Elsbet wirkte angestrengt. Schon als Tabori am frühen Abend zuvor unangemeldet im Lerup Strandhotel aufgetaucht war, war der Empfang eher kühl gewesen. Sie hatte das Haus bis unters Dach voll gehabt mit den Gästen einer Hochzeitsfeier, zu denen – wenn Tabori sie richtig verstanden hatte – auch der dänische Landwirtschaftsminister gehörte. Die Küche rotierte, der Speisesaal war bis auf den letzten Platz besetzt, Tabori wartete über eine Stunde in dem kleinen Rauchersalon, bis eines der Bedienmädchen mit seiner Scholle kam. Das Bedienmädchen war nicht die Vietnamesin, die er bei seinem letzten Aufenthalt in seiner Ratlosigkeit des Diebstahls oder zumindest der Unachtsamkeit verdächtigt hatte, schien aber genau zu wissen, wer er war beziehungsweise welche Ungeheuerlichkeit er sich geleistet hatte. Wortlos hatte sie ihm einen nur kniehohen Tisch eingedeckt, das Essen serviert und war ebenso wortlos wieder verschwunden.
Später hatte er noch einen langen Spaziergang durch die grünen Dünen bis zur Grasklippe von Skovsbjerg gemacht. Für einen Moment hatte er überlegt, ob er jetzt gleich den steilen Pfad zu dem von Gras und Heidekraut überwucherten Bunker hinauflaufen sollte, aber in der einsetzenden Dämmerung hätte er ohnehin kaum noch etwas erkennen können. Also war er stattdessen barfuß und mit hochgekrempelten Hosenbeinen am Flutsaum zurückgelaufen. Noch später hatte er hellwach in seinem Bett gelegen – Elsbet hatte nur noch ein nicht benutztes Dienstbotenzimmer direkt über der Küche mit Blick auf den Abfallcontainer für ihn gehabt – und auf die Geräusche gehört, die die anderen Hotelgäste machten, als sie zurück in ihre Zimmer kamen. Irgendwann in der Nacht war er noch mal hochgeschreckt, als unter seinem Fenster ein lautstarker Streit ausgetragen wurde. Eine Weile hatte er hinter der Gardine gestanden, aber kaum mehr erkennen können als den Koch, der leicht an seiner hohen Mütze und der weißen Schürze zu identifizieren war, und dem vagen Umriss einer Frau, die womöglich Elsbet selber gewesen sein konnte. Tabori war sich sicher, ihre Stimme erkannt zu haben, hatte aber nicht gewagt, das Fenster zu öffnen.
Jetzt lief Elsbet schon zum wiederholten Mal mit dem Handy am Ohr an seinem Frühstückstisch vorbei. Es war kurz nach acht, die Hochzeitsgäste waren noch nicht erschienen, Elsbet hatte ihm eher barsch erklärt, dass sie ab neun seinen Tisch brauchen würde. Als er sich die zweite Tasse Kaffee einschenkte, setzte sie sich plötzlich zu ihm und schob ihm einen fotokopierten Handzettel hin. »Efterlysning« las Tabori die fett gedruckten Buchstaben, darunter war das Schwarz-weiß-Foto von Elsbets Dackel, Frederik, mit dem Eingang zum Hotel im Hintergrund, und ein paar Zeilen auf Dänisch, von denen Tabori nur das Datum, 6. September, ohne Mühe verstand.
»Ich bin im Stress«, sagte Elsbet, als wollte sie sich für ihre wenig gastfreundliche Hektik entschuldigen. »Frederik ist entlaufen, in den Tagen, als du hier warst, irgendwo im Geländer, und er ist immer noch verschwunden.«
»Wo?«, fragte Tabori irritiert von dem »Geländer«, gleich darauf begriff er, was sie meinte.
»Im Dünengeländer«, sagte Elsbet, »und nichts mehr gesehen von ihm seit da, aber eben hat ein Herr angerufen von Hjardestrand, dass er einen Dachshund gesehen hat, aber das war schon letzte Woche. Ich weiß nicht, was ich machen soll, er war süß, du kennst ihn, vielleicht hat ihn ein Gast …« Sie machte eine Handbewegung, als würde jemand etwas in die Tasche stecken. »Aber ich glaube das nicht, ich kenne meine Gäste, die tun das nicht.«
Tabori nickte.
»Warum bist du hier?«, fragte Elsbet.
»Ich brauche deine Hilfe.«
Tabori erklärte, dass er gerne einen Blick in ihr Gästebuch werfen würde.
»Ich muss wissen, ob jemand hier war, der die junge Frau kannte, die plötzlich abgereist ist, du weißt schon, als ich …«
»Unmöglich«, unterbrach ihn Elsbet. »Meine Gästen waren alles dänische Leute, nur die Frau war deutsch. Und sie kannte niemand hier.«
»Kann ich vielleicht trotzdem …«
Elsbet schüttelte den Kopf.
