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Wie man obszöne Anrufe erledigt

Die ganze nächste Woche vergrub Frieda sich in ihrer Arbeit. Sie segnete den schwierigen litauischen Markt, der sich schließlich doch geöffnet hatte, und auch für die anderen Kataloge waren Deadlines ausgegeben worden. Stundenlang gelang es ihr, an nichts zu denken als an Layoutfragen. Und abends fiel sie todmüde ins Bett.

Aber das Wochenende drohte. Und mit ihm stand die SüdArt an; zwei Tage lang würden in ihrem Viertel die Türen der Ateliers und Hinterhöfe für Besucher und Flaneure offen stehen. Viele ihrer Studienfreunde stellten dort ihre Arbeiten aus, viele alte Genossen aus dem Schrüfers. Für Yvonne und sie war die SüdArt immer ein Muss gewesen.

Sie hatten gemeinsam die Büfetts geplündert, die Bilder bestaunt, die Leute durchgehechelt, dazu hübsche Kleinigkeiten erworben wie Kinder, die beim Kiosk ihre Taschengeldgroschen in lose Süßigkeiten umsetzten, in Esspapier, Gummischlangen, süße Armbänder – all diese nach langer Berechnung sorgsam zusammengestellten Schätze.

Ohne Yvonne würde alles anders sein. Natürlich, sie konnte Maja fragen oder Valerie. Sie könnte Bernd anrufen. Und kannte sie nicht sowieso jede Menge Leute in der Szene? Am Ende wählte sie Yvonnes Nummer. Bekam nur die Mailbox dran. Wurde nie zurückgerufen. Dann eben nicht. Trotzig sagte Frieda sich, dass es ihr an Gesellschaft schon nicht mangeln würde.

Nach sorgsamer Überlegung wählte sie ein besonders auffälliges Kleid aus, dessen Stoff eine befreundete Künstlerin aus Krawatten zusammengesetzt hatte. Prüfend strich Frieda über die schillernden Muster. Das Leben war verdammt noch mal bunt, und vor ihr lag ein schöner Tag.

Als sie in das Gewimmel der Atelierbesucher eingetaucht war, angelte sie sich ein Glas Prosecco vom Büfett und wagte einen Blick in die Runde. Auf den ersten Blick konnte sie keinen Bekannten entdecken. Nur Grüppchen, Cliquen, Paare. Frieda nippte an ihrem Glas.

Plötzlich sprach ein Mann sie von der Seite an. »Hi!«

Verdutzt schaute Frieda ihn an. Ihr war, als müsste sie das verschmitzte Gesicht von irgendwoher kennen. Er war in ihrem Alter, das leicht ergraute Haar nach allen Seiten vom Kopf abstehend. Unter seinem Cordjackett trug er ein T-Shirt und um den Hals ein Tuch mit einem verblassten Mond-und-Sterne-Muster, das aussah, als würde er es niemals abnehmen.

Frieda suchte in ihrem Gedächtnis nach seinem Namen.

»Ich mag deinen Blog.«

Er duzte sie. Und kannte ihre Arbeit. Jetzt konnte sie wohl nicht mehr fragen: Kennen wir uns? »Danke«, sagte Frieda. Wenn sie nur wüsste, warum er ihr so vertraut vorkam.

»Warum stellst du eigentlich nicht selbst aus?« Er lächelte ein feinknittriges, koboldhaftes Lächeln. Es berührte Frieda wie eine Erleuchtung, deren Inhalt unklar blieb. Aber dieses Lächeln hatte sie doch schon einmal gesehen?

Gerade wollte sie bescheiden sagen: »Ach weißt du, die paar Zeichnungen …«

»Frieda!«, rief da eine tragende Stimme. »Wie schön!« Ehe sie etwas erwidern konnte, hatte Maja, die Frau ihres alten Studienfreundes Tobias, sie in ihre walkürenhafte, parfumduftende Umarmung gezogen. Ihr hennarotes Haar leuchtete wie ein Fanal. »Du musst mitkommen«, verkündete sie. »Tobias hat dieses Jahr einen Comickünstler als Ateliergast, der ist sagenhaft.«

Wenn Maja sagte, dass man etwas müsse, gab es kein Entkommen. Frieda hatte keine Zeit mehr, sich von dem seltsam vertrauten Unbekannten zu verabschieden. Schon wurde sie mitgezogen in den zweiten Stock. Wie sich zeigte, war der Zeichner, den Tobias dort in seinem Atelier beherbergte, eher von Robert Crumb inspiriert und seine Arbeiten gar nicht ihr Fall. Sie bevorzugte Tobias’ eigene zunächst unschuldig-pastellig wirkende Bilder, die erst auf den zweiten Blick ihre augenzwinkernd erotischen Motive preisgaben.

Frieda machte ihrem alten Freund ein paar Komplimente dafür und fragte sich wieder einmal, wie ein so subtil und still arbeitender Mann wie Tobias zu einer Frau wie Maja gekommen war. »Cupcake?«, bot Maja ihr an. »Hab ich selbst für die Gelegenheit gebacken. Nimm dir am besten zwei.«

Frieda bedankte sich, nahm nur einen der phallusförmigen Kuchen und zog weiter. Vielleicht würde sie dem Unbekannten noch einmal begegnen. Doch sein Gesicht wollte nicht in der Menge auftauchen.

