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Frieda erinnert sich endlich

»Donnerstag geht leider nicht«, sagte Frieda anderntags am Telefon.

Sie hatte erst nach langem Zögern die Nummer gewählt, die Gregor Lenz ihr am Ende des Abendessens gegeben hatte. Lieber hätte sie sich die Zunge abgebissen, als gleich zum Auftakt ihrer Bekanntschaft mit einer Absage zu kommen. Aber es ging einfach nicht anders. »Da muss ich auf eine Beerdigung.«

Eben hatte die Nachbarin bei ihr geklingelt, die schon für den Kranz gesammelt hatte, um mitzuteilen, dass die Urne mit der Asche von Frau Singer endlich beim Bestatter um die Ecke eingetroffen sei und nun auf dem Zentralfriedhof beigesetzt werden könnte. Die Tochter hatte die Hausgemeinschaft freundlicherweise eingeladen teilzunehmen. Am Donnerstag. Ein Leichenschmaus sei aber nicht vorgesehen.

Entgegen seinem Namen war der Friedhof weder schön noch berühmt. Nur sehr groß. Das kleine Häufchen Angehörige und Nachbarn würde sich dort leicht verlieren. Der eine Kranz vom Haus. Und dann die Tochter. Damit konnte sie doch Frau Singer nicht alleine lassen.

»Ich muss da teilnehmen«, sagte Frieda in den Hörer. »Nein«, verbesserte sie sich dann, »ich möchte es.«

»Dann komme ich mit.«

Frieda glaubte, sich verhört zu haben. Es war eine Beerdigung, eine Angelegenheit, vor der man sich normalerweise drückte, wenn man nicht eng verwandt war oder leicht pervers. Und sie glaubte Gregor Lenz immerhin gut genug zu kennen, um zu wissen, dass beides nicht zutraf. Aber eigentlich kannte sie ihn ja gar nicht; sie waren doch nicht mehr als flüchtige Bekannte. Trotzdem wollte er sie begleiten. Zu einer Beisetzung! »Aber …«, sagte sie hilflos, »sie war nur eine Nachbarin.«

»Mit dem Tod ist nie zu spaßen«, sagte Gregor, »auch wenn es nur die Nachbarschaft trifft. Die Nachbarschaft ist schließlich gleich nebenan.«

»Aber, aber …« Frieda versuchte, ihrer wachsenden Panik Herr zu werden. Was war das nur, was bahnte sich da an? Sie sagte: »Ich werde vielleicht weinen.«

»Wäre das so verwunderlich auf einer Beerdigung?«, fragte er.

»Aber …« Sie konnte nichts gegen all die Aber tun, die aus ihr quollen. Sie wusste ja selbst nicht, warum sie weinen würde um eine Frau, mit der sie wenig mehr verband als einige Momente in einem brüchigen Alltag, weit auseinanderliegend wie die Maschen in einem zerrissenen Netz, in dem sich nie ein gemeinsames Leben gefangen hatte. Warum sie sich Frau Singer dennoch verbunden fühlte, warum sie sich vor Gregors Freundlichkeit fast so fürchtete wie davor, ihn wieder aus den Augen zu verlieren, warum alles zugleich richtig und falsch war.

»Ich finde, du solltest auf einer Beerdigung nicht alleine sein«, sagte er. »Das ist alles.«

Als sie schwieg, fügte er hinzu: »Ich habe Taschentücher.«

»Es würde dir wirklich nichts ausmachen?«

Seine Stimme war ungewöhnlich tief. Lag es daran, dass alles, was er sagte, so klang, als wäre es gewiss? »Ich würde es sehr gerne tun.«

Als sie auflegte, begann sie, wie zur Übung, hemmungslos zu weinen. Sie wusste selbst nicht, warum.

Bei der Beerdigung dann blieben ihre Augen trocken. Gefasst stand sie am Grab, einem kleinen Loch in einer anonymen Bestattungswiese, und es schien ihr ganz selbstverständlich, dass Gregor sie untergehakt hielt. Sie schaufelte Erde zu Erde und kondolierte der Tochter, die neben der Grube stand und etwas in ihr Mobiltelefon tippte. Frieda warf Frau Singer die ausgebleichten Rosen von ihrem Rollator mit ins Grab, der immer noch im Hof stand, wo Tobias und sie ihn beim Einladen für den Flohmarkt vergessen hatten. Der Wein, der an der Hauswand wuchs, hatte bereits begonnen, die ersten Ranken nach ihm auszustrecken, und Frieda hoffte, dass es ihm gelingen würde, das Gefährt verschwinden und mit dem Haus verschmelzen zu lassen, ehe jemand auf die Idee käme, es zu entsorgen. Auf diese Weise würde Frau Singer ein Teil der Voltastraße 47a bleiben.

Sie erklärte Gregor das mit den Rosen nicht, und er fragte nicht nach. Sie hatte das Gefühl, dass er das nicht brauchte, weil er alles sehr gut verstand. Das war ein angenehmes Gefühl. Sie behielt seinen Arm, als sie über die geharkten Wege zum Ausgang gingen.

»Kein Leichenschmaus?«, fragte Gregor, als sie an der Straßenbahnhaltestelle standen. »Kein Besäufnis?«

»Du hast die Tochter gesehen«, meinte Frieda. »Sie fand am Tod ihrer Mutter nichts Bemerkenswertes.« In dem Alter.

»Wollen wir dann etwas trinken gehen?«, schlug er vor. »Um nicht so quer in der Welt herumzustehen? Du könntest mir von der alten Dame erzählen. Alte Damen stecken immer voller Geschichten.«

»Und du könntest vom Postamt erzählen«, bot Frieda an. »Deinem Buch.«

Das Café gegenüber dem Friedhof war kein Ort, den sie für ein erstes Treffen ausgewählt hätten, eine Bäckerei mit Selbstbedienungslokal und dem Charme von Bahnhofsgastronomie. Es war laut, und die große Glasfront ging auf die vierspurige Durchgangsstraße. Immerhin sah man auf der anderen Straßenseite die alte Sandsteinmauer des Friedhofs, sein wie aus der Zeit gefallenes Eingangstor und die Wipfel der hohen Bäume dahinter. Rechts und links des Tores beherbergte die Mauer Geschäfte.

»Ich mochte diesen Friedhofsblumenladen immer«, sagte Frieda und betrachtete das sattrote Leuchten der Geranien, »weil er in der Mauer wohnt. Wie in einem Geheimfach.«

Sie betrachteten beide den Strom der Passanten und redeten eine Weile weder von Frau Singer noch von Buchprojekten.

»Ich mag Friedhöfe überhaupt«, sagte Gregor schließlich. »Ich gehe gern dort spazieren. Wegen der Eichhörnchen. Und wegen der Namen auf den Grabsteinen.«

»Benutzt du sie für die Figuren in deinen Büchern?«, erkundigte Frieda sich.

»Manchmal. Ich benutze sie sogar für mich selbst.« Er neigte sich vor. »In Wirklichkeit heiße ich nämlich gar nicht Lenz.«

Frieda riss die Augen auf. »Sondern?«

Er machte eine Pause. »Müller«, sagte er dann.

Frieda nickte. »Verstehe«, sagte sie. »Einhörner heißen nicht Müller.« Als sie seinen überraschten Blick sah, fuhr sie rasch fort: »Einhörner. Wie auf dem Cover von deinem letzten Buch.«

Er nickte. »Ach so.«

»Es war auch auf dem Plakat. Für die Lesung. Und auf der Eintrittskarte.«

Er nickte wieder. Sie atmete auf.

Er rührte in seinem Kaffee. »Das Schicksal greift manchmal eben daneben.«

Das Schicksal. Dazu sagte sie am allerbesten gar nichts. Sie antwortete mit einem Schnauben, das sich irgendwie verschluckte.

»Taschentuch?«, fragte Gregor alarmiert.

Sie schüttelte erst den Kopf, dann nickte sie. Jetzt, dachte sie, während sie nicht anders konnte, als weiter zu schniefen und zu schnauben, jetzt wird er sich vermutlich überlegen, wie er am besten einen schnellen Abgang hinbekommt. Aber sie blieben beide. Und aßen schweigend ihren Himbeerkuchen, der gefährlich elektrisch leuchtete und nach nichts schmeckte. Im Gegensatz zu der Stille zwischen ihnen.

Irgendwann sagte Frieda: »Du hast beim Essen neulich gefragt, ob ich mich nicht erinnern würde. Woran erinnern?« Noch während sie es sagte, kam ihr der Gedanke, dass sich das Zusammensitzen mit ihm tatsächlich auf eine verquere Art vertraut anfühlte, so als kennten sie sich bereits viel länger. Obwohl das nicht möglich war, es sei denn, sie wäre an jenem verhängnisvollen Abend nur mit der Oberfläche ihres vermeintlich wachen Selbst auf »Herzmatch« hängen geblieben, während ihr wahres Selbst schlafwandlergleich doch die Lesung besucht hätte, ihren tiefsten Wünschen entsprechend, ohne am nächsten Morgen davon zu wissen.

»Wir kennen uns tatsächlich von früher«, sagte er.

Frieda konnte nur eine Geste der Hilflosigkeit bieten.

»Die Rahmenhandlung Schrüfer«, half Gregor ihr. Draußen hielt eine neue Straßenbahn, Menschen stiegen ein, Menschen aus. Stauten sich an den Ampeln. Fluteten über die Straße.

Frieda schaute Gregor an. Schrüfer – der Name war ihr so vertraut, doch er kam auch von weit, weit her. Damals hatte sie sich hinter ihrem Zeichenblock versteckt und eingeschüchtert das Leben angestaunt, bis Yvonne sie dahinter hervorgezogen hatte. All die Künstler, die dort ein und aus gingen, manche bereits so erfolgreich, wie sie es sich nur ganz insgeheim zu träumen erlaubte. Der labyrinthische, wunderbare Laden vom alten Schrüfer, ihr erster Blick auf die Möglichkeit einer ganz anderen Welt.

»Das muss mehr als ein Vierteljahrhundert her sein.« Sie kapitulierte mit einem Lachen vor der Zahl.

»Zweiunddreißig Jahre«, sagte Gregor, seine langen Finger ineinander faltend, um die Hände dann sorgsam auf den Tisch zu legen wie einen Zahlenbeweis. Noch immer schaute er sie mit dieser ruhigen Erwartung an.

Frieda starrte zurück, musterte ihn, versuchte, die Zeit von seinen Händen abzuziehen, von diesem Gesicht. »Du warst auch da?«, fragte sie.