»Natürlich, was denken Sie? Schumacher fährt Auto, oder?« Der Polizist tippte sich an die Stirn. »Er spinnte. Mit hundert durch Halvrimmen! Vielleicht hatte er gedacht, es gibt hier keine Polizei in der Nacht, aber da irrte er sich, wir schlafen nicht, auch nicht morgens um vier …«
Jetzt hatte Tabori auch eine Zeitangabe, fehlte nur noch das Datum, aber die Frage erschien ihm zu auffällig.
»Wie sah der Mann aus?«, unterbrach er den Polizisten stattdessen. »Vielleicht kenne ich ihn?«
Die Antwort ließ ihn zusammenzucken.
»Vielleicht so alt wie Sie, aber mit einem besseren Haarschnitt. Ein Oberkommissar. Mit einem Tattoo am Arm, das wäre nicht erlaubt bei uns. Haben Sie ein Problem mit Nazi-Leuten bei der Polizei in Deutschland?«
»Nein, ganz sicher nicht«, sagte Tabori wider besseres Wissen.
»Und ein weißer Range Rover. Sehr teuer für einen Oberkommissar. Ein guter Kollege?«
Tabori zuckte mit den Schultern und schüttelte gleichzeitig den Kopf.
»So kennen Sie ihn nicht?«
»Keine Ahnung, ich denke, nicht, nein.«
»Aber er kam auch aus Hannover, so wie Sie.«
»Hannover ist groß. Da kannst du unmöglich alle Kollegen kennen.«
Tabori zuckte erneut mit den Schultern.
»Und auch nur ein Zufall, dass zwei Polizeimänner alleine hier auftauchen, ohne Familie, um angeblich Urlaub zu machen?«
Tabori blickte hoch.
»Was mit dem Rennfahrer war, weiß ich nicht. Was mich angeht, bin ich gerade frisch geschieden«, log er drauflos. »Und Sie können mir glauben, dass ich lieber mit meiner Frau und den Kindern hier wäre, mit meiner Ex-Frau, meine ich …«
Endlich schien er den richtigen Ton getroffen zu haben. Die beiden dänischen Polizisten reichten ihm seine Ausweise zurück.
»Manchmal hilft Alkohol«, sagte der Ältere mit einem Blick, der verriet, dass er wusste, wovon er sprach. »Aber nicht, wenn Sie mit dem Volkswagen unterwegs sind. Sonst kriegen wir Sie!«
Er klopfte zum Abschied mit der flachen Hand aufs Dach.
»Ich werd’s mir merken«, versprach Tabori. Noch im Anfahren drückte er den Zigarettenanzünder und zog dann gierig die ersten Züge in die Lunge.
Auf dem Rückweg zum Hotel bog er noch einmal ab. Er fuhr den Passat so weit wie möglich hinter die Friedhofsmauer der weiß getünchten Kirche und wartete, bis unten auf der Landstraße der Polizeiwagen vorüberschlich und hinter den Hügeln verschwand.
Die Felder sind zu trocken, dachte er, die Ernte muss eine Katastrophe gewesen sein dieses Jahr. Er vergewisserte sich noch einmal, dass niemand in der Nähe war, der ihn beobachten konnte. Dann nahm er den blauen Müllsack und den Spaten aus dem Kofferraum und ging die paar Meter zum Wald zurück. Er fand schnell eine mit trockenen Kiefernnadeln bedeckte Kuhle, die ihm passend erschien. Der Spaten ließ sich mühelos in den lockeren Sand stechen, nur einmal musste Tabori eine Wurzel durchtrennen.
