Ausnahmebeziehungszustände

Tag 29

Constanze

Habe gerade gelesen, dass das Beste am Reisen ohnehin die Planung sei – also jedenfalls fürs Gemüt. So gesehen zwingt uns Corona auch zu unserem Glück. Acht Wochen soll dieser Effekt andauern. So lange war ich überhaupt noch nie in Ferien. Ich glaube, anderthalb Monate waren mal das Maximum. Einmal habe ich die in Griechenland verbracht. Einmal war ich so lange in Thailand. Das war schön. Auch wegen dieses Gefühls, unendlich viel Zeit zu haben und eben nicht mit jedem Tag knausern zu müssen. Ab der Hälfte, finde ich immer, rast die Zeit – also bei den Zweiwochenferien. Nach sechs Wochen habe ich mich dann aber auf Daheim gefreut. Die Krux an der Theorie von der beglückenden Vorfreude ist allerdings gerade, dass man nicht mal konkret planen kann. Hat Ursula von der Leyen ja dringend von abgeraten, irgendwas zu buchen. Wäre aber ohnehin nicht auf diese Idee gekommen. Man weiß ja nix: ob man dieses Jahr überhaupt noch mal ins Ausland kommt oder wenigstens in einen anderen Teil Deutschlands als in den, in dem man gerade hockt. Ich habe im Februar schon Sylt gebucht. Eine Woche ab Mitte Juni. Noch habe ich das nicht ganz abgeschrieben. Daran halte ich mich fest. Aber ich merke, wie mich das allein auf die Möglichkeit hin, dass das ins Wasser fallen könnte, betrübt.

Was mich gerade sehr froh macht – so verrückt es klingt: dass es draußen wenigstens ein bisschen regnet. ENDLICH. Ich glaube, seit fünf Wochen gab es jedenfalls hier keinen einzigen Tropfen. Der Park um die Ecke ist schon in einem ähnlich elenden Zustand wie letztes Jahr, als es aussah, als hätten wir hier einen Mistral gehabt, der die halbe Sahara zu uns rübergeweht hat. War ja vor Corona unser drängendstes Problem im öffentlichen Bewusstsein: die Klimaerwärmung. Und ist ja immer noch eine mindestens so große Katastrophe wie Corona. Bloß dass nicht mal annähernd so radikale Maßnahmen deshalb ergriffen wurden. Auch das ist ziemlich verrückt. Vielleicht liegt es daran, dass man tatsächlich ganz unmittelbar erlebt, wie Menschen an Corona sterben. Aber eben nicht, wie sie an der Klimakatastrophe zugrunde gehen. Warum ist das eine große Unglück wichtiger als das andere?

Jaja, ich weiß, ich gehe dir damit ein wenig auf die Nerven, aber ich muss es trotzdem hier einmal schreiben: Auch die 20 000 bis 30 000 Menschen, die jährlich an einem Krankenhauskeim sterben, haben nicht mal annähernd denselben Betroffenheitseffekt wie die Corona-Toten. Obwohl man nicht mal einen Lockdown bräuchte, um die zu retten. Sondern bloß mehr Personal, strengere Hygienevorgaben – so wie in den Niederlanden. Wo man das Phänomen – fast – nicht kennt. Ist es, weil man da langfristig viel Geld in die – desinfizierten – Hände nehmen müsste? Weil das Problem menschengemacht ist und eben nicht – wie Corona – irgendwie ein Schicksalsschlag, für den keiner wirklich etwas kann? (Außer vielleicht die habgierigen Wirte in Ischgl?! Und der Chinese, der unbedingt eine Fledermaus auf dem Teller haben musste?)

Ja, man möchte schon lieber in Deutschland als etwa in Italien im Krankenhaus liegen. Aber ehrlich – wie du immer so schön sagst – bloß weil die anderen eine noch schlechtere Schulnote haben, bedeutet das nicht, dass nicht überhaupt noch viel Luft nach oben ist. In Deutschland sind 40 000 Pflegerstellen unbesetzt. Kommen auf einen Pfleger dreizehn Patienten. In Norwegen sind es drei Patienten pro Pfleger. Ich hoffe wirklich sehr, dass wir nicht vergessen, vor allem DARÜBER zu sprechen, wenn die Corona-Lage sich etwas beruhigt hat, und vor allem: dementsprechend zu wählen.