Als sie aus der Obstweinkneipe zurückkamen, dämmerte es bereits. Lepckes Auto stand nicht mehr auf der Straße, Lisa musste es ebenfalls registriert haben, sagte aber nichts. Im Garten zwitscherte eine Amsel, eine andere antwortete. Der Himmel war wieder wolkenlos, es würde ein heißer Tag werden. In den Nachrichten war die Rede von einer verspäteten Hitzewelle, die sich über Westeuropa ausbreitete, an der französischen Atlantikküste wüteten Waldbrände, mehrere Dörfer hatten evakuiert werden müssen. Aber es war eine Meldung aus den Lokalnachrichten, die Lisa und Tabori noch einen Moment bei eingeschaltetem Radio im Auto sitzen ließ: Aus angeblichem Platzmangel auf dem Gelände des Polizeipräsidiums waren bereits seit dem letzten Winter zwanzig fabrikneue Streifenwagen auf einem öffentlichen Parkplatz am Messegelände abgestellt, die nicht zum Einsatz kamen, weil sie aus unerfindlichen Gründen keine grünen Plaketten für die innerstädtische Umweltzone erhalten hatten. Und niemand fühlte sich zuständig, bei einem Teil der Fahrzeuge waren bereits die Räder abmontiert oder andere Teile wie Außenspiegel oder Wischerblätter verschwunden. Gegen Mittag sollte es jetzt eine Pressekonferenz geben, in der Polizeipräsident Dr. Stephan Heinisch Stellung dazu beziehen wollte, wieso man hier Material im Wert von mehr als einer Million Euro sozusagen wörtlich in den Wind schrieb …
»Na, hoffentlich kommt dein feiner Freund dann überhaupt dazu, sich nebenbei auch noch um den Filz im Rotlicht-Milieu zu kümmern«, sagte Lisa und schaltete das Radio aus. Ihre Stimme troff vor Sarkasmus und ließ keinen Zweifel daran, dass sie Heinisch für genauso inkompetent und verlogen hielt, wie sie es nahezu jedem in irgendeiner Führungsposition unterstellte.
»Er muss ja nicht für jeden Wagen persönlich gefälschte Plaketten basteln«, grinste Tabori, »hoffe ich jedenfalls für ihn.«
Er stieg aus und streckte sich. Er merkte erst jetzt, wie müde er war.
»Kaffee oder Bett?«, fragte Lisa, während sie um den Passat herum auf Tabori zukam.
Tabori war sich nicht sicher, wie sie das mit dem Bett meinte, die gemeinsam durchzechte Nacht hatte eine Nähe zwischen ihnen hergestellt, wie sie schon lange nicht mehr da gewesen war. Im Übrigen war ihm durch Lisas Affäre mit Lepcke – oder vielmehr seine eigene und unerwartet eifersüchtige Reaktion darauf – plötzlich klar, dass er vielleicht doch mehr von Lisa wollte als die bloße Freundschaft in einer Wohngemeinschaft.
Lisa stand jetzt direkt vor ihm, sie tippte ihm mit den Fingerspitzen leicht gegen die Stirn: »Irgendjemand zu Hause?«
Lisas Augen waren im Dämmerlicht wie dunkle Höhlen in dem bleichen Oval ihres Gesichts, er spürte den Luftzug ihrer Bewegung, das Knistern zwischen ihnen war fast greifbar. Als sie den Kopf leicht nach hinten beugte, fühlte er, wie irgendetwas in seinem eigenen Kopf leer lief, als würde die Zeit stehen bleiben und es gäbe nur noch ihn und sie und …
Er zog die Hände aus den Taschen seiner Jacke – und dann waren plötzlich die Hunde da. Vor Freude wild kläffend kamen sie durch den Garten gejagt, die beiden Rudelchefs voran, und bevor Tabori noch reagieren konnte, hatte Rinty bereits zu seinem Lieblingstrick angesetzt und sprang ihm aus vollem Lauf mit vorgestreckten Vorderpfoten genau in den Bauch. Der Aufprall ließ Tabori vor Überraschung keuchend zusammenklappen und in die Knie gehen, Rinty leckte ihm unverzüglich begeistert übers Gesicht. Neben sich hörte er, wie Lisa lachend die anderen Hunde abwehrte, dann war auch Warren da, wieder in dem unvermeidlichen Reitermantel, allerdings – wohl der irrigen Annahme geschuldet, um diese Zeit ohnehin niemanden anzutreffen – mit nichts darunter als einem hellgestreiften Schlafanzug.
