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Ich will Sie nicht anlügen. Ich gebe zu, mein erster Impuls war, wegzulaufen. Ich befand mich in der Hocke, als ich Jenny erkannte, ihren unnatürlich verdrehten Kopf auf dem Sofa, Augen und Mund so unmittelbar und grässlich weit aufgerissen, nur wenige Zentimeter vor mir. Ich prallte zurück und sprang auf. Verdammt, lasst mich hier raus. Ich starrte Jenny an, ihren Körper, der mir plötzlich so vertraut vorkam. Ich weiß nicht, wie lange ich dort stand, in dem grellen blauweißen Licht in Brogus’ fensterlosem Büro mit seinen kahlen Wänden, vor diesem Körper, den ich einst liebkost, genossen, der mich aufgenommen hatte, diesem Körper, der sogar jetzt noch erotische Gefühle in mir weckte, während ich wie vom Donner gerührt war angesichts seiner Leblosigkeit und der Gewalt, die ihm angetan worden war. Verdammt, lasst mich hier raus. Ich glaube nicht, dass ich es laut aussprach. Aber in meinem Kopf gab es nur diesen einen Gedanken. Keine Überlegungen in Bezug auf Recht oder Moral. Der Schmerz, Jenny verloren zu haben, das Grauen über ihre Ermordung hatten noch nicht eingesetzt – nicht wirklich. Obwohl ich Brogus’ schweren Atem hinter mir hörte, war er für mich nicht vorhanden. Meine Fähigkeit, vernünftig zu denken, war ausgeschaltet. Ich war auf meinen nackten Instinkt zurückgefallen. Verdammt, lasst mich hier raus.

Ich setzte mich in Bewegung. Nicht, dass ich rannte, aber beinahe. Ich musste wohl aus Brogus’ kleinem Büro mit vier großen Sätzen durch den kurzen Flur bis zur Tür des Rezeptionsbereichs gelangt sein, als ich hinter mir die Stimme von Brogus hörte, verzweifelt bemüht, nicht laut zu schreien: »Clay!« Das Licht des Scheinwerfers erleuchtete einen Teil des Vorraums. Meine Hände, die noch immer in den Fäustlingen steckten, umfassten den Türgriff und zerrten daran. Abgeschlossen.

Ich umklammerte den Knauf mit meinen thermogepolsterten Händen und rüttelte derart besessen daran, dass ich die Tür beinahe aus den Angeln gerissen hätte. Dann spürte ich Reggies Hände auf meinen Schultern. »Clay«, sagte er heiser. Etwas in seinem Tonfall hatte sich geändert, das merkte ich sofort. Eine Minute vorher – war es wirklich schon eine Minute her, seit wir sein Büro betreten hatten, wo meine tote Geliebte vor mir gelegen hatte? – war er vor Verzweiflung beinahe in Tränen ausgebrochen. »Clay«, wiederholte er und seine breiten Hände wogen schwer auf meinen Schultern. »Claaaaaay …« Seine Stimme war jetzt sanft, beruhigend.

»Mach die verdammte Tür auf, Reggie«, sagte ich. Ich stand wie erstarrt, meine Hände immer noch auf dem Türgriff. Ich drehte mich nicht zu ihm um.

»Bleib ruhig, Clay.«

Auch wenn meine Fähigkeit, rational zu denken, nur langsam zurückkehrte, spürte ich, wie mein Körper auf diesen neuen Ton in Brogus’ Stimme reagierte, auf seine plötzliche tröstende Autorität. Erst jetzt kam mir der Gedanke, dass Reggie Jenny getötet haben könnte. Trotzdem wusste ich instinktiv, dass ich hier und jetzt, in dieser irrwitzigen Situation, genau das tun würde, was Brogus mir sagte.

* * *

Wenn man sich in einer Krise befindet, scheint der Zeitablauf sich zu verändern, verkürzt sich in einem Moment, verlängert sich im nächsten, dreht sich, zieht sich zusammen und löst sich wieder, bevor er sich erneut verändert, wenn dich der nächste Anfall von Angst oder Wut, Schuld oder Argwohn erfasst. Der Augenblick des Erkennens, als ich Seeräuber-Jennys lebloses Gesicht erkannte – Augen und Mund weit aufgerissen wie beim ekstatischen Höhepunkt des Orgasmus, ein Ausdruck, den der jäh eintretende Tod eingefroren hatte –, erschien mir wie eine qualvolle Ewigkeit. Danach gerät der Zeitablauf ins Rucken.

