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Forschergeist

Die Katze, gut verborgen hinter dem Olivenbaum, sah und hörte alles: wie die Frau in die Wohnung kam und die Balkontür weit aufriss. Dann in die Küche stürmte und mit einer grünen Flasche zurückkehrte. Wie sie daraus trank, ein Glas, dann noch eines. Die Katze konnte den ekligen Geruch der verdorbenen Trauben riechen. Sie wusste, dass manche Vögel ganz verrückt danach waren; sie pickten die gärenden Trauben und wurden danach ganz närrisch. Der Katze war das immer sehr recht gewesen. Sie verengte die Augen und beobachtete die Frau scharf. Ihre Vibrissen fingen jede feine Schwingung aus der Luft.

Die Frau hatte sich an den Türrahmen gelehnt, und obwohl sie sich nicht regte, sondern ganz still dastand, die Arme verschränkt und die Augen geschlossen, gingen doch unruhige Vibrationen von ihr aus. Und hätte sie ein Fell gehabt, es wäre am ganzen Körper gesträubt gewesen.

Jetzt kam Leben in sie, sie langte in ihre Tasche und zog ein Kärtchen hervor, hielt es sich dicht vors Gesicht, als wollte sie es beschnuppern – und riss es dann in lauter kleine Fetzen, die langsam zu Boden flatterten. Die Katze verfolgte jeden einzelnen mit zuckendem Schnurrbart. Doch sie beherrschte sich.

Mit dem Ruf »Ein Tierarzt! Wie in einer beschissenen Romantikkomödie!« konnte die Katze nichts anfangen. Obwohl sie ihre eigenen Erfahrungen mit einem Tierarzt hatte. Einmal, ein einziges Mal in ihrem Leben, war sie in eine Falle gelaufen. Sie war noch sehr jung gewesen und hatte der Verlockung eines ungewohnten, verheißungsvollen Duftes nicht widerstehen können. Auch wenn die Anwesenheit der fremden Kiste in ihrem vertrauten Hinterhof sehr seltsam gewesen war. Sie hatte die Alarmsignale ignoriert, hatte sich heran- und hineingewagt. Im nächsten Moment hatte sie in einem Käfig gesessen. Und hatte sich wenig später auf einem kalten Alutisch wiedergefunden, der nach Chemikalien stank und der Angst zahlloser Kreaturen.

Damals war es ihr ergangen wie der Frau jetzt: Ihr Fell war gesträubt, ihr ganzer Organismus in Alarmbereitschaft gewesen. Mit jedem Herzschlag hatte sie eine Woge an Wut und Willenskraft gesandt, die den Raum hätte dröhnen lassen müssen wie eine Trommel.

Die Katze hatte nichts gewusst von Tierfängern, von Tierasylen und Aufnahmeuntersuchungen. Aber als das Monster im weißen Kittel auf sie zugekommen war und sie dreist an Nacken und Kruppe gepackt hatte, um sie gegen die Unterlage zu drücken, da hatte sie alles an Kraft mobilisiert, was in ihr steckte. Sie hatte nach dem Monster geschlagen, das Weiß zerfetzt und das Blut darunter hervorgelockt. Auch sie hatte geschrien wie die Frau, tief aus dem Bauch heraus.

Und war entkommen.

Die Frau hatte inzwischen das Glas weggestellt und machte sich an dem alten Metallgestell zu schaffen, das bislang an der Wand gelehnt hatte. Sie zerrte es in die Balkonmitte, holte eine Decke und Kissen. Ganz offensichtlich baute sie sich ein Nest.

Das war sehr vernünftig, fand die Katze. Nirgendwo konnte man sich besser von so einer Erfahrung erholen. Gleich würde sie anfangen, sich zu putzen. Und hernach die innere Erregung wegschnurren; das funktionierte wunderbar. Schnurren heilte äußere Wunden so gut wie innere; unwillkürlich setzte die Katze leise ein. Der Ton reiste mit ihrem olivfarbenen Blick zu der Frau und spann sie ein. Da, es funktionierte, das Schnurren der Frau setzte ein, zwar unregelmäßig und ein wenig sägend. Aber die Katze wusste: Es würde sie in gute Träume tragen.

Die Frau bemerkte nicht mehr, wie die Katze hinter dem großen Oliventopf hervorkam.

