Distanzlos

Tag 18

Constanze

So Corona-konditioniert bin ich schon, dass ich denke: »Nein, nein! DAS geht nicht – ihr müsst doch Abstand halten!!!«, wenn ich im Fernsehen Menschen sehe, die sich bloß zur Begrüßung einfach so umarmen, auf die Wange küssen, wenn da in Räumen mehr Leute und enger beisammenstehen als Hühner in der Kleingruppenhaltung. Mit dem Rauchen ist es ja ähnlich. Wenn man sich in Filmen, die vor dem Rauchverbot in Kneipen gedreht wurden, anschaut, wie da gequarzt wird, ist man noch nachträglich fassungslos, dass es mal eine Zeit gab, in der es alle normal fanden, sogar Kleinkindern nach Kräften den Sauerstoff zu verknappen und ihn durch Nikotin zu ersetzen.

Kannst du dich erinnern: Unsere Freundin Friederike erzählte mal, wie ihre Mutter die letzte Kippe kurz vor der Niederkunft – praktisch fast schon im Kreißsaal – ausdrückte. Werden wir in Zukunft – und mit Corona-Erfahrung – lieber drauf verzichten, etwa von unserem Freund aus der Schweiz, gleich dreimal – rechts-links-rechts – auf die Wange geküsst zu werden?

Ehrlich, das wäre schade, weil ich ungefähr 15 Jahre gebraucht habe, mir das zu merken, und er mich erst seit Kurzem nicht mehr daran erinnern muss, dass da noch ein Kuss fehlt. Vielleicht erzählen wir ja den staunenden Enkeln – (also deinen!) –, dass es mal eine Zeit gab, in der sich die Menschen anfassten. Einfach so, weil Berührungen so guttun, weil sie sich mochten und dass das etwas sehr Liebevolles und eine wunderbare vertrauensbildende Maßnahme war und keinesfalls bloß – wie man es in der Social-Distance-Zukunft vielleicht annehmen wird – die gängige Ouvertüre für Sex.

Vier Distanzbereiche hatte der amerikanische Anthropologe Edward Twitchell Hall einmal ermittelt. Eine Intimdistanz bis zu 50 Zentimetern, reserviert für die – ja, klar –tatsächlich ganz eng verbundenen Menschen. Dann eine »Gesprächsdistanz« – zwischen 50 Zentimetern und einem Meter: der sogenannte »Armlängen-Abstand« für einen entspannten Talk unter Freunden und Bekannten. Eine »soziale Distanz« von ein bis vier Metern – die wir vor allem Fremden gegenüber einhalten –, wenn wir beispielsweise auf den Bus warten. Danach kommt dann nur noch die »öffentliche Distanz«, die etwa bei vier Metern beginnt und im Prinzip so ziemlich alle anderen Menschen auf diesem Planeten umfasst. Gerade bewegen wir uns in Distanzzone drei, machen also da kaum noch einen Unterschied zwischen Freunden oder Fremden. Ich hoffe natürlich sehr, dass es nicht dabei bleibt, schon aus Gründen der Vielfalt und weil es echt schwer ist, einen Ersatz zu finden, der ausgleicht, was nun Umarmungen und Küsse nicht mehr leisten dürfen.

Ich glaube sogar, es ist eigentlich unmöglich. Ich hatte eine Tante, die berüchtigt dafür war, einem ganze Essen lang über den Rücken zu streicheln. Immer rauf und runter – runter und rauf. Als Kinder fanden wir das ziemlich verstörend. Aber sie hatte einen reichlich groben Klotz als Mann und sorgte vielleicht so wenigstens für ein bisschen Zärtlichkeit in ihrem Leben.

Ich finde es wirklich hart, dass es diese Notausgänge nicht mehr gibt, dass wir uns nicht mehr ordentlich – also dem Grad unserer Beziehung angemessen – begrüßen dürfen. Dass wir also so tun müssen, als gäbe es etwa zwischen dir und mir – oder meinem Vater und mir – kaum mehr Nähe als zu dem Typen, der auf der anderen Straßenseite gerade einen Parkplatz sucht. Wie schlimm ist es erst, wenn man ganz allein ist? Okay, ich merke, wie ich mich schon wieder in Corona-Depressionen reinsteigere. An dieser Stelle höre ich lieber mal auf … Morgen kommt was Munteres – versprochen –, will ja hier nicht zum Trauerkloß mutieren!