Bevor er die Grube zuschüttete, suchte er ein paar faustgroße Steine, um zu verhindern, dass ein anderer Fuchs oder die Wildschweine den Kadaver wieder ausgruben. Als er die Kiefernnadeln mit den Händen über der Grabstelle verteilt hatte, sah der Platz so unberührt aus wie zuvor. Er fragte sich, wie er jemals auf die Idee gekommen sein konnte, Elsbet den Kopf ihres Dackels mitbringen zu wollen. Im Nachhinein machte es ihm manchmal Angst, zu welchen Handlungen er fähig war, wenn er unter Druck stand. Als würde irgendetwas aussetzen in seinem Kopf und ihm eine Logik vorgaukeln, die jeder vernünftigen Grundlage entbehrte. Aber so war es jetzt in Ordnung, er würde den Dackel mit keinem Wort mehr erwähnen, und Elsbet würde sich irgendwann damit abfinden, dass Frederik nicht mehr zurückkehren würde. Als er wieder in den Passat stieg, sah er aus den Augenwinkeln eine alte Frau, die gebückt einen Grabstein von Moos und Flechten säuberte.
Er beschloss, den kleinen Umweg über Lerup Strand zu fahren und sich im Strandkiosk eine Portion Pommes frites zu holen. Als er die Werbetafel mit den grellroten Würstchen sah, änderte er seine Bestellung und verlangte auch noch eine Extra-Portion Röstzwiebeln dazu. Schon bevor er den ersten Bissen nahm, wusste er, dass es ihm nicht schmecken würde. Er versorgte sich mit drei Flaschen Tuborg Lys-Øl, die er dann unter der Jacke durch den Hintereingang in sein Hotelzimmer schmuggelte, als wäre er sonst womöglich irgendjemandem Rechenschaft schuldig.
Sein Zimmer war nicht sauber gemacht worden, offensichtlich galt er nicht wirklich als Gast oder Elsbet wollte unter allen Umständen vermeiden, dass er wieder etwas vermissen und erneut eine ihrer Angestellten beschuldigen würde.
Er hatte vergessen, ihr eine Kleinigkeit mitzubringen, um sich bei ihr zu entschuldigen. Der Kerzenladen wäre der richtige Ort gewesen, um etwas für sie zu besorgen! Einen kleinen Dackel aus Porzellan zum Beispiel. Nein, dachte er gleich darauf, das geht gar nicht. Ich muss morgen noch mal in den Supermarkt, vielleicht haben sie hier eine besondere Schokolade, oder auch Pralinen, das ist angemessener. Ich darf auf keinen Fall wieder vergessen, mich darum zu kümmern.
Er setzte sich aufs Bett und rief Lisas Nummer im Display auf. Das Netz war ausreichend, der Akku noch fast voll. Lisa nahm schon nach dem zweiten Klingelzeichen ab. Tabori redete ohne Pause, am Schluss kam er noch mal auf den Dackel zu sprechen: »Ich nehme an, dass Frederik eine Spur aufgenommen hat, vom Parkplatz in den Bunker, da war ja Blut an den Zementbrocken, und wenn sie die Leiche zum Auto transportiert haben, muss es eine Spur gegeben haben. Wahrscheinlich ist der Fuchs der gleichen Spur gefolgt …«
»Lass mich noch mal die einzelnen Punkte wiederholen«, unterbrach ihn Lisa, »damit ich es kapiere. Du hast die Anwärterin im Hotel gesehen, sie hat dir einen Brief unter der Tür durchgeschoben, dann ist sie abgereist.«
»Sie hat sich einen Pullover in der Mohair-Farm gekauft …«
»Dann ist sie zur Klippe gefahren, wo sie sich mit Damaschke getroffen hat. Oder wohin er ihr gefolgt war, jedenfalls hat der Junge aus dem Mohair-Laden sie zusammen gesehen.«
»Das war womöglich der erste Fehler«, hakte Tabori ein. »Damit war für Damaschke klar, dass es Zeugen gab, und zwar gleich einen ganzen Trupp von Soldaten, von denen irgendeiner sich an ihn erinnern würde.«
»Gut. Also was immer dann passiert ist, entweder er hat sie umgebracht oder …«
»Sie waren jedenfalls zusammen im Bunker, wo sie ihren Kugelschreiber verloren hat, vielleicht bei einem Kampf.«