Er streckte Tabori die Hand hin und half ihm auf die Füße.
»Wir haben uns noch gar nicht begrüßen können«, sagte er. »Aber was haltet ihr von einem schnellen Espresso? Jetzt, bei mir im Wagen, ich lad euch ein. Ich bringe nur schnell die Hunde in den Zwinger und zieh mir was anderes an, dann bin ich so weit …«
Tabori warf einen Blick zu Lisa hinüber. Sie lächelte leicht spöttisch und nickte. »Wer weiß, wofür es gut ist.«
Tabori zuckte mit den Schultern. Schade, dachte er, auch wenn Lisa wahrscheinlich recht hatte. Dennoch, das Risiko wäre es wert gewesen.
»There’s always next year«, brachte er resigniert grinsend an, eine der typisch irischen Floskeln, wenn es um verpasste Gelegenheiten ging und die Hoffnung das Einzige war, was blieb, um nicht am Leben zu verzweifeln.
»Zum Beispiel«, kam es lachend von Lisa, und Tabori merkte, dass ihre Antwort ihn merkwürdig glücklich machte.
»Hört mal«, sagte Warren in ihr kleines und nur für sie verständliches Zwischenspiel hinein, »also, wenn es gerade nicht passt, dann verschieben wir das, ich meine, ich wollte euch nicht …«
»Schon okay«, sagte Lisa. »Gib uns fünf Minuten, dann sind wir da! Rinty und Beago dürfen mit ins Haus, kümmere du dich um die anderen, ja?«
Als sie in die Küche kamen und den Tisch mit den zwei leeren Weinflaschen und dem voll gehäuften Aschenbecher sahen, gab es noch einmal einen kurzen Moment, in dem sie beide viel zu dicht nebeneinander standen und es schien, als würde jeder nur auf den ersten Schritt des anderen warten, bis Lisa sich fast unwirsch wegdrehte.
»Es ist zu spät«, sagte sie leise. »There’s always next year, lassen wir es dabei. – Ich geh schnell duschen, dauert nur fünf Minuten.«
»Ich räum so lange auf«, nickte Tabori. »Aber wenn Svenja wieder zu sich gekommen ist, sollten wir dringend mit ihr reden. Ich hab keine Lust, jedes Mal ihren Dreck wegzuräumen, das kann sie in ihrer WG machen, aber nicht, wenn sie hier ist …«
»Eher bringe ich Rinty bei, demnächst mit Messer und Gabel zu essen«, war Lisas einziger Kommentar, während sie schon auf dem Weg zu ihrem Zimmer war.
Tabori stellte die leeren Flaschen unter die Spüle, erst als er den Aschenbecher ausleeren wollte, fiel ihm das Foto auf, das unter einen halbvollen Becher mit kaltem Kaffee geschoben war. Ein Schwarzweiß-Foto, das ihn irritiert zu der Wand links und rechts des alten Buffets hinüberblicken ließ. Die Stelle, an die es eigentlich gehörte, stach als leerer Fleck aus den dicht an dicht gehängten Fotos hervor. Lisa und er hatten irgendwann damit angefangen, die Wand vom Boden bis zur Decke mit den verschiedensten Aufnahmen zu tapezieren, die sonst doch nur in alten Alben vergessen worden wären – viele Bilder aus ihrer Kindheit, Schnappschüsse von irgendwelchen Urlaubsfahrten, verwackelte Fotostreifen aus einem Passbildautomaten, auch eine Reihe von Porträts, die sie bei den wenigen gemeinsamen Abendessen mit Freunden gemacht hatten: Lepcke war dabei und natürlich auch Svenja.