Ich sitze im Eingangsbereich des Afrikamerika-Instituts auf einem Plastikstuhl, so einem breiten Möbel mit Metallfüßen, bei dem ich immer an Zahnarztwartezimmer denken muss. Brogus hält mir einen Pappbecher hin mit Wasser aus dem Spender neben dem Schreibtisch der Teilzeitsekretärin. Ich trinke, meine behandschuhte Hand zittert. Hinter dem Schreibtisch ist ein Fenster, vor dem eine geschlossene Jalousie hängt. Der Scheinwerfer aus meiner Garage steht auf dem Schreibtisch in Reggies Büro weiter unten im Flur und wirft einen bläulichen Strahl bis in den Eingangsbereich. Reggie hockt vor mir, auf ein Knie gestützt wie ein Quarterback beim Huddle. Der blasse Lichtschein bricht sich mehrfach in seinen dicken Brillengläsern. Ich weiß, dass er mich direkt ansieht, aber ich kann seine Augen nicht erkennen. Meine Gedanken sind ein wirres Durcheinander. Inzwischen habe ich jeden Impuls verloren, diese Situation als Recherche für eine Story zu nutzen. Trotzdem beginne ich reflexartig, Fragen zu stellen, falle in meine Reporterangewohnheit zurück, um Sinn in das Geschehen zu bringen. Brogus ist ruhig. Tatsächlich ist er beschissen cool.

»Was ist passiert, Reggie?«

»Ich bin spätabends in mein Büro gekommen und hab diese Leiche gefunden.«

»Wieso hast du einen Trainingsanzug an?«

»Ich bin zum Joggen rausgegangen. Ich wollte in meinem Büro vorbeischauen, um den Laptop zu holen.«

»Du joggst? Als Fitness-Training?«

»Nur nachts, wenn niemand mich dabei sehen kann. Das wäre mir peinlich.«

»Und dann bist du einfach so ins Büro gegangen … um welche Uhrzeit?«

»Weiß nicht. Halb zwei, zwei?«

»Und da hast du … die Leiche gefunden?«

»Ja.«

»Kennst du denn … dieses … Mädchen?« Ich höre, wie meine Stimme bricht beim letzten Wort.

»Nein.« Reggie hält inne. Ich kann seine Augen nicht erkennen. »Kennst du sie?«

Eine logische Frage, aber ich bin nicht darauf gefasst. Ich zögere und weiß, dass Reggie mein Zögern bemerkt. »Nein … ähm, ich weiß nicht. Ich meine, ich kenne sie nicht, aber … ich glaube, ich hab sie hier schon gesehen. Ich glaube, sie ist Studentin.«

Brogus hockt vor mir und zeigt keine Reaktion. Dieser Mann, der vor weniger als einer halben Stunde – jedenfalls meine ich, dass es noch keine halbe Stunde her ist – völlig aufgelöst bei mir zu Hause auftauchte, spricht nun in einer Art Kommandoton mit mir. Offenbar hat ihm meine Verwirrung Selbstvertrauen geschenkt. »Hör mal zu, Bruder. Hör mir jetzt gut zu. Ich kenne diese Frau nicht. Ich habe sie nie berührt. Ich habe nichts getan. Das ist eine Falle. Ich weiß nicht, womit wir es hier zu tun haben, Clay, aber das ist eine verdammt ernste Sache.«

Reggie streckt die Arme aus und legt seine Hände auf meine Schultern. Offenbar will er Kraft schöpfen, um sich für diese Prüfung zu wappnen. Und da passiert es: Das ist der Moment, als ich ihm glaube. Eine junge Frau, die mir etwas bedeutet hat, liegt tot in Reggies Büro, erwürgt mit seinen Hosenträgern, und trotzdem glaube ich ihm voll und ganz, als er seine Unschuld beteuert. Später werde ich daran zweifeln. Sehr oft werde ich in der nahen Zukunft davon überzeugt sein, dass er Jenny ermordet hat. Aber in diesem Augenblick – als es darauf ankam – bin ich fest davon überzeugt, dass Reggie die Wahrheit sagt.

»Und wie ist die Frau in dein Büro gekommen?«, frage ich.