»Meine Gästebuch ist heilig, da kannst du nicht hineinsehen. Da musst du mit einem Polizist wiederkommen.«
»Sie war bei der Polizei«, sagte Tabori. »Und sie ist tot. Ich glaube, dass sie ermordet wurde. Deshalb bin ich hier.«
»Du hast gesagt, du bist kein Polizist mehr.«
Elsbet blickte ihn fragend an, mit einer Spur von Argwohn, als wäre ihm tatsächlich nicht zu trauen. Jedenfalls nicht mehr seit der Sache mit dem vietnamesischen Zimmermädchen.
»Es ist kompliziert«, sagte Tabori. »Aber ich muss wissen, ob sie sich hier mit jemandem getroffen hat. Vielleicht hat sie irgendjemand gesehen. Wie war sie überhaupt hier, weißt du das?«
»Ich glaube, mit ein kleines Auto, aber ich weiß nicht genau. Vielleicht blau, ein japanische Marke. Und sie hat einen ganzen Tag auf der Terrasse gesessen und Zeitung gelesen, das war derselbe Tag, an dem sie verswunden ist. Obwohl sie noch einen Tag mehr bezahlt hatte. Vielleicht musst du dahin gehen, wo die Touristen alle sind, und fragen, ob sie jemand gesehen hat. Es gibt ein Kerzenfabrik für die Touristen und ein Keramiker-Künstler und noch andere Stellen, wo man hingehen kann hier, aber das weißt du selber, du warst schon viel hier. Und du bist der Polizist oder auch nicht, und da musst du jetzt deine Arbeit machen und ich muss mich um meine Gästen kümmern, weil das meine Arbeit ist. – Wie lange willst du bleiben?«, setzte sie dann hinzu, während sie bereits aufstand und einem Bedienmädchen winkte, Taboris Tisch abzuräumen.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Tabori. »Wäre schön, wenn ich das Zimmer noch behalten könnte.«
»Ich brauche es nicht. Das Zimmer geht nicht für meine anderen Gästen, weil es zu alt und zu slecht ist. Ich will es im Herbst renovieren, dann mache ich es gut für die nächste Saison.«
»Ich hoffe nicht, dass ich es so lange brauche«, sagte Tabori in dem halbherzigen Bemühen, einen Witz zu machen. Den aber Elsbet ohnehin nicht verstand.
»Wenn du wieder essen willst heute Abend, brauche ich dich angemeldet«, sagte sie nur, gleich darauf klingelte wieder ihr Handy. Die Herzlichkeit, mit der sie im Weggehen ihr Telefonat führte, stand im deutlichen Gegensatz zu ihrem eher distanzierten Verhalten Tabori gegenüber. Wirklich willkommen bin ich hier nicht mehr, dachte er. Ich muss mich wohl für die Zukunft nach einer anderen Ferienbleibe umsehen, auch wenn es schade ist.
Auf dem Parkplatz wurde er für einen Moment von den Autos der Hochzeitsgäste abgelenkt, die chromglänzend in der frühen Morgensonne standen. Besonders ein knallroter Jaguar E fesselte seine Aufmerksamkeit. Ein paar Meter weiter war ein Citroen aus den Dreißiger Jahren geparkt, wie Alain Delon ihn gerne in den alten französischen Gangsterfilmen fuhr. Tabori erinnerte sich an eine Geschichte, die ihm sein Vater mal erzählt hatte: Dass man selbst mit zehn kräftigen Männern nicht in der Lage sei, einen Citroen umzuwerfen. Tabori hatte keine Ahnung, ob sein Vater da aus eigener Erfahrung gesprochen hatte, aber bis heute hatte er das Bild vor Augen, wie eine Riege muskelbepackter Ganoven an einem Citroen schaukelten – mit seinem Vater zwischen ihnen, im zweireihigen Anzug mit breitem Revers und Gangsterhut mit nach unten gebogener Krempe.
Tabori überlegte, ob er mit seinem Handy ein Foto von dem Citroen machen sollte. Vielleicht so, dass im Hintergrund der Jaguar zu erkennen wäre. Ein knallroter Jaguar E war immer der Traum seiner Jugendtage gewesen. Aber egal, wie er sich verrenkte, die anderen Autos störten das Bild, das er gerne haben wollte, mit ihrer plastikprotzenden Stillosigkeit. Aus den Augenwinkeln sah er den Koch, der rauchend an der Hintertür stand und ihn beobachtete. Tabori schob das Handy zurück in seine Lederjacke und nickte. Der Koch nickte nicht zurück, sondern drehte sich um und verschwand wieder in seiner Küche.
