Alles ausser Grau

So viel vorneweg: Wir müssen uns entschuldigen, und zwar bei unserem Alltag. Dafür, dass wir ihn für so einen tödlichen Langeweiler hielten. Ihn mit seinen Routinen und ewig gleichen Abläufen unfasslich kleinkariert fanden und ihm dauernd Vorwürfe machten, dass er uns nicht bot, was wir doch mindestens verdient hätten: mehr Abwechslung, Esprit, Glamour, Abenteuer, Zauberstaub. Also Mauritius statt Nordsee. Schlemmermenüs in Sternerestaurants statt Pizza und Pasta beim Italiener um die Ecke. Shoppingwochenende in den Metropolen der Welt statt Einkauf in der Fußgängerzone um die Ecke. Wir wollten aufregende Dates mit aufmerksamen, fürsorglichen Männern, die um 22 Uhr noch in Bars Champagner ausgeben. Und nicht mehr länger Klaus-Dieter dabei zuschauen, wie er auf dem Sofa einschläft, natürlich ohne vorher sein leeres Bierglas in die Küche zu bringen. Überhaupt kein Wunder, dachten wir, dass der Alltag bloß als zuverlässiger Beziehungskiller so eine enorme Karriere gemacht hat. Schließlich, so unterstellten wir ihm, verfügt er höchstens über gera}de so viel Magie, wie man braucht, um aus »bunt« »grau« zu machen.

 

Dann kam Corona und mit dem Virus die Erkenntnis: Gott, was waren wir undankbar! Als nämlich nichts mehr ging und man überhaupt am besten daheimblieb, nicht mehr reisen, nicht mehr ins Restaurant, nicht ins Büro, zu Freunden konnte und kaum andere Familienangehörige traf als die, die man in der gemeinsamen Wohnung ohnehin vorrätig hatte, da wären wir plötzlich furchtbar gern zum Italiener um die Ecke gegangen oder wenigstens einmal wieder zum Kaffee zu den betagten Eltern. Jetzt wünschten wir uns, wenigstens noch ein paar Tage an der Nordsee urlauben zu können, und stellten überhaupt etwas sehr Erstaunliches fest: wie sehr wir uns zurücksehnten in unseren alten Alltag, in eine Normalität, in der wir uns nicht mal in unseren kühnsten Träumen vorstellen konnten, was so ein Virus anzurichten vermag.

Sollte Corona vielleicht wenigstens dafür gut sein: sich einmal das eigene, alltägliche Leben ganz neu, nämlich durch die Ausnahmezustand-Brille zu betrachten? Das fragten wir uns von Beginn des Lockdowns an. Seit dem 16. März 2020. Und zwar schriftlich. Weil wir uns nicht mehr treffen durften, schrieben wir uns eben. Jeden Tag gingen Mails hin und her – zwischen Frankfurt, wo Constanze mit ihrem Mann und zwei Katzen lebt, und einem Vorort der Mainmetropole, wo Susanne die Lockdown-Wochen mit ihrem noch ziemlich neuen Partner und seinem fünfzehnjährigen Sohn verbrachte. Dabei stellten wir immer wieder fest, wie unfasslich viel sich gerade dann bewegt, wenn alles zum Stillstand kommt. Wie sich ausgerechnet, wenn nichts mehr geht, alles verändert.

Wir fingen an, Supermarktkassiererinnen mit ganz neuen Augen zu sehen – und ihnen endlich den Respekt zu zollen, den sie ohnehin schon immer verdienten. Wir empfanden Demut und Dankbarkeit für ein Staatsoberhaupt wie Angela Merkel und gegenüber jenen, die jetzt in den Kliniken an vorderster Corona-Front dafür kämpften, dass wir so viel Normalität wie nur möglich behalten durften. Und wir entdeckten die Küche und ungeahnte hausfrauliche Qualitäten. Wir entwickelten außerdem eine unerwartete Gelassenheit gegenüber unserem Verfall, der nun ungebremst von Friseuren, Nagelstudios und Fitnesscentern munter voranschritt. Und wir beobachteten so etwas wie den brennenden Busch der Corona-Krise: wie junge Menschen plötzlich anfingen, sich ausgerechnet nach der Schule und der Uni zu sehnen. Wir freuten uns, Väter im Park mit ihren Kindern spielen zu sehen. Und waren ziemlich erschüttert darüber, wie erwachsene Menschen sich um Klopapier stritten und manche Männer lieber drei Stunden vor dem Baumarkt Schlange standen, um eine winzige Schraube zu beschaffen, von der sie selbst nicht wussten, wozu sie sie einmal brauchen würden – (außer dazu, mit diesem vermeintlich »systemrelevanten Einkauf« der Hausarbeit zu entkommen als daheim das eigen Fleisch und Blut zu beaufsichtigen). Plötzlich hielten wir mitten im Sommer das Thema »Bikinifigur« für ungefähr so bedeutend wie den letzten Tweet von Trump und überlegten, ob Angela Merkel bei ihren Videokonferenzen untenherum das Gleiche trug wie wir bei unseren: Jogginghosen und Hausschuhe.

