen, Kartoffeln in beiden Händen und Besitzerstolz in den Augen.

Ertappt schaute Frieda zur Seite und nahm ihre Einkäufe entgegen.

Warum ging ihr das so zu Herzen?, fragte sie sich auf dem Heimweg. An einem anderen Tag hätte sie gestrahlt und gesagt: Was ein schönes Paar. Ach, das waren die Sehnsüchte, die bisher alle so schön säuberlich gebändigt und verpackt waren wie ein Fallschirm in seinem Rucksack, den man unauffällig bei sich trug, damit er im richtigen Moment aufsprang und einen trug. Und dann schwebte man.

Wenn man aber im falschen Moment unsachgemäß daran zog, an der falschen Strippe zupfte, dann quoll mit einem Mal der ganze Stoff hervor, und man hockte auf dem Boden und hatte alle Hände voll zu tun, die Bescherung wieder zurück in die Verpackung zu stopfen, und kam sich dabei vor wie ein Idiot.

Mit quietschenden Bremsen hielt der Rechtsabbieger dicht vor ihren Knien an. Frieda bemerkte ihn kaum und hob nur zur flüchtigen Entschuldigung die Hand. Das war alles mit diesem »Herzmatch«-Getue losgegangen, das Frieda aus ihrer wohlaustarierten Seiltänzerbahn geworfen, an Nervensträngen gezerrt und sie aus ihrer Seelenruhe gerissen hatte. Da war sie losgetaumelt und hatte sinnlos an Schnüren gezogen, Patrik, Michael, Erik. Normalerweise hätte sie die nicht einmal bemerkt.

Jetzt brauchte sie dringend jemanden, mit dem sie ihren defekten Seelenfallschirm wieder zusammenfalten konnte, wie ein großes Laken, immer schön Eck auf Eck. Zu zweit ging so etwas einfach leichter. Seit dreißig Jahren waren Yvonne und sie ein Fallschirmspringerteam: rauf in den Himmel und wieder runter. Sie brauchte Yvonne.

Nachdem sie die Kartoffeln fertig geschält und aufgesetzt hatte, ging Frieda ins Wohnzimmer, um Musik auszusuchen. Sie wischte die noch feuchten Finger an ihren Jeans ab und wählte eine LP von Ben Harper. Das war schon besser. Sie wagte ein paar Tanzschritte. Die Sonne schien durch die geöffnete Balkontür. Ein Hauch von Blütenduft mischte sich mit dem Knoblauch aus der Küche. Frieda trat hinaus. Die Balkonkästen sahen immer noch traurig aus. Sie musste endlich daran denken, Pflanzen zu besorgen, Narzissen auf jeden Fall, Vergissmeinnicht, vielleicht Männertreu, das waren ihr die liebsten. Dann entdeckte sie etwas Schwarzes, das sich hinter dem Olivenbaum duckte.

»Du bist das!«, sagte Frieda. Wieder berührte es sie, wie schön die Schwarz-Weiße aussah. Im Moment, argwöhnisch geduckt, wirkte sie mehr denn je wie ein wildes Tier. Die grünen Augen beobachteten abwartend jede von Friedas Bewegungen. »Keine Angst«, sagte sie. »Ich tu dir nichts.« Vorsichtig ging sie in die Knie.

Die Katze blinzelte nicht. Frieda streckte die Hand aus. Doch die Katze sprang auf, setzte blitzschnell über die Brüstung und verschwand. Weiter unten schrie jemand schmerzgepeinigt auf.

Erschrocken trat Frieda an die Brüstung, um nachzusehen. Der Nachbar von schräg unten stand da, offensichtlich von etwas aus seinem Liegestuhl hochgejagt, wie das letzte Mal war er nackt bis auf Socken und Mütze. Diesmal allerdings hielt er die Hände vor seinen empfindlichen Teilen gekreuzt, und sein Gesicht war schmerzverzerrt. »Ihre Katze!«, rief er. »Ihre Katze ist über mich drüber gerannt.«

»Das ist nicht meine Katze!«, rief Frieda. Sie musste ein Lachen unterdrücken, als sie sein von der peruanischen Strickmütze mit den Schläfenbommeln umrahmtes, tief gebräuntes und tief vorwurfsvolles Gesicht sah.

»Seien Sie froh, dass ich das nicht war«, kam von einem der oberen Balkone eine Stimme. »Ich kann mich nämlich kaum noch beherrschen bei dem Anblick.« Weitere Türen öffneten sich. Der sonnenverliebte Nachbar verteidigte sich wortstark, die Nachbarin hielt dagegen.

Frieda nutzte die Gelegenheit, sich aus der Auseinandersetzung zurückzuziehen. Es ging, der Lautstärke nach, um grundsätzliche Fragen der Moral, der Gesundheit, der Ästhetik und Freiheit. Wenn sie das Yvonne erzählte!

Vor sich hin summend ging sie in die Küche und stach mit der Messerspitze in die Kartoffeln. Beinahe gar. Jetzt musste sie nur noch den Mangold waschen und dann alles in die Auflaufform schichten. Auch die Bechamelsoße stand bereit. Ach ja, den Käse sollte sie schon einmal reiben. Frieda schaute auf die Uhr. Sie hatte noch eine halbe Stunde, bis ihre Freundin da sein würde, als es an der Tür klingelte.

»Du bist früh dran«, stellte Frieda fest und wischte sich mit dem Küchentuch die Käsekrümel von den Fingern.

»Keine Sekunde zu früh.« Yvonne stürmte an ihr vorbei ins Wohnzimmer. Sie schaute sich lange um, so, als hätte sie an allem, was sie sah, etwas auszusetzen, ehe sie Luft holte, das Kinn hob und Frieda fixierte. »Wann wolltest du es mir eigentlich sagen?«