»Der Bunker wäre kein schlechtes Versteck für eine Leiche gewesen, aber das hatte sich erledigt, weil es Zeugen gab, die Damaschke am Tatort gesehen hatten.«
»Also ruft er in seiner Panik Respekt an, die einzige Person, von der er glaubt, dass sie ihm helfen kann. Wir müssen unbedingt an sein Handy kommen, um die Anruferliste zu überprüfen.«
»Gehen wir mal davon aus, dass es so war«, redete Lisa weiter, »dann ist Respekt also noch in der Nacht wie eine gesengte Sau nach Dänemark gefahren, um die Sache in Ordnung zu bringen. Nur dass er dabei von der Polizei angehalten wird. Und damit war das Risiko zu groß, dass die dänische Polizei eine Verbindung zu ihm herstellen würde, wenn plötzlich die Leiche einer deutschen Polizeianwärterin exakt in der Gegend auftauchen würde, in der er selber zum gleichen Zeitpunkt gewesen war.«
»Das heißt, es durfte keine Leiche geben«, fasste Tabori zusammen. »Sie mussten sie möglichst weit wegschaffen und hatten nur noch die Idee, das Ganze wie einen Selbstmord aussehen zu lassen. Aber da sind zu viele Punkte, die nicht passen. Es musste doch klar sein, dass auch ein Selbstmord Fragen aufwerfen würde. Und diese Fragen würden zwangsläufig einen Zusammenhang zu ihrer Ausbildung bei den Hundeführern ergeben. Womit auch Respekt wieder in die Schusslinie kommen musste! Denk an die Missbrauchsvorwürfe, die ja im Raum standen …«
»Er ist schon mal davongekommen, ohne dass die Anschuldigungen irgendwelche Konsequenzen ergeben hätten! Und wir wissen nicht, inwieweit er sich vielleicht sicher war, dass ihm nichts passieren würde, vielleicht hatte er irgendwelche Beziehungen nach oben, die ihn schützten.«
»Das wäre eine Möglichkeit«, stimmte Tabori zu. »Aber das müssten wir rauskriegen können. Bleibt der Nissan, den sie in Dänemark zurückgelassen haben. Wieso? Der Wagen würde zumindest darauf hindeuten, dass die Anwärterin vor ihrem angeblichen Selbstmord in Dänemark gewesen war. Auch das würde Fragen aufwerfen …«
»Sie waren in Panik, vergiss das nicht, sie haben nur noch reagiert, sie mussten handeln, es musste schnell gehen. Es wäre noch idiotischer gewesen, das Motorrad zurückzulassen.«
»Bleibt die Frage nach dem Motiv«, sagte Tabori. »Warum? Warum sollte Damaschke die Anwärterin umgebracht haben? Warum hier oben?«
»Er hat gewusst, dass sie reden wollte. Oder sie hatten zumindest Sorge, dass sie es tun würde. Wahrscheinlich hatte sie ja auch anonym die Zeitung informiert, sie müssen gewusst haben, dass die Information von ihr kam. Also haben sie sie beobachtet. Und dann ist Damaschke ihr gefolgt. Als er sie auf der Hotelterrasse gesehen hat, auf der auch du warst, hat er eins und eins zusammengezählt und ist ausgeflippt.«
»Aber wieso sollte er mich kennen? Ich habe nie etwas mit ihm zu tun gehabt. Ich kannte ihn ja auch nicht.«
»Du kanntest auch die Anwärterin nicht, trotzdem hat sie dir geschrieben und wollte deine Hilfe. Ich habe da übrigens auch noch mal drüber nachgedacht. Auch wenn sie dich wahrscheinlich nie persönlich getroffen hat, aber dein Bild war ein paar Mal in der Zeitung, als du den Fall mit dem geklauten Auto des Oberbürgermeisters und der Leiche im Kofferraum damals hattest, und es ging dabei vor allem um deine unorthodoxen Ermittlungsmethoden, weißt du noch? Die BILD hat dich sogar den ›Schimanski von Hannover‹ genannt, ich kann mir gut vorstellen, dass die Anwärterin daraufhin gedacht hat, du bist so was wie ein Held, eben kein normaler Bulle, und deshalb …«
Tabori holte tief Luft.