Großes und Banales saßen auf einmal in schönster Eintracht zusammen, ein Kunststück, das längst nicht allen gelang. Auch so ein erstaunliches Corona-Phänomen: dass so viele ausgerechnet mit den nächsten Menschen die neue Nähe eher als bedrückend empfanden. Was zu einer weiteren Alltagsfrage führte: Haben wir vielleicht verlernt, uns ohne all die täglichen Ablenkungen der Vor-Corona-Zeit auszuhalten? Und während die einen vor lauter Leerlauf begannen, ihre Wohnungen zu renovieren, Webinare zu buchen oder ihren Kleiderschrankinhalt nach Farben zu sortieren, hatten die anderen – die mit Kindern und Homeoffice – vor allem das Problem, überhaupt noch zum Schlafen zu kommen. Jetzt, wo wir plötzlich alle zu Hause bleiben sollten und wirklich einmal denselben Tagesablauf hatten, erfuhren wir, wie man seinen vermeintlich so langweiligen Alltag vermissen kann und all die Menschen, die darin kleine und große Rollen haben, kleine und große Aufgaben übernehmen. Die Freundinnen, die Lehrer, die Erzieherinnen, die Familienmitglieder, die Nachbarn, die Verkäuferinnen, die Kollegen. Wir verstanden nun, wie abwechslungsreich unser Alltag eben noch gewesen war, wie besonders – und wie viel Glück wir mit ihm, diesem denkbar großartigsten gemeinsamen Vielfachen von »Leben« hatten. Gemacht aus Hobbys, Ausgeh- und Reisegewohnheiten, Treffen mit Freundinnen, Familie, Kollegen, Kino, Theater, Konzerten. Corona hatte all das selbstherrlich und radikal aus unseren Terminkalendern gestrichen und damit unsere Alltagsroutine, unsere Beziehungen, Sehnsüchte und schließlich auch uns auf den Prüfstand gestellt. Noch nie hatten sich unsere Perspektiven so rasant geändert, und noch nie hatten wir die Gelegenheit zu erleben, wie gravierend die Folgen sein können, wenn man auch nur einen von vielen Puzzlesteinen aus dem Alltagspanorama herausnimmt.

Ja, es war manchmal schlimm zu erleben, wie plötzlich so viel von dem, was wir für selbstverständlich hielten, einfach weg war. Ganz zu schweigen von den verheerenden Folgen, die der Lockdown etwa für Gastronomen hat. Und für die Senioren, die sich nach wie vor noch immer weitgehend isoliert in ihren Heimen fragen, ob man mit über achtzig nicht längst erwachsen genug ist, selbst zu entscheiden, welche Risiken man auf sich nimmt. Aber es stimmt auch, was ein großer Regisseur einmal sagte: »Komödie ist Tragödie plus Zeit.« Mit Abstand betrachtet, hatte die Krise nämlich durchaus auch lustige Momente. Wenn etwa die Beschaffung der so raren Hefe Züge annahm, die man sonst nur aus dem Drogenhandel kennt (natürlich bloß theoretisch). Oder unser Plan, Nachhaltiges aus der Krise mitnehmen zu wollen und per YouTube-Tutorial einen Tanz einzustudieren. Das war sehr, sehr amüsant. Jedenfalls für unsere jeweiligen Mitbewohner.

Und noch etwas Gutes hatte die Corona-Zwangsentschleunigung: Erstmals schauen wir unseren Nachbarn nämlich nicht nur in die Wohnung, sondern auch ein bisschen ins Herz. Mancher blickte vielleicht überhaupt erstmals von seinem Alltagsgerödel auf und stellte fest, dass um ihn herum noch andere Menschen leben. Auch solche, die möglicherweise Hilfe brauchen.

Ja, Corona hat so oder so unsere emotionale Fieberkurve in die Höhe getrieben. Vor allem aber sorgt die Krise nachhaltig dafür, dass wir unseren Alltag, unsere Lieben und unseren Body-Mass-Index mit ganz neuen Augen betrachten. Schließlich stellt sie fast jede Gewissheit und Selbstverständlichkeit auf den Kopf und wichtige Fragen: Was brauchen wir wirklich? Was ist wichtig? Und wer? Wie viele Vorschriften muss und sollte man sich machen lassen? Wieso sind so viele plötzlich so irre? Sollte ich mir weiterhin die Haare färben oder sie ganz dem Grau überlassen? Was passiert mit Freundschaft, wenn man sie bloß noch per Videochat pflegen kann? Wie werde ich meine Corona-Pfunde wieder los? Und wozu? Was ist wichtiger: dass mein betagter Vater total sicher ist vor Ansteckung oder dass er nicht völlig vereinsamt? Ist Politikern zu trauen, die ihre Sympathiewerte mit übereilten Lockerungen in die Höhe treiben wollen? Werde ich jemals wieder aus der Küche und der Verantwortung für regelmäßige warme Mahlzeiten herauskommen? Sind wir wirklich nachhaltig klüger geworden oder bloß in Teilzeit?

Wir zwei haben versucht, wenigstens für unser Leben ein paar Antworten zu finden. Tag für Tag. Und uns dabei an Karl Valentin festgehalten. Der hat einmal gesagt: »Ich freue mich, wenn es regnet. Denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch!« Wir finden, das ist eine ziemlich gute Empfehlung. Auch wenn man natürlich zwischendurch immer mal heulen möchte (und es manchmal tut) – haben wir die Erfahrung gemacht, dass man gerade mit Abstand doch ziemlich fröhlich sein kann. Wir hoffen, dass Sie mit unserem Tagebuch in der Hand ganz ähnlich empfinden werden …