23

Echos aus der Zukunft

Frieda sagte sich vor, dass es ein rein berufliches Treffen war. Gregor würde sein Manuskript dabeihaben; das ›Postamt in der Mondscheingasse‹. Sie würden alles gemeinsam durchgehen. Sie hatte ihrerseits ihre Skizzen parat, ihre Gedanken geordnet. Tee gekocht. Eine Schüssel Erdbeeren bereitgestellt. Es war noch immer Erdbeersaison, ihr Obsthändler hatte es ihr versichert. Nichts war unschuldiger als Erdbeeren um diese Jahreszeit.

Den Hausputz hatte es gebraucht. Sie war mit den ersten Entwürfen für das Engel-Buch von Eva Herb fertig geworden – auch etwas, das sie Gregor gerne zeigen wollte. Solche Zäsuren verlangten nach einem Ausdruck. Ein Auftrag ging, ein anderer kam, dazwischen schaffte sie Ordnung, das half ihr bei der Kreativität. Was hatte sie vergessen? Frieda schaute sich in ihrem Wohnzimmer um. Sollte sie doch lieber Hosen tragen?

Das Telefon klingelte. Yvonne. »Na, vor der Hochzeit kalte Füße bekommen?«, neckte Frieda sie.

»Sei nicht albern.« Yvonne verstand den Scherz nicht. Eine Hochzeit war eine ernste Angelegenheit, voller Arbeit und Planung. Nur ein Haus zu bauen oder ein Kind zu kriegen war anspruchsvoller. »Erinnere mich daran, dass ich das kein drittes Mal tun werde.«

Frieda versprach es, folgte dem weiteren Gespräch aber nur noch oberflächlich. Die Zeiger der Uhr auf ihrem Regal rückten immer weiter vor. Um 16 Uhr wollte er hier sein. Sie musste dauernd an die bevorstehende Begegnung denken und an die seltsame Zweiheit der Gefühle, die sie in ihr auslöste. Sie war aufgeregt und ruhig zugleich, seltsam, dass so etwas möglich war. Aber bei aller Zappeligkeit fühlte sie doch diese Gewissheit, dass alles sich unausweichlich vollziehen würde, Schritt für Schritt. Nur sollte sie jetzt langsam die Erdbeeren aus der Kühlung nehmen.

Gregor war ihr zur selben Zeit fremd und vertraut, obwohl das völlig verrückt war. So, wie er es darstellte, kannten sie einander bereits mehr als zweiunddreißig Jahre, eine halbe Ewigkeit, so, als wären sie alte Freunde.

Aber wenn sie ihre Begegnungen zusammenzählte, kam sie auf eine Nettosumme von nur wenigen Stunden: eine halbe Stunde auf der Beerdigung, aber gut, danach im Café war die Zeit irgendwie wie im Flug vergangen; sie hatten bestimmt zwei Stunden dort gesessen, hatten im Anschluss noch in eine Kneipe in der Innenstadt gewechselt, hatten sich irgendwie gar nicht trennen können. Frieda musste lächeln, als sie daran dachte. Dann vier Stunden am Tisch bei Maja und Tobias; geredet hatten sie da aber höchstens eine halbe miteinander. Auf der Verlobung von Yvonne: eine halbe Minute. Dasselbe auf der SüdArt, vielleicht weniger.

Und damals in der Rahmenhandlung? Sie hatte gar kein Gespür dafür, wie lange sie sich da miteinander unterhalten hatten. War es überhaupt während der Arbeit gewesen oder erst danach? Hatten sie hinter dem Ladentisch gestanden oder im Hinterzimmer, auf dem mit Sägespänen übersäten Boden der Werkstatt? Sie bekam das Bild nicht in den Kopf; da war kein Drumherum, keine Geräusche und Gerüche, keine anderen Gespräche als nur dieses eine. Sie mussten einander dort doch mehrfach begegnet sein?

»Weißt du eigentlich, was aus dem alten Schrüfer geworden ist?«, fragte sie unvermittelt und erfuhr von Yvonne, dass er vor zehn Jahren an Kehlkopfkrebs gestorben war.