Ihr schlanker Gang war lautlos. Er umrundete die Liege und streifte alles mit fellknisterndem Geheimnis. Als der um Frieda gezogene Kreis geschlossen war, hielt die Schwarz-Weiße inne. Ein paar Augenblicke lang richtete sie sich auf die Hinterbeine auf. Wie ein Erdhörnchen auf der Wacht beäugte sie die schlafende Frieda, mit einem Blick, so eindringlich, als überprüfe sie noch den hintersten Winkel ihrer Traumgebilde. Dann sank sie wieder auf alle vier Pfoten, umrundete erneut das Fußteil und ließ ihren Schwanz am Liegenrand entlanggleiten, nein, entlanghauchen. Er berührte ihn nie ganz. Und doch veränderte er die Schwingungen des Möbelstücks, die Luft, die darüber strömte, den Atem der Frau, die nichts von alldem ahnte. Nur seufzte und ein paar Traumschichten tiefer sank.

Die Katze beendete die Reiki-Sitzung. Würdevoll trat sie über die weißen Fetzen hinweg, ein ungeliebtes Puzzle, auf denen die Silben für »Rüdiger Wolf. Tierarzt« endgültig auseinandergerissen waren, und machte sich an die Erkundung der Wohnung.

Ihre Untersuchung folgte einem Plan, einer Notwendigkeit, die dem menschlichen Beobachter nicht leicht ersichtlich gewesen wäre. Lange verharrte das Tier an einer Teppichecke, die Molekül für Molekül beschnuppert wurde, dann querte es den halben Raum, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, um mit einem Sprung auf dem Schreibtisch zu landen. Mit großer Sicherheit umkurvte es all die Stifte, Scheren, Radiergummis, leeren Tassen, USB-Sticks, Münzen, Papierstapel, Nippsachen. Überall fand die Katze Platz für ihre Pfoten und hinterließ kaum eine wahrnehmbare Spur im Staub hinter dem Bildschirm, tupfte aber kurz gegen die Maus und noch einmal und erneut, bis sie über die Tischkante hing und am Kabel baumelte. Das Mousepad rutschte hinunter und platschte auf den Boden.

Angestrengt spähte die Katze ihm nach, als läse sie aus dem Kaffeesatz. Das Ergebnis schien befriedigend, denn mit einem Parabelsprung landete sie erst auf dem Couchtisch, dann auf dem Sofa, das sie mit breit gespreizten, vorsichtigen Pfoten überquerte wie ein Polarforscher das Inlandeis, auf dem eine trügerische Schicht frischen Schnees gefallen ist. Sie umrundete alle Kuhlen, die so perfekt für eine kätzliche Mittagsruhe geeignet schienen, strafte sie mit Verachtung, ignorierte auch die Kissen, balancierte stattdessen über die Lehne und verließ dann den Ort, um den Rest der Wohnung zu inspizieren.

Sie nahm in der Küche Geschmacksproben von einem Rest Frühstückstee in der Tasse, der stark nach Milch roch, erforschte eine halb offen stehende Schublade im Schlafzimmer, aus der sie erst nach einer ganzen Weile wieder auftauchte, den Träger eines BHs an der Kante abstreifend, und bestieg dann über die Nordwand der Wintermäntel am linken Haken die Flurgarderobe, um eine Weile mit dem Satinband eines Strohhutes zu tändeln. Mit einem deutlichen Propp aller vier Pfoten landete sie wieder auf dem Boden, um endlich zurück im Wohnzimmer mit schräg geneigtem Kopf das Regal zu betrachten, das die gesamte Breite der Wand einnahm. Sie betrachtete es mit einer Konzentration, als wären all ihre bisherigen Aktivitäten nur Finten gewesen und dies ihr wahres Ziel.

Die Bretter waren in den verschiedenen Fächern auf unterschiedlichen Höhen angebracht und bildeten so natürliche Treppen. Die Katze verschmähte die Vorderseite der Bretter, wo zahlreicher Kleinkram den Weg versperrte, und tauchte lieber in die geheimen Gänge hinter den Büchern ein. Hier fand sich viel Staub, die Mumie einer Maus, eine Schachfigur, die nun irgendwo fehlte und ein tönernes blaues Ding, das seltsam roch, nach Blumen und Gewalt.

Die weiß Bepfotete hatte sich gerade geduckt, um mit vorsichtig vorgerecktem Hals diese Duftnote zu erforschen, als ein grelles Klingeln ertönte, das sie sofort in einen Sprung katapultierte. Es galt Alarm, und die Katze nahm keine Rücksicht mehr. Eine Handvoll Bücher plumpste zu Boden, das blaue Vasending fiel hinterher und zersprang klirrend, ein Geräusch, das die zweite Stufe der schwarz-weißen Rakete zündete, die sich jetzt mit einem mächtigen Satz aus ihrem Versteck in den freien Raum rettete und auf die Terrassentür zuschoss. Frieda auf ihrer Liege nahm kaum mehr als einen verwischten Blitz wahr, der allerdings im Balkonkasten ein wenig Erde aufspritzen ließ. Dann dämmerte sie wieder weg.