»Weiß ich nicht, Mann. Ich hab keinen blassen Schimmer. Ich weiß nur, dass ich dieses Miststück noch nie vorher gesehen habe!« Ich zucke zusammen, als er dieses Schimpfwort benutzt. »Jemand hat sie hier hingelegt.«

»Wer denn?«

Brogus hielt inne, dann schien er seine Worte genau zu wählen. »Ich glaube, Mann, dass wir es hier mit einer vielköpfigen Hydra zu tun haben. Einer vielköpfigen Hydra. Nicht mit einer einzigen Person. So gehen sie nicht vor, wenn sie dich im Visier haben. Hier kommen mehrere Kräfte zum Einsatz.«

»Du meinst eine Verschwörung?«

»Das hast du gesagt, nicht ich.«

»Aber was glaubst du?«

»Clay – du kennst meine Geschichte. Und du weißt, dass angesichts meiner Geschichte so gut wie alles möglich ist.«

Da war er wieder, der alte großspurige Brogus. Sogar in dieser Situation kam Reggie nicht ohne den Hinweis auf seine ureigene, ganz besondere Rolle aus. Aber diesmal war sogar ich, zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, genauso beeindruckt von Reginald T. Brogus wie er selbst. Zum ersten Mal überhaupt bemerkte ich bei diesem korpulenten, kahlköpfigen schwarzen Republikaner mittleren Alters die letzten Überbleibsel seines revolutionären Geistes. Und endlich unterwarf ich mich seiner Macht und seinem Charisma.

»Was willst du jetzt tun?«, fragte ich.

»Ich brauche deine Hilfe, Bruder. Ich muss wissen, ob du bereit bist mitzumachen.«

»Ja, klar.«

»Hilfst du mir, diese Leiche wegzubringen?«

»Wo denn hinbringen?«

»Weiß ich nicht. Vielleicht können wir sie in dein Auto packen und …«

»Niemals!«

»… zum See rausfahren …«

»Scheiße, nein!«

»Lass mich ausreden, Mann. Wir könnten sie dort abladen …«

»Vergiss es, Reggie. Verdammt, lass mich hier raus

»Schon gut, schon gut, schon gut. Entspann dich, Bruder, ganz ruhig. Du darfst jetzt nicht den Kopf verlieren. Ich sag dir jetzt, was mein Plan B ist. Du fährst mich zum Flughafen.«

»Wieso fährst du nicht selbst hin?«

»Mein Wagen ist in der Werkstatt, das weißt du doch!«

»Hab ich vergessen.«

»Also, kannst du das für mich tun?«

»Was?« Mir wurde gerade ein bisschen schwindelig.

»Mich zum Flughafen fahren!«

»Scheiße, Reggie.« Mein Fluchtreflex kehrte zurück. Aber ein Teil von mir, der größte Teil, wusste, dass ich hoffnungslos in dieses Drama verstrickt war, in diesen grausigen, aberwitzigen Irrsinn. Ich befand mich auf völlig neuartigem Terrain. Aber Reggie Brogus war schon mal hier gewesen – oder zumindest an einem ähnlichen Ort. Vielleicht unterwarf ich mich so, wie ein unerfahrener Entdecker sich einem erfahrenen Veteranen unterwirft, wenn sie ein besonders unübersichtliches gefährliches Gebiet betreten. Im Nachhinein betrachtet gäbe es natürlich vieles, was ich hätte sagen, tun oder denken können oder gedacht und getan haben könnte, wenn ich die Weisheit jener Menschen besessen hätte, die sie immer haben, wenn sie sich nicht in einer derartigen Situation befinden. Na klar, vernünftige Schlussfolgerungen, rasche Reaktionen auf Krisenmomente sind immer dann einfach, wenn man nicht drinsteckt: Die anderen wissen immer, was du hättest tun sollen – was sie an deiner Stelle getan hätten –, wenn sie deine Geschichte hören. Aber ich sagte Folgendes zu Brogus: »Willst du etwa in diesem Aufzug in ein Flugzeug steigen?«

Brogus neigte leicht den Kopf, und jetzt konnte ich seine hervorquellenden Augen hinter den Lichtreflexstreifen auf seinen Brillengläsern erkennen. Er sprach ruhig weiter, als hätte er, konfrontiert mit diesem irrwitzigen Dilemma, alles blitzschnell durchdacht – mit dem Scharfsinn eines erfahrenen Stadtguerilleros – und sich für die schlaueste Möglichkeit entschieden. »Ich habe Wechselklamotten in meinem Büro. Ich habe eine Reservierung für den Sechs-Uhr-Flug von Arden nach Cleveland. Von dort sollte ich eigentlich nach Washington weiter, um an den Feierlichkeiten zum President’s Day bei der Foundation for American Virtue teilzunehmen. Aber ich werde meine Rede dort nicht halten. Ich gehe in den Untergrund. Ich weiß, wie das geht. Das kenne ich noch von früher. Aber jemand muss mich zum Flughafen bringen.«