»Wieso willst du das jetzt wissen?«

Alles, was Frieda wusste, war, dass sie damals in der Rahmenhandlung den Moment dieses Gesprächs geteilt hatten. Dass da dieser Junge in seiner jugendlichen Zuversicht vor ihr gestanden hatte. Oder hatte er gesessen, auf der Ecke einer Tischplatte? Sie meinte, sich an eine vorgeneigte lässige Haltung zu erinnern. Aber auch das war nur Teil des Moments. Eines Moments, von dem sie jahrzehntelang nichts mehr gewusst hatte. Bis er sich zu ihrer Überraschung erhoben hatte, aus ihrer Erinnerung, wie ein versunkener Kontinent aus dem Meer.

»Was? Ja, Venedig wird sicher toll.«

Es musste aber doch mehr als ein Moment gewesen sein, wenn er ihr dabei die gesamte Handlung seiner Geschichte erzählt hatte? Frieda berechnete im Kopf eine halbe Stunde dafür und musste sich gestehen, dass sie diesen Gregor Lenz somit netto kaum einen Tag lang kannte. Ein Tag – das war doch im Grunde bedeutungslos. Ein Tag, zwei Minuten und zweiunddreißig Jahre.

»Für die Hochzeitsfotos habe ich Bernd engagiert«, sagte Yvonne gerade. »Kommt ihr übrigens zusammen auf die Hochzeit?«

»Nein«, erwiderte Frieda. Für einen Moment war sie aus ihren Betrachtungen gerissen. Sie sah sich in ihrer aufgeräumten, seltsam sauberen Wohnung stehen. Und ihr Herz klopfte.

Schon fuhr die Achterbahn in die nächste Gedankenschleife. Ein einziger gemeinsamer Tag! Aber wenn das die Wahrheit war, warum fühlte die Begegnung mit Gregor sich dann so ungemein bedeutungsvoll an? War es etwa nicht kindisch, dieser früheren Begegnung so viel Gewicht zuzumessen?

Frieda glaubte irgendwie, mehr von ihm zu begreifen also von anderen Menschen, weil sie durch die plötzliche Wiedererinnerung diese Chance bekommen hatte, sein junges Ich gegen sein altes zu halten. Mühelos erkannte sie das eine im anderen wieder; beide gehörten zusammen, spiegelten sich ineinander, vertieften das Bild von ihm. Die heutige Zurückhaltung und Bescheidenheit, gegen das damalige zukunftsfrohe Lodern gehalten, offenbarte keinen Widerspruch; nein, alles befand sich in guter Balance. Er wirkte so klar, gelassen und lebendig. Nein, sie würde bei dem Rock bleiben. Aber vielleicht eine andere Bluse?

»Nein, Yvonne, ich bin nicht böse, dass Maja die Trauzeugin wird.«

Aber warum, wenn das alles nichts bedeutete, hatte sie dann diese seltsam gespaltenen Empfindungen? Einerseits war da diese Aufregung, diese aufkeimende – nein, sie wollte das nicht in Worte fassen. Sie hatte mit den romantischen Sehnsüchten gerade erst abgeschlossen, für eine Phase der dringend benötigten Rekonvaleszenz. Eine überhastete Romanze war sicher nicht das, was der Arzt empfehlen würde. Das kam erschwerend hinzu.

Und was für eine innere Sicherheit war das überhaupt, die unter und neben all der Aufregung existierte und diese dabei nicht im Mindesten dämpfte? Auf welchen zwei Ebenen spielten sich diese Dinge bitte schön ab?

»Ich muss jetzt aufhören«, sagte sie. »Ich erwarte einen neuen Kunden.«

Yvonne wünschte ihr Glück. Frieda legte auf. Jetzt war es endgültig und unausweichlich still in der Wohnung. Sie stellte sich vor den Spiegel im Flur. Schicksal.

Gregor hatte das Wort ganz unbefangen in den Mund genommen, abends in der Kneipe, nach Frau Singers Beerdigung. »Dann ist es wohl Schicksal?«, murmelte sie ihrem Spiegelbild zu.

Da klingelte es an der Tür.