Das Foto, das jetzt auf dem Tisch lag, stammte noch aus Taboris Schulzeit, fünf Jungen im Turnzeug, die dicht gedrängt hintereinander auf einem Seitpferd saßen, während ein sechster mit gespielter Anstrengung vorgab, sie gerade quer durch die Sporthalle zu schieben. Dieser sechste Junge war Tabori selber, schon damals, in der siebten oder achten Klasse, mit dem wirren schwarzen Haarschopf, der jeder Bürste zu trotzen schien. Bis auf den dicken Haifisch konnte Tabori die anderen Gesichter auf den ersten Blick nur schwer irgendwelchen Namen zuordnen, aber als er das Foto umdrehte, sah er den mit Schreibmaschine getippten und sorgfältig aufgeklebten Zettel, der genau für diesen Fall gedacht war: »v. l. n. r.«, sechs Nachnamen, dahinter die jeweils dazugehörigen Vornamen, sein eigener der letzte in der Reihe, in der Mitte dann Heinisch, Stephan, nachträglich mit Kugelschreiber umkreist. Von dem Kreis führte ein Strich zu einer handschriftlichen Bemerkung, die gerade erst geschrieben worden sein konnte. Die Schrift kam Tabori augenblicklich bekannt vor, über die willkürliche Mischung aus Klein- und Großbuchstaben hatte er sich während seiner Dienstzeit in Lepckes Notizen mehr als genug geärgert …
Er blickte auf, weil Lisa Türen knallend aus ihrem Zimmer kam und mit schnellen Schritten die Treppe nach oben stürmte. Sie riss die Tür zum Gästezimmer auf, gleich darauf kam sie zurück, sie schien so sauer zu sein, wie Tabori sie lange nicht gesehen hatte.
»Hier! Lies das!«
Sie streckte ihm einen Zettel hin.
»Rate mal, mit wem ich gerade eben noch in deinem Bett war?«, las Tabori halblaut. »Svenja?«, fragte er unnötigerweise nach, »hat sie dir das hingelegt?«
»Natürlich, wer sonst? Und dann hat sie sich vom Acker gemacht, dieses hinterfotzige Biest, jedenfalls ist oben niemand.«
»Und jetzt glaubst du allen Ernstes …?«
»Na, was wohl? Was würdest du glauben?«
Tabori musste lachen.
»Hör auf, Lisa, das ist lächerlich! Man kann Lepcke bestimmt eine Menge nachsagen, vor allem was Frauen angeht, aber ganz bestimmt nicht, dass er mal eben mit der kleinen Kifferin hier bei uns zu Hause in dein Bett steigt! Vergiss es. Sie wollte dir eins auswischen, das ist alles.«
»Aber wieso? Ich meine, was soll das?«
»Ich fürchte, sie sind beide sauer auf uns. Wie auch immer sie darauf gekommen sind, aber auf jeden Fall sind sie überzeugt, dass wir gerade versuchen, sie reinzulegen. Hier, Lepcke hat nämlich auch eine Nachricht hinterlassen.«
Er tippte auf die Kugelschreiber-Notiz auf der Rückseite des Fotos.
»Ich hab ihn an der Brille erkannt«, las jetzt Lisa. »Wer versucht hier eigentlich wen zu verarschen?«
Lisa drehte das Foto um und starrte lange auf das Bild.
»Klasse 7 oder 8«, sagte Tabori. »Heinisch ist der Dicke in der Mitte.«
»Schon klar, steht ja hinten drauf. Aber ich habe gerade über dich nachgedacht. Du sahst damals schon aus wie …«
»Wie was?«
»Vergiss es. Wo haben sie das Foto her?«
Tabori nickte mit dem Kopf zur Wand hinüber.