Frieda ließ sich treiben. Sie fand sich schließlich vor dem Atelier einer koreanischen Künstlerin wieder, die sie noch nicht kannte. Frieda studierte den Begrüßungstext am Eingang. Sie erfuhr, dass die Malerin in Hamburg geboren worden war, mit Textilien arbeitete. Und dass ihr Ateliergast ein gewisser Erik Obermann war. Frieda steckte sich das letzte Stück Kuchen in den Mund, leckte sich die verräterisch klebrigen Finger sauber und machte auf dem Absatz kehrt. Aber ein plötzlicher Zustrom von Neugierigen verhinderte, dass sie in das enge Treppenhaus entkam.

»Frieda«, hörte sie es in ihrem Rücken.

Sie wandte sich um. »Hallo, Erik.« Sie ließ die Stimme dem Schlusspunkt zu ins Bodenlose fallen.

Er lächelte. »Ich hab dich vermisst.«

»Vermisst? Wieso?«, schnappte sie. »Brauchst du einen neuen Sponsor?«

Er musterte sie ein paar Augenblicke, dann schüttelte er den Kopf. »Es war ein Geschäftsvorschlag«, sagte er mit sanfter, betont unaufgeregter Stimme. »Ganz reell. Yvonne hat doch das Geld. Es wäre gar kein Problem für sie gewesen. Nicht mal, wenn etwas schiefgegangen wäre. Aber …« Jetzt machte er einen Schritt nach vorne. »Es wäre nicht schiefgegangen. Und das weißt du. Du hast selbst gesagt, wie gut meine Bilder sind.«

Ja, leider, dachte Frieda. Sie waren wirklich großartig. Aber das änderte nichts daran, dass er ein Mistkerl war, oder? Betont formell antwortete sie: »Du wirst sicher einen anderen Geldgeber finden.«

»Frieda.« Wieder diese Stimme. Schwarze Haare, schwarze Augen. Und er verstand sich noch immer darauf, mit einem Blick diesen Funken in ihr zu entzünden. Auf einmal standen sie beide wie in einem Käfig aus Elektrizität. Alle anderen waren ausgesperrt. Wie machte er das?

Für einen Moment wallten Bilder in Frieda auf. Bilder davon, wie er sie berührte, wie sie nach Luft schnappte. Seine Lippen auf ihrem Hals.

Wir sind doch frei, flüsterte etwas in ihr. Er spielte in Yvonnes Leben keine Rolle mehr. Und Yvonne legte offenbar keinen Wert darauf, weiterhin in Friedas Leben vorzukommen, also was sollte sie noch zurückhalten? Waren Grenzen nicht dafür da, überschritten zu werden? Könnte es nicht ein bisschen aufregend sein, sich in diesen Abgrund zu begeben?

Sie trat einen Schritt zurück. Das war nichts, was natürlich zwischen ihnen aufflammte. Er konnte das anknipsen wie irgendeine Lampe. Bedeutungslos. Sie musste es abschalten.

»Du«, sagte sie. Das war der falsche Ansatz. »Du hast mich angerufen, als du aus ihrem Bett gekommen bist.« Sie wich seinem Lächeln aus. »Nicht von einem Banktermin mit ihr.«

Er hob die Hände, fragend, als verstünde er nicht.

»Sie hast du angeflirtet, weil du Geld wolltest«, präzisierte Frieda. »Was willst du also von mir?« Keine Fragen stellen, flüsterte ihre innere Stimme. Er würde ihr doch nur mit Antworten kommen, die sie nicht hören wollte. Die Mahnung kam zu spät.

»Das weißt du nicht?« Erik schüttelte den Kopf. »Ach, Frieda.«

Verdammt, fluchte Frieda innerlich.

Er fuhr fort, mit dieser lockenden, kokonspinnenden Stimme: »Yvonne war immer klar, was Sache war«, sagte er. »Sie ist kein Unschuldslamm. Sie wollte sich bloß mal einen Künstler gönnen.«

Er grinste, als er ihr empörtes Gesicht sah.

»Aber das ist okay«, fuhr er unbarmherzig fort. »Yvonne kennt sich selbst. Du dagegen«, er streckte seine Hand aus, als wollte er sie berühren, »du hast von dir selbst keine Ahnung, oder?«

»Ich …«

»Was du willst. Was du brauchst.« Er ballte die Hand zur Faust. »Wer du bist.«

Frieda starrte ihn an. Sie musste zugeben, dass er womöglich recht hatte. Vielleicht kannte sie sich wirklich nicht. Sie hatte sogar stark die Vermutung. Aber Erik, Erik war nun bestimmt kein Fachmann für sie. Sie bemerkte, dass sie zitterte.

Ihr fiel der obszöne Anruf ein, der schon ein paar Jahre zurücklag. Sie hatte sich arglos mit ihrem Namen gemeldet. Die fremde Stimme eines Manns hatte ihren Vornamen wiederholt, langsam, abwägend, als schmecke er genüsslich etwas nach. Dann hatte er ihr eine Frage gestellt, deren Obszönität ihr die Röte ins Gesicht getrieben hatte. Aber statt zu schimpfen, zu drohen oder den Hörer hinzuknallen, waren ihr intuitiv zwei Wörter gekommen, die sie leise und mitleidig sagte:

»Ach je.«

Damals hatte Frieda nicht das Vergnügen gehabt, das Gesicht ihres Gesprächspartners zu sehen. Sie wusste nur, dass er nie wieder bei ihr angerufen würde. Und auch von Erik Obermann, dachte sie erleichtert, als sie sich abwandte und die Treppe hinunterging, würde sie in diesem Leben wohl nichts mehr hören.