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Romantik wirkt bei jedem anders

Frieda kam gerade rechtzeitig, um die Nudeln in das brodelnd kochende Wasser zu werfen. Mit der fertigen Bärlauch-Pasta kehrte sie auf das Sofa zurück, um fernzusehen. Wenn sie als Kind krank gewesen war, hatte das zu den Höhepunkten gehört. Es hatte nichts Schöneres gegeben, als mit leichtem Fieber, schon halb auf dem Weg der Besserung, am helllichten Tag im Pyjama herumzulümmeln, gut zugedeckt, mit Essen versorgt, und der Fernseher lief dazu und brachte neue, staunenswerte Dinge zu ihr. Wie zum Beispiel die Vierschanzentournee oder den Kölner Karnevalszug. Frieda, das Kind, hatte mit großen Augen zugesehen, was Erwachsene so taten: bei eisigen Temperaturen mit an Bretter gefesselten Füßen in den Abgrund zu fliegen. Sich riesige Pappmascheeköpfe aufzusetzen und einen Bonbonregen auf den Asphalt niedergehen zu lassen. Das Erwachsensein hatte versprochen bunt und spannend zu werden.

Wie es aussah, bestand es aus Abendessen vor dem Fernseher.

Frieda stach die Gabel in die Nudeln. Sie hatte gutes Essen, sie hatte Unterhaltung. Was brauchte es mehr? Sie war entschlossen, sich jetzt keine Gedanken über Frau Singer zu machen oder darüber, dass sie für die Sechzigstundenwoche, die sie eben für das Projekt heruntergerissen hatte, am Ende umgerechnet nicht viel mehr als den Mindestlohn bekommen würde. Genauso wenig wollte sie daran denken, dass Yvonne sich nicht meldete.

Ein Liebesfilm wurde angekündigt. Auch gut. Kauend verfolgte Frieda, wie die Heldin in einem Cabrio durch die Landschaft von Cornwall brauste. Ihr Verlobter, der reiche Landadlige, hatte eine frappante Ähnlichkeit mit Erik. Aber das begriff die dumme Heldin offenbar nicht.

»Es ist der Tierarzt«, rief Frieda. Ein Blinder konnte das sehen. Aber die Sache ließ sich offenbar nicht abkürzen.

Sie war fast erleichtert, als das Telefon klingelte.

»Was machst du gerade?«, fragte Maja.

»Oh, ich schaue einen Film.«

Aus den Augenwinkeln bekam Frieda mit, wie die Heldin dem Tierarzt bei der Geburt eines Fohlens assistierte. Zu Geigenmusik. Sie stellte den Ton leiser. »Eine Naturdoku. Cornwall. Sehr schöne Landschaft. Und du?«

»Ich frage mich gerade etwas«, sagte Maja.

»Mhm?« Mit der freien Hand angelte Frieda sich die letzte Nudel vom Teller. Im Fernseher wurde viel geweint. Das Happy End stand offenbar unmittelbar bevor. Aber nein, der Landadlige griff zum Gewehr …

»Sag mal, hattest du eigentlich mal was mit Erik?«

Frieda hätte sich beinahe verschluckt. »Nein, wieso?«, sagte sie dann. Und: »Ich wusste gar nicht, dass du ihn kennst.«

»Er unterrichtet bei uns Kunst. Und er redet so schlecht über dich wie sonst nur über seine jeweilige Ex. Was hast du ihm denn getan?«

»Ich?! Ihm?!« Frieda legte so viel Frage- und Ausrufezeichen wie möglich in ihre Stimme. Sie atmete schon tief ein, um die Dinge ein für alle Mal klarzustellen, als es sie mit der Plötzlichkeit einer Eingebung überkam: Yvonne war nicht so sehr wütend auf sie, weil Frieda etwas falsch gemacht hatte, sondern weil Frieda Zeugin geworden war, wie Yvonne sich lächerlich gemacht hatte. Und wenn Frieda jetzt die ganze Betrugsgeschichte weitertratschte, würde der Kreis derjenigen, denen gegenüber Yvonne sich lächerlich vorkam, nur noch größer werden. Arme Yvonne, würde es heißen. Und sie bestellt noch Sekt und Erdbeeren!

Dass sie Erik bloßstellte, würde nicht aufwiegen, was an Herablassung, Schadenfreude, Sensationslust mitschwang in diesen beiden Worten: arme Yvonne. Und Yvonne war nie viel an Mitgefühl gelegen gewesen, dafür viel an ihrer Unabhängigkeit.

Also sagte Frieda nur: »Na ja. Vielleicht ist ihm ja klar geworden, dass er es im Guten nie bei mir schaffen wird, und denkt sich jetzt: Mobben ist das neue Flirten.«

Als sie den Hörer auflegte, war sie entschlossen, mit Yvonne zu reden. Nicht per Telefon, das jede Lüge zuließ, sondern persönlich, wie man das tat, wenn einem etwas wirklich am Herzen lag. Friedas Herzschlag beschleunigte sich. Am liebsten wäre sie sofort aufgebrochen. Aber es war Dienstag, und sie wusste, dass Yvonnes Tangostunde bald begann. Dort wollte sie lieber nicht auftauchen. Yvonne absolvierte diesen Kurs mit einem Mann, den sie an der Tanzschule per Aushang gefunden hatte. Sie sprach nicht viel über ihn; Frieda hatte lediglich erfahren, dass er wesentlich älter war als Yvonne und beim Stadtbauamt arbeitete. Frieda vermochte sich kaum vorzustellen, wie er Yvonne in den Armen hielt und übers Parkett schob, noch weniger, wie er mit ihr in den Pausen einen Rotwein trank und worüber sie redeten. Und schon gar nicht konnte sie sich vorstellen, in seiner Gegenwart mit Yvonne ein so heikles Gespräch zu beginnen.

Nein, sie musste es auf morgen verschieben. Yvonne pflegte ihre Mittagspause immer in demselben Lokal zu verbringen. Manchmal hatte Frieda ihr dort Gesellschaft geleistet. Sie würde vor dem vertrauten Bistrocafé auf ihre Freundin warten. Vielleicht würde es einen Moment der Verlegenheit geben. Irgendwann würde eine von ihnen sagen: »Kaffee?« Sie würden gleichzeitig lächeln, einander den Vortritt lassen. Auf dem Weg zum Tisch schon ins Gespräch kommen. Bald würden sie wieder plaudern wie in alten Zeiten. Frieda spürte, wie bei dem Gedanken eine Welle der Sehnsucht durch sie hindurchlief. Yvonne würde von ihren neuesten Dates berichten, sie würde die Zeichnungen herzeigen, die sie in ihren Blog hochzuladen gedachte. Sie würden lachen, sich einig sein, sich fürs Wochenende verabreden. Spazieren gehen am See vielleicht. Oder ins Kino. Frieda freute sich darauf.