Träumen darf man ja noch

Tag 10

Constanze

Ich bin jetzt seit zehn Tagen jeden Abend daheim. Das ist schon ein Rekord. Ich muss noch unter achtzehn gewesen sein, als so was das letzte Mal passiert ist, weil ich in der Pubertät quasi dauernd Hausarrest hatte. Noch bevor ich überhaupt zu spät nach Hause kommen konnte. Ich habe nämlich vorher immer schon so erbitterte Diskussionen über die optimale Zeit, eine Party zu verlassen, geführt, dass mein Vater mir dann jeden Ausgang verboten hat. Jetzt, wo ich drüber nachdenke, fallen mir noch zwei weitere Zeiten ein: Ich hatte mal eine größere Gesichtsoperation, mit der ich auch und sogar länger nicht mehr die Wohnung verlassen habe. Einfach, um nicht sozial auffällig zu werden. Ich sah nämlich aus wie einer dieser Mainzer Schwellköpfe, bloß dass nicht Fastnacht war, sondern Sommer. Einmal klingelte ein Handwerker an der Tür, der mich dann fragte, ob meine »Mami oder dein Vati« daheim sind – als wäre ich damals vier gewesen und nicht dreißig. So sonderbar muss ich ausgesehen haben. Und dann hatte ich mal die Einwirkzeit von »summer blonde« eigenmächtig deutlich überzogen, und mein Haar war am Ende so schlohweiß, dass ich sie mir erst raspelkurz schnitt und dann auch ’ne ganze Weile daheimblieb. So bis das Gröbste rausgewachsen war. Heute würde ich auch damit in die nächste Kneipe gehen. Wäre mir egal. Ich habe echt Sehnsucht nach einem Tresen, nach Leuten, nach dir, nach unseren Freundinnen, nach Menschen insgesamt. Danach, mit anderen zusammen zu sein, ohne fürchten zu müssen, dass wir hier gerade bei der Eröffnung eines Corona-Hotspots beteiligt sind. Schon Wahnsinn, wie noch die kleinste Selbstverständlichkeit plötzlich zu einer absoluten Ausnahme wird, zu einer Hochrisikozone, und was für ein Luxus es war, sich über all das keine Gedanken machen zu brauchen.

Dass wir abends nun immer daheim sein sollen, bedeutet nicht, dass wir nichts zu tun hätten. Im Gegenteil. Ich jedenfalls werde über die sozialen Medien dauernd aufgefordert, auf unseren Balkon zu treten und wahlweise für die »Helden des Alltags« zu singen oder zu klatschen und so meine Solidarität mit jenen Menschen auszudrücken, die an vorderster Corona-Front alles geben – sogar ihr Leben. Ich habe dann heute mal zu vorgegebener Applaus-Zeit tatsächlich auf dem Balkon gestanden. Es ist einer von sehr vielen Balkonen in der Gegend, wie du weißt. Aber außer mir war sonst niemand draußen. Jedenfalls nicht zum Klatschen. Gegenüber hatte es sich jemand mit einer Tasse Kaffee bequem gemacht. Auf einem anderen Balkon wurde geraucht. Was in Italien offenbar so wunderbar funktioniert hatte, wurde hier komplett ignoriert. Aber vielleicht auch das mit Absicht?

Ist ja schön, wenn wir diese so »systemrelevante« Arbeit anerkennen. Doch erfahrungsgemäß fühlt man sich nach so einer großen Geste schon ziemlich erschöpft und denkt, das mit der Solidarität sei somit zu den Akten gelegt. Wir sollten es besser wissen. Als Frau hat man ja ausreichend Gelegenheit, entsprechende Erfahrungen zu sammeln. Mit Männern, deren »Beziehungsarbeit« vor allem in Liebesbekundungen besteht, von denen sie selbst und wir so ergriffen sind, dass wir gar nicht merken, wie wir auf geschätzt 98 Prozent der Hausarbeit sitzen bleiben. Hauptsache, er hat es mal gesagt: »Ich liebe dich!« Oder kennst du das nicht? Vielleicht hattest du ja bislang das große Glück, stets mit Kerlen zu tun zu haben, die in Theorie und Praxis gleich stark engagiert sind?