Tag 20
Ach, du bist so ein großer Schatz! Mir ist wirklich das Herz aufgegangen. Danke dir! Ja, geht mir genauso wie dir. Ich fühle mich dir gerade jetzt, wo wir doch Abstand halten, sehr nahe. Interessantes psychologisches und auch physikalisches Phänomen. Vielleicht versandet ja wirklich so vieles – und sehr Wichtiges in dem täglichen Getöse. Möglicherweise erfahren wir jetzt, worauf wir tatsächlich ganz gut verzichten können, was uns nur sinn- und nutzlos den Kopf, die Seele, den Gefühlshaushalt verstopft – und den Dingen den Raum nimmt, um die es geht. Zum Beispiel das ganze Theater um die Bikinifigur – das ja normalerweise jetzt seinen ganz großen Auftritt hätte. Aber wo keine Urlaubsreisen, da auch kein Strand, da auch kein Bikini und da auch keine Sorge, was die Sonne an den Tag bringen wird, wenn man sich erst mal entblättert hat. Ich bin zwar ein großer Fan der ja frappant schlüssigen Idee, dass man in dem Moment eine Bikinifigur hat, in dem man einen Bikini anzieht –, aber das wird ja erfahrungsgemäß von den meisten Frauen anders gesehen. Außer jetzt.
Auf unseren Balkonen und Terrassen – so wir welche haben – sehen uns ja nur die, die uns ohnehin öfter mal so ziemlich ohne sehen. Damit entfallen der direkte Vergleich und die ewigen Sorgen, SO auf keinen Fall rausgehen zu können, weil die anderen sowieso alle schlanker, fitter, schöner sind. Stattdessen greifen wir doch zum Brötchen, zum Croissant, zur Schokolade. Sogar ich, die ich normalerweise eher sehr gut drauf verzichten kann, habe heute ein Stück sehr köstlichen Kuchen gegessen. Du weißt ja, sonst nicht so meine Kaloriengruppe. Ich bin eher der Typ »salzig statt süß«. Das Gefühl, dass da draußen alle über unsere Optik urteilen, ist irgendwie weg. Auch weil alle da draußen gerade andere Probleme haben. Irgendwie hat auch der Kampf mit und gegen den eigenen Körper gerade Pause. Klar können wir uns immer noch schminken. Sogar für den Gang zum Arzt und zum Supermarkt oder gerade dafür. Weil wir ja sonst nirgendwo mehr hingehen. Aber wir tun es diesmal wirklich für uns. Denn ehrlich: Es sind im Moment alle so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass wir vermutlich auch nackt über die Straße laufen könnten, ohne dass jemand aufschaut. Allenfalls würde noch bemerkt werden, ob wir einen Mundschutz tragen oder nicht, wenn wir mal hüsteln müssen. Das hat auch Vorteile. Schon wegen der grauen Haare, die man derzeit nicht mal eben diskret vom Friseur seines Vertrauens verschwinden lassen kann.
Gestern bin ich bei einem Friseur vorbeigegangen, der sein ganzes Portfolio auf die Schaufensterscheiben geschrieben hatte. Im Angebot fand sich sogar eine »Verlobungsfrisur«. Weißt du, was das ist? Hochzeitsfrisuren kenne ich – meist irgendwas mit Löckchen –, was Gestecktes. Aber Verlobung? Noch nie gehört oder gesehen. Was allerdings eine Corona-Frisur ist, das erleben wir gerade: dunkle Ansätze, herausgewachsene Schnitte. Wir verzotteln im Kollektiv. Vielleicht stellen wir jetzt fest, dass das sehr viel egaler ist, als wir befürchtet hatten.
Jedenfalls wäre ich sehr, sehr gern am Tag 1 nach Corona mit dir im Schwimmbad oder am Strand. Ich denke, wir werden da ein paar sehr entspannten Frauen begegnen – die vielleicht viel zu sehr damit beschäftigt sind, sich darüber zu freuen, dass alles vorbei ist – und sich ins Gesicht sehen zu können, anstatt auf Mundschutze zu starren, und dabei endlich einmal vergessen, den Bauch einzuziehen.