»Kann sein, aber wieso ist Damaschke jetzt entführt worden? Von wem?«
»Komm zurück«, sagte Lisa. »Da oben hast du nichts mehr verloren. Wenn wir eine Lösung finden wollen, geht das nur von hier aus.«
»Ich wollte mich heute eigentlich noch betrinken«, sagte Tabori, »aber alleine macht das ohnehin keinen Spaß.« Er blickte auf seine Uhr. »Wenn ich jetzt losfahre, könnte ich im Morgengrauen zu Hause sein.«
»Fahr vorsichtig«, sagte Lisa nur. »Ich freu mich!«
Es dauerte einen Moment, bis Tabori Elsbet aufgetrieben hatte. Sie wollte kein Geld von ihm für das »slechte Zimmer«, aber sie bat ihn, nicht wieder unangemeldet zu kommen. Tabori versuchte noch, sich für sein Benehmen zu entschuldigen, trotzdem war er sich fast sicher, dass das Hotel beim nächsten Mal ausgebucht sein würde.
Der Himmel war noch hell. Über dem Horizont lag ein grüngelber Streifen, der sich im Meer widerspiegelte. Das Zirpen der Grillen kam Tabori schriller vor als sonst.
Als er den Nordostsee-Kanal passiert hatte, fing es an zu nieseln. Hinter dem Elbtunnel wurde der Regen stärker, monoton quietschten die Wischerblätter über die Windschutzscheibe. Tabori hielt noch zweimal an, auf einem Parkplatz, um zu pinkeln, und dann an der Raststätte Allertal, um sich ein Päckchen Zigaretten zu kaufen. Dass er seit dem Abend zuvor nicht mehr geraucht hatte, empfand er als persönliche Leistung, die ihm aber gleichzeitig vollkommen sinnlos erschien. Auf dem kurzen Stück bis Hannover schaffte er drei Zigaretten, die vierte steckte er sich an, als er in der Morgendämmerung mit steifem Rücken aus dem Auto stieg.
Der Lieferwagen stand nicht in der Einfahrt. Quer über den Fußweg war ein dunkelgrüner Mercedes aus den Sechziger Jahren mit Berliner Kennzeichen geparkt, die rechte Heckleuchte war mit Paketband geflickt, ansonsten schien der Wagen liebevoll gepflegt zu sein. Tabori kannte niemanden aus Berlin mit einem alten Mercedes.
Die Hunde im Zwinger winselten. Als Tabori die Haustür aufschloss, sprangen Rinty und Beago an ihm hoch und rannten dann vor ihm her in die Küche, wo sie schweifwedelnd und mit vor Freude trappelnden Vorderpfoten darauf warteten, dass er ihnen ein Leckerli geben würde.
Der Zettel auf dem Küchentisch beantwortete zwar Taboris unausgesprochene Frage, irritierte ihn aber dennoch: »Ich bin mit einem Freund unterwegs. Mach dir keine Sorgen. Morgen beim Frühstück erzähle ich dir alles. Küsse. Lisa.«
Lisa hatte keine Freunde, mit denen sie nachts um die Häuser zog, und Lisa ging auch selten irgendwohin, ohne Rinty und Beago mitzunehmen. Auf dem Tisch standen zwei Teller mit Essensresten sowie eine Flasche Wein, die bis auf einen fingerbreiten Rest geleert war, den Tabori jetzt trank. Der Wein war zu süß. Und es war auch nicht Lisas Art, schmutziges Geschirr auf dem Tisch zurückzulassen.
Tabori füllte den Wassernapf für die Hunde auf und stieg die Treppe ins obere Stockwerk hinauf. Rinty und Beago folgten ihm auf dem Fuß, auf dem Treppenabsatz musste Beago niesen. Tabori zog die Luft in die Nase, der Geruch, den er die ganze Zeit schon unbewusst wahrgenommen hatte, war jetzt unverkennbar.
Irgendjemand hatte bei ihnen im Haus Gras geraucht. Im gleichen Moment entdeckte er die runtergetretenen Chucks vor der Tür zum Gästezimmer, sie hatten also Übernachtungsbesuch, und die Turnschuhe zusammen mit dem Dopegeruch ließen keinen Zweifel daran, wer der Gast war.
Die Hunde blickten Tabori erwartungsvoll an.
»Sitz«, sagte er. »Bleib.«