Tag 22
Was wir uns wohl für langfristige Projekte vornehmen würden, wüssten wir, dass wir noch mindestens ein Jahr daheimbleiben müssten?! Erinnerst du dich? Ich habe ja mal einen Friseursalon im Kölner Frauengefängnis besucht, um mit den Frauen zu sprechen, die dort eine Ausbildung zur Friseurin machen. Darüber, wie wichtig eigentlich Schönheitspflege ist. In einem Umfeld, in dem es erstens sehr, sehr wenige Männer gibt und man zweitens sowieso immer nur dieselben Leute sieht. War sehr interessant zu erfahren, dass diese besonderen Umstände so etwas wie ein Dopingmittel für die Experimentierfreude sind. Die Friseurinnen dort haben alle Hände voll zu tun, um die Wünsche zu erfüllen. Da werden nicht einfach bloß »Spitzen« geschnitten. Da probieren die Frauen so ziemlich alles aus, was man auf dem Kopf ausprobieren kann. Extreme Haarfarben und Schnitte, die sie sich »draußen« nie trauen würden. »Wir haben Zeit!« oder »Wächst ja raus und nach!«, lautet die Devise. So verrückt das klingt: Irgendwie ist ja gerade jetzt, wo nichts mehr geht, theoretisch so ziemlich alles möglich.
Was haben sich viele Firmen lange Zeit unendlich angestellt, ihre Mitarbeiter im Homeoffice arbeiten zu lassen. Da kamen bisweilen sogar Leute vom Arbeitsschutz, die Lichtverhältnisse, Sitz- und Schreibtischhöhe prüften. Jetzt kannst du dir bei der Arbeit klaglos auf einem Küchenhocker den Rücken ruinieren, an einem Laptop, der zwischen dem Geschirr vom Abendbrot steht. Nun braucht es bloß »irgendwie« zu gehen. Vielleicht ist das ja auch so eine Erfahrung, die nachhaltig sein wird: dass Firmen entdecken, es ist durchaus möglich, von daheim aus zu arbeiten – ohne Verluste an Qualität und Quantität. Aber jetzt erfahren die Leute auch, dass es doch gar nicht so easy ist, die eigene Wohnung zu einem Arbeitsplatz zu machen. Sich zu organisieren und zu strukturieren. Gut, wir beide sind da womöglich nicht gerade die besten Beispiele für diese Art von Disziplin. Gab auch vor Corona schon Tage, an denen ich noch im Pyjama direkt vom Bett an den PC geschlappt bin und es bis mittags nicht geschafft habe, mich in einen präsentablen Zustand zu bringen. Was sicher den Irrtum, Autorinnen könnten bis in die Puppen im Bett liegen, zumindest bei Paketzustellern zementiert hat.
Ich habe ja früher – als es noch Telegramme gab – auch mal bei der Eilpostzustellung gejobbt und kenne von daher auch sämtliche Erscheinungsformen von Menschen, die man tagsüber daheim antrifft. Würde sagen: ein weites Feld von ganz nackt über Feinripp, Filzschlappen, String-Slip, Bademantel bis Edel-Jogginganzug und Kaschmir-Morgenmantel. Ich stelle mir vor, wie Deutschland jetzt wohl gerade an der Wohnungstür aussieht. Vermutlich genauso. Etwas aufgeschreckt, weil man es kaum noch gewohnt ist, dass jemand an der Tür klingelt. Etwas ängstlich, ob der ungewohnte Kontakt wohl riskant sein könnte. Und, ja, in unterschiedlichen Stadien der Verwahrlosung, aber auch der Experimentierfreude. Möglicherweise sollten wir froh sein, dass man sich daheim nicht mal eben so selbst tätowieren kann. Wer weiß, auf welche Ideen wir da noch kommen würden.