Ich merkte, wie ich den Überblick verlor angesichts dieses ganzen Wahnsinns. Ich kam noch mal auf meinen naheliegendsten Vorschlag zurück, den ich vorhin schon gemacht hatte. Aber diesmal wusste ich, dass Reggie ihn ablehnen würde. Und ich wusste, dass ich einlenken und ihn dort hinfahren würde. Trotzdem wiederholte ich noch mal: »Reggie, denkst du nicht, wir sollten die Polizei rufen?«

Der vor mir kniende Brogus senkte pathetisch den Kopf, als erwartete er, zum Ritter geschlagen zu werden. »Clay«, flüsterte er. Und hob den Kopf wieder. »Wir haben nicht viel Zeit. Ich brauche fünf Minuten, um mich umzuziehen. Dann musst du mich zum Flughafen fahren. Das dauert nur zwanzig Minuten. Du musst mir helfen, Clay. Von Bruder zu Bruder. Hilf mir, Bruder. Hilf mir.«

Sie können über mich sagen, was Sie wollen. Aber nur ein besserer oder intelligenterer Mensch als Clay Robinette hätte in jener Nacht Reggie Brogus diese Bitte abschlagen können. Und das muss er gewusst haben. Warum sonst hätte er unter all den Leuten in Arden, Ohio, ausgerechnet mich mitten in der Nacht aus dem Bett geholt? Ich kann nicht behaupten, dass ich wider besseres Wissen gehandelt hätte. Ich dachte einfach nicht sorgfältig genug darüber nach. Reggie Brogus bat mich, ihm zu helfen. Also tat ich es.

* * *

Meine Eltern waren nette, umgängliche Leute und stolz darauf, sich selbst »Negroes« zu nennen anstatt »Colored People«. Mein Vater war (ist immer noch) Zahnarzt. Meine Mutter war (ist immer noch) im Bereich Kunstmanagement tätig, so nennt man das wohl. Mein jüngerer Bruder und ich wuchsen in einer großzügigen Wohnung in einem Brownstone-Stadthaus in Philadelphia auf. Während des größten Teils meiner Kindheit waren meine Eltern sehr umtriebig. Sie waren eng befreundet mit vier oder fünf anderen schwarzen Ehepaaren und nannten diese Gruppe scherzhaft »die Gang«. Ich finde es merkwürdig, aber damals, als sich die Gang regelmäßig zusammenfand, waren ihre Mitglieder ungefähr im gleichen Alter wie ich jetzt. Sogar für damalige Verhältnisse waren sie erstaunlich ernsthafte, idealistische Menschen. Klar, sie waren ja auch Zeitgenossen von Martin Luther King Jr. Ihre Generation hatte die Bürgerrechtsbewegung ins Leben gerufen, sie rissen Barrieren nieder und veränderten Amerika. In der Gang wurde immer diskutiert. Sollte sich die Bewegung mehr auf juristische oder auf ökonomische Fragen konzentrieren? Wie unterschied sich das Problem des Rassismus in den Südstaaten von dem in den Nordstaaten? Wie lange würde es noch dauern, bis die Vereinigten Staaten einen schwarzen Präsidenten bekämen? Konnte der Rassismus in Amerika jemals ausgerottet werden? Wenn ja, wann? Vielleicht im Jahr 2000? Würden wir wirklich noch so lange darauf warten müssen?

Manchmal, wenn die Gang zu Gast war, blieb ich abends länger auf, saß in Bademantel und Pyjama im Schneidersitz ein wenig abseits auf dem dicken Plüschteppich und tat so, als wäre ich intensiv mit meinen Comicheften oder Spielsachen beschäftigt, hörte aber genau zu, was die Erwachsenen redeten. Verstehen Sie mich nicht falsch: Die Gang war kein philosophischer Debattierklub. Sie rauchten, tranken, wurden laut und hörten Schallplatten von Stax oder Motown Records, tanzten Twist, spielten Karten und erzählten sich schmutzige Witze, die ich nicht verstand. Aber ich hörte liebend gern ihren Diskussionen zu. Manchmal klang es wie bei Strategiesitzungen zum Thema Lebensgestaltung junger Familien in einer Welt, bei deren Neuerfindung sie mitmachen wollten. Aber auch wenn sie bei manchen Punkten verschiedener Meinung waren, hatten die Mitglieder der Gang ungefähr die gleiche Weltanschauung, glaubten an die Kraft des gewaltfreien Widerstands und das Integrationsversprechen.

Nach dem 4. April 1968 wurde dann alles anders.

* * *

Meine Eltern bewahrten die verbotenen Bücher auf dem oberