Da draußen zwitschern die Vögel, als wäre nichts. Ich beneide sie um ihre entspannte Haltung. Nichts zu wissen, nichts zu ahnen kann mit Sicherheit sehr schön sein. Aber nicht mal das Gezwitscher beruhigt mich heute. Ich habe richtig schlecht geschlafen, und du weißt, wenn ich eins vorzüglich kann, dann schlafen. Egal, in welcher Lebenslage, schlafen gehört zu meinen durchaus übersichtlichen Kernkompetenzen.
Habe gestern Abend noch gelesen, dass im Elsass Menschen über achtzig gar nicht mehr ins Krankenhaus eingeliefert werden sollen. Egal, wie schlecht es ihnen geht. Sie intubieren sie nicht mehr, sie beatmen sie nicht mehr. Sie haben keine Kapazitäten mehr. Konsequenz: Sie lassen sie sterben. Hier in Europa, bei uns um die Ecke.
Ich weiß, ich bin erst siebenundfünfzig. Ausnahmsweise geht es auch mal nicht um mich. Ich denke an meine Eltern. Ich sorge mich. Was wäre, wenn? Bisher war ich verhalten optimistisch. Habe gedacht, das wird schon. Habe mich in einer Art trügerischer Sicherheit gewiegt. Die Bilder aus den spanischen und italienischen Krankenhäusern, die Nachrichten aus Frankreich, das Grauen ist so nah. Wie müssen sich wirklich alte Menschen fühlen? Was geht in ihnen vor?
Ich mache, kurz nach dem Aufstehen, meinen täglichen DCC. Den Daily-Corona-Call. Meine Mutter hat Angst, sagt sie mir. »Ich verstehe dich«, antworte ich. »Bleib zu Hause. Bitte.« – »Aber ich muss doch mal einkaufen!«, antwortet sie. Ich kenne die Vorräte meiner Mutter. Meine Schwester wohnt nebenan und kann problemlos für meine Mutter und meinen Stiefvater mit einkaufen. Aber meine Mutter kann speziell sein. »Nur ich weiß, was ich will!«, betont sie hartnäckig. In Wirklichkeit geht es nicht um eine bestimmte Sorte Knäckebrot oder die Lagenzahl von Toilettenpapier. (Da darf man inzwischen eh nicht mehr wählerisch sein. Einlagig oder vierlagig – Hauptsache, Klopapier!)
Es geht ums Rauskommen. Menschen sehen. Durch die Supermarktgänge schlendern, als ob alles gut wäre. Es geht um Alltag, der fehlt. Selbst mein Stiefvater (fast fünfundachtzig) will partout mal zur Apotheke fahren. Er, ein Mann, der sonst selbst unter Androhung oder mit vollmundigen Versprechungen nur äußerst ungern vor die Haustür geht. Er lasse sich nicht von den Kindern seiner Frau bevormunden, schimpft er. Er sei alt genug, um selbst zu entscheiden, wann er vor die Tür gehe und wann nicht. Jahrelang hat meine Mutter gequengelt, gebittelt und gebettelt, dass er mit ihr öfter mal »um die Häuser zieht«. Jetzt darf er nicht, und jetzt auf einmal will er.
Was man nicht darf, ist ungeheuer attraktiv. Ich kann ihn so gut verstehen. Wie lange wird es dauern, bis wir wieder können, wie wir wollen? Wächst Begierde überproportional mit der Verknappung? Du fehlst mir.
Sehnsuchtsvolle Grüße.