»Wahrscheinlich war ihnen einfach nur langweilig und sie haben sich die Bilder angeguckt. Und dann hat Lepcke … Keine Ahnung, aber das gehört genau zu den Sachen, die Lepcke zu dem außergewöhnlichen Kriminalisten machen, der er ist. Jeder andere wäre über dieses Foto auf einer Wand mit hunderten von Fotos einfach mit einem Schulterzucken hinweggegangen, aber Lepcke erkennt ausgerechnet Heinisch. Und was immer er sich jetzt zusammenreimt, es ist klar, dass er irritiert ist, muss er ja auch sein, ich habe nie irgendjemandem davon erzählt, dass ich Heinisch kenne oder kannte! Natürlich fühlt er sich hintergangen, und wenn Svenja dann auch noch ihren Senf dazugegeben hat, wittern sie jetzt den ganz großen Verrat. Ich schätze mal, nachdem sie diesen Artikel ausgegraben hat, von dem du erzählt hast, fühlt sie sich ohnehin wie diese Hackerin in den Stig Larsson Romanen, das passt doch perfekt zu ihr.«
»Er ist dein Freund«, wendete Lisa ein. »Und er hätte dich einfach nur zu fragen brauchen, oder?«
»Aber er weiß nicht, ob ich wirklich noch sein Freund bin, darum geht es. Und es ist nicht das erste Mal bei diesem verdammten Fall, dass er sich nicht sicher sein kann, auf welcher Seite ich eigentlich stehe.«
»Dann ruf du ihn an.«
»Ich fahre hin, ich glaube, das ist besser. – Aber komm, dein Vater wartet, lass uns erst noch den Espresso mit ihm trinken, wir haben es ihm versprochen. Und ich brauche ohnehin einen Espresso, und zwar dringend, also, was ist?«
Lisa schüttelte den Kopf. »Geh du schon mal vor, ich dusche erst noch. Ich komme nach, wenn ich mich wieder halbwegs abgeregt habe. Aber Svenja kann sich auf was gefasst machen, wenn sie das nächste Mal wieder auftaucht, das schwöre ich dir.«
»Du spinnst«, sagte Tabori noch mal. »Was ist los mit dir? Lass dich doch von ihrem blöden Spruch nicht völlig aus dem Konzept bringen!«
Lisa biss sich auf die Unterlippe und zog sich mit einer fast kraftlos wirkenden Bewegung einen Stuhl heran. Eine Weile starrte sie auf die Tischplatte vor sich, bevor sie sagte: »Vielleicht hast du recht, vielleicht reagiere ich wirklich über. Es ist nur … ich finde, solche Witze stehen ihr nicht zu! Es gibt für alles Grenzen, und sie hat gerade eine übertreten. Verstehst du nicht? Es geht nicht darum, was sie geschrieben hat, sondern dass sie es geschrieben hat, um mir eins auszuwischen, und zwar deutlich unter der Gürtellinie, und das will ich mir nicht gefallen lassen. Nicht von ihr und auch von sonst niemandem.«
»Geh duschen. Und wenn du dann keine Lust mehr hast rüberzukommen, leg dich einfach hin und schlaf erstmal. Ich komme auch alleine mit deinem Vater klar.«
Lisa strich sich die Haare zur Seite und blickte Tabori an.
»Vielleicht sind wir einfach blöd, wir beide, vielleicht ist es das. Ich meine, warum … ach, vergiss es, du weißt, was ich meine.« Sie stand auf und hauchte Tabori einen Kuss auf die Wange. »Wenn Warren dich nervt, schmeiß ihn aus dem Wohnwagen, alles klar?«
»Alles klar«, sagte Tabori.
Lisa grinste und verschwand in Richtung Badezimmer.
Es ist nie so einfach, wie es sein könnte, dachte Tabori. Für einen Moment hatte er das Bild vor Augen, wie Lisa und er zusammen im Bett lagen, mit einem Frühstückstablett vor sich, und den beiden Hunden am Fußende, die mit gespitzten Ohren zuhörten, wie Lisa die Schlagzeilen der Morgenzeitung kommentierte. Aber das sind wir nicht, dachte Tabori, das hat nichts mit uns zu tun, das ist nur was für Leute, für die die Welt morgens um sieben noch in Ordnung ist. »Und außerdem ist es noch nicht mal sechs«, sagte er mit einem Blick auf die Uhr halblaut zu sich selber.