Wie gerne würde ich dir den Ausgang aus dem Haus aufzeigen. Aber mir geht es ja ähnlich wie dir. Je mehr man nachdenkt, umso komplizierter wird es.
Ich habe gestern mit meiner alleinerziehenden Schwester telefoniert, die nicht mehr weiß, wie sie diese Situation handhaben soll. Sie hat drei Kinder im Homeschooling und dazu eine kleine Firma mit keinerlei Aufträgen. »Kein Rückgang, sondern einfach null. Nullkommanull. Nada. Nichts.« Sie bangt um ihre mühsam aufgebaute Existenz und um ihre Mitarbeiter. Richtig in Rage bringen sie all die Anforderungen der Schule. Meine große Nichte schafft es wunderbar, sich selbst zu organisieren, aber die beiden Kleinen, sieben und zehn, brauchen Anleitung, Motivation und auch Kontrolle. »Wann soll ich das machen, ich versuche gerade unsere Existenz zu retten. Wie stellen die sich das vor? Der Tag hat nur 24 Stunden!«
Was Eltern beim Homeschooling im Moment zu leisten haben, ist eigentlich bei genauer Betrachtung nicht machbar und auch unzumutbar. Haushalt schmeißen, Job retten, Homeoffice und dazu die Kinder anhalten, ihre To-do-Listen abzuarbeiten und dabei bitte keinen der Anwesenden umzubringen. Wer kann schon noch Geometrie aus der Achten? Was war noch mal ein Oxid? Wie schafft man es, bei Laune zu bleiben, dass man sich nicht rund um die Uhr anzischt? Denken manche Lehrkräfte, man hätte sonst nichts zu tun und bräuchte auch ein wenig Animation? Warum gibt es kaum Onlineunterricht? Warum keine klaren Zeitvorgaben?
Natürlich höre ich auch von Eltern, bei denen alles mühelos flutscht. Wo die Kinder immer im Zeitplan sind, nebenher noch Mandarin lernen und täglich einsam ihre Joggingrunden drehen, um dann abends gemeinsam mit den Eltern herrliche Menüs zu zaubern und danach vor dem Zubettgehen noch eine Runde Etüden von Bach auf dem Klavier zu spielen. Eine ganz neue Spezies: Die Corona-Streber. Eltern, die kurz davor sind, nach noch mehr Aufgaben zu fragen, weil ihre Sophie-Marie damit ja gar nicht ausgelastet ist. Eltern, die Zeit haben, in größere Mailkorrespondenz mit den Lehrkräften einzusteigen. Eltern, die ständig Rundmails schreiben. Langweilen die sich? Können die nicht stattdessen die Hauptstädte der Welt auswendig lernen oder Origami-Schwäne falten? Eltern, deren Kinder nie vor der Playstation hängen, sondern ihre genau eingeteilte Freizeit mit Lesen verbringen. Wahrscheinlich sind das auch die Eltern, deren Kinder schon mit einem Monat immer durchgeschlafen haben und die mit zwei keine Windel mehr brauchten. Diese fantastischen Vorzeigekinder, die man insgeheim hasst, weil sie einem die Unvollkommenheit der eigenen Kinder immer wieder deutlich vor Augen halten. Es ist die Zeit des Durchwurschtelns. Perfektion hat jetzt mal zu warten. Von mir aus darf Perfektion überhaupt warten – immer –, aber das wäre ein anderes Thema.
Die wenigsten von uns sind Hobbypädagogen, und fast alle sind auch sehr froh, die Schule hinter sich zu haben. Jetzt werden wir zurückkatapultiert. Ohne danach gefragt zu haben.
Ein Hoch auf die Schulpflicht. Wenn die Schulen wieder öffnen, wird sicher in vielen Haushalten gefeiert. Ich kann’s verstehen.