Tag 2
Ja, du hast recht, wir warten besser mal ab, bevor wir uns sehen. Dieses Virus – so winzig es ist – ist irgendwie wie ein sehr großes, sehr beängstigendes Tier, das nicht zu bändigen ist. Alle schauen gebannt, was es als Nächstes tun wird. Aber viele glauben auch, dass es gar nicht so böse ist, wie behauptet wird. Dass es ja genauso gut ganz harmlos sein könnte. Aber ehrlich: Ich will meine Hand nicht ausstrecken, und am Ende ist sie abgebissen. Außerdem sind die Bilder aus Italien schrecklich genug.
Habe ich mich je beklagt, dass nichts los ist in meinem Leben? Wie ich das jetzt schon bereue! Immerhin ist jetzt eine Pandemie los. Das Schicksal scheint einen bizarren Humor zu haben, denn wo es auf der einen Seite »Action!!« brüllt, reduziert es auf der anderen Seite den Event-Level in unseren Leben auf seniorenheimtauglich. Vermutlich denkt es, wir haben Ausnahmesituation genug – da brauchen wir keine Abwechslung mehr: die riesige Feier zum fünfzigsten Geburtstag einer Cousine in Köln – gestrichen. Das Fotoshooting, das wir – du und ich – nächste Woche gehabt hätten, auch gecancelt. Ebenso der Besuch meines Neffen aus Finnland. Und so ging es heute den ganzen Tag weiter: Leipziger Buchmesse, Fußballeuropameisterschaft, das Konzert, das mein Mann und ich am Wochenende besuchen wollten – alles fällt flach.
Waren wir vielleicht nicht dankbar genug für die kleinen Freuden des Alltags? Will uns das Virus das sagen? Wir haben ja beide auch die eine oder andere Freundin, die glaubt, mit allem, was so passiert, sei eine Botschaft verbunden. Höhere Mächte würden also eine Art Messengerdienst betreiben, und statt uns einfach ins Gesicht zu sagen, was immer sie uns mitzuteilen hätten, stellen sie uns lieber knifflige und offenbar manchmal auch sehr brutale Denkaufgaben. Getarnt als Krebsdiagnosen oder Verkehrsunfälle oder Arbeitsplatzverlust. In diesem Kosmos wäre das irgendwie dann ja doch immer für irgendetwas gut. Sogar Corona. Aber für was? Mal wieder ein gutes Buch zu lesen? Netter zum Mann zu sein, weil wir nun offenbar sehr viel Zeit und das ohne jede Ausweichmöglichkeit miteinander verbringen werden? Die Wohnung einmal wieder aufzuräumen, weil man ja nun Zeit dafür hätte? Den Kleiderschrank auszumisten? Aber will man sich von einem Profikiller – und das ist das Virus, nach allem, was man gerade erfährt – wirklich belehren lassen? Und ist es nicht ziemlich gemein, wenn man nicht einfach mal unglücklich sein darf, wenn etwas Schlimmes passiert, sondern andauernd in seinem Unglück noch einen Sinn suchen soll?
Aber zugegeben: Eine Sache mussten wir offenbar auf die ganz harte Tour mal wieder unter die Nase gerieben bekommen: wer hierzulande eigentlich wirklich wichtige Arbeit leistet – nämlich Supermarktbeschäftigte, Kranken- und Altenpflegepersonal. Sehe gegenüber aus dem Supermarkt gerade Leute mit prall gefüllten Einkaufstüten kommen – als wüssten die etwas, was wir noch nicht wissen –, zum Beispiel, dass dieser Tag heute die letzte Gelegenheit für Monate sein wird, sich mit Lebensmitteln einzudecken. Zugegeben, ein wenig ansteckend ist diese Panik schon.
Ich glaube, ich werde mal unsere Vorratskammer checken. Was hast du heute so vor?