Tabori fühlte sich seltsam frustriert. Nicht wegen des Fotos, das ihm eigentlich ohnehin egal war. Aber er hatte keine Ahnung, was er jetzt tun sollte. Irgendein unklares Gefühl zog ihn zur Grasklippe und dem Bunker hinauf, ohne dass er gewusst hätte, was er dort eigentlich zu finden hoffte. Irgendwelche Spuren, die Sommerfelds Theorie belegten, dass dort oben ein Kampf stattgefunden hatte, bei dem die Anwärterin ums Leben gekommen war. Aber wieso überhaupt der Bunker von Skovsbjerg? In dem weitläufigen Dünengelände gab es weitere Bunker, manche bis über den Eingang im sandigen Boden versackt, andere von den Jugendlichen auf dem nahe gelegenen Campingplatz als heimlicher Treffpunkt für erste flüchtige sexuelle Begegnungen oder auch nur als willkommene Übungsfläche für unbeholfene Graffitis missbraucht. Und auch am Strand waren geborstene Betonreste, die der Brandung als Wellenbrecher trotzten. Wo sollte er anfangen zu suchen? Wäre es nicht sinnvoller, zunächst das Szenario der Ermordung als gegeben hinzunehmen und also den Täter zu suchen, den es ja geben musste? Der die Anwärterin gekannt hatte. Vielleicht. Sicher war auch das nicht. Vielleicht gab es auch gar keine Verbindung zwischen Opfer und Täter. Keine Verbindung außer der Tatsache, dass sie sich hier begegnet waren und diese Begegnung mit dem Tod der Anwärterin endete. Aber wenn es wirklich hier passiert war, war auch der Täter hier gewesen. Und irgendjemand musste ihn gesehen haben.
Ich komme nicht weiter, dachte Tabori, ich drehe mich im Kreis. Und: Lepcke fehlt mir! Seine Fähigkeit, Prioritäten zu setzen, wenn es zu viele lose Enden gab. Erst jetzt wurde Tabori klar, wie oft es Lepcke gewesen war, der seinen eigenen Überlegungen eine Richtung vorgab, ohne die Taboris Intuition hilflos ins Leere gelaufen wäre. Und diese Erkenntnis ließ seine Unschlüssigkeit plötzlich zur Ohnmacht anwachsen, er war nicht mehr in der Lage, irgendeinen klaren Gedanken zu fassen. Sich auf das Naheliegende zu konzentrieren, einen Schritt nach dem anderen zu machen. Aber was war das Naheliegende? Welcher Schritt würde ihn weiterbringen?
Er schloss die Tür des Passats auf, nur um sie gleich darauf wieder zuzuknallen und mit langen Schritten zum Hotel zurückzustürmen.
Elsbet stand an der Rezeption. Der rotgesichtige Mann neben ihr, der Tabori augenblicklich an den schwitzenden Wanderer auf der Tuborg-Reklame erinnerte, war wahrscheinlich der dänische Landwirtschaftsminister, von dem gestern die Rede gewesen war. Tabori ignorierte ihn und beugte sich über den Tresen zu Elsbet.
»Was war das für ein Streit zwischen dir und dem Koch?«
Zwischen Elsbets Augenbrauen bildete sich eine steile Furche.
»Undskyld«, sagte sie zu dem Landwirtschaftsminister, »et øjeblik.« Sie winkte Tabori mit dem Kopf, dass er ihr folgen sollte. Im Durchgang zur Gästetoilette griff sie schmerzhaft nach seinem Arm. Ihre Stimme war kaum mehr als ein heiseres Flüstern, das ihre Wut nicht verbergen konnte.
»Was soll das? Du siehst, dass ich in ein Gespräch mit eine meiner Gästen bin.«
»Der Streit«, wiederholte Tabori. »Letzte Nacht. Direkt vor meinem Fenster.«
»Kein Streit. Nur ein Disput zwischen dem Küchenchef und seinem Boss, die es nicht mag, wenn sich jemand zu wichtig macht.«
»Du hast mich nicht verstanden: Ich mag es nicht, wenn sich jemand wichtig macht. Egal, ob es eine Koch ist oder eine frühere Polizist. Und jetzt lass mich mein Job tun bitte!«
Sie drehte sich grußlos um. Gleich darauf hörte Tabori, wie sie sich nochmals bei dem Landwirtschaftsminister entschuldigte.
Er ging ins Gästeklo und ließ kaltes Wasser über seine Handgelenke laufen.
»Du bist ein Idiot«, sagte er laut zu seinem Spiegelbild. Du musst ihr nachher irgendwas mitbringen und dich bei ihr entschuldigen, setzte er in Gedanken hinzu.
Als er zwei Minuten später vom Parkplatz fuhr, ließ er die Kupplung so schnell kommen, dass der Kies unter den Vorderreifen aufspritzte. Der Himmel über ihm war von einem unnatürlichen Blau. Tabori war schwindlig.