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Die Frage der Sphinx
Die Katze wusste lange nicht, was es zu bedeuten hatte, dass die Frau so unruhig war. Den halben Morgen schon war sie herumgelaufen und hatte Sachen aufgehoben und an einen anderen Platz gelegt. Die Katze kam gar nicht hinterher damit, all diesen Veränderungen nachzuspüren. Viele ihrer vertrauten Verstecke waren belegt worden durch abgestellte Dinge, Lücken im Regal, durch die sie gerne schlüpfte, waren verstopft, angenehme Knäuel aus Stoffen aufgelöst oder ersetzt durch sterile Stapel, und wohlige Höhlen waren mit einem Mal unangenehm gelüftet.
Wollte sie eine dieser Veränderungen vorsichtig erforschen, wurde sie schon aus dem Weg geschoben, um einer neuen Platz zu machen. Der Furor steigerte sich noch, als jenes brüllende Schlauchgerät hervorgeholt wurde, dass immer so viel Lärm machte und die Laune der Frau zuverlässig verschlechterte, wann immer sie es hinter sich herzog und gegen die Möbel rumsen ließ. Die Katze hatte nie verstanden, warum diesem gemeinsamen Feind der Verbleib im Territorium gestattet wurde. Als auch noch ein Eimer mit Wasser auf der Bildfläche erschien, floh die Katze über die Balkone auf dem vertrauten Weg über den sonnenwarmen Schoß des Nachbarn, der vergeblich hinter ihr herbrüllte.
Als die Katze wiederkam, musste sie sich durch eine vollkommen neue Geruchslandschaft tasten. Und auch die emotionalen Landmarken hatten sich fremdartig verschoben. Sie wurde hochgehoben und überfallartig gekrault, dann ohne Vorwarnung wieder abgesetzt und ignoriert. Ihr beleidigtes Blinzeln blieb unbemerkt. Die Frau werkelte weiter.
Sie gab dabei seltsame Laute von sich, die zu produzieren sie normalerweise einem ihrer Kästen überließ. Schließlich hüpfte und zuckte sie herum wie ein epileptisches Jungtier. Die Katze flüchtete sich auf einen Schrank und überlegte. Sollte all ihre Arbeit vergebens gewesen sein?
Andererseits spürte sie unter der sinnlosen Hektik etwas Altvertrautes, Pochendes, so beunruhigend und verführerisch wie der Puls eines Beutetiers hinter der Wand, so unwiderstehlich wie der Ruf eines Artgenossen in der Abendstille über den Dächern. Und doch war es beides nicht.
Jetzt war die Frau im Bad und putzte sich. Sie brauchte lange dafür, wechselte mehrfach ihr Fell. Mit energischen Bürstenstrichen rupfte sie durch ihr Kopfhaar. Die Katze konnte die Funken sprühen fühlen. Die ganze Frau knisterte. In ihren Hüften lag eine Bewegung, die, in einen Schweif verlängert gedacht, verdächtig schlängelte und zuckte. Und doch glich sie nicht der Kätzin auf der Mauerkrone, eher der Sphinx am Wegrand, die ihre Ruhe aufgab für die entscheidende Frage, mit der sie töten würde oder stürzen.
Diesmal war es anders. Die Katze begriff. Etwas drohte ihrer beider ganze Welt auf den Kopf zu stellen. Etwas würde kommen. Und auch das spürte die Katze in der Frau: Furcht. Daneben Freude. Unruhe und dazu die Stille der Tiefe, die unter allem ruht. Doch davon nur eine Ahnung, in den Augenblicken, in denen sie innehielt und vor sich hin schaute auf etwas, das sich noch nicht enthüllt hatte.
Die Frau war nicht auf der Jagd. Sie war die Kämpferin auf dem Weg ins Duell. Eine jener Auseinandersetzungen, bei der man einander schlicht gegenübertrat, sich nicht bewegte, nicht schrie, nicht drohte. Es entschied sich alles schon in der Vorbereitung, in der Position, die man einnahm, entschied sich durch das, was man war.
Lange konnte das währen, ein zeitenthobener Moment, die Gegner verbunden nur durch den Blick. Und dann enthüllte sich alles. In einem einzigen Augenblick. Manchmal brauchte es dabei weder einen Schrei noch einen Schlag. Ein Augenaufschlag konnte genügen. Manchmal geschah es lautlos. Es floss auch kein Blut. Der Verlierer schlich wimmernd davon.
Diesmal schien die Frau es vor ihr begriffen zu haben. Es zählte nur der Moment. Aber würde sie standhalten? Rechtzeitig mit dem Herumzappeln aufhören?
Die Katze auf dem Schrank peitschte mit dem Schwanz. Was immer durch diese Tür kam; sie würde ihm zu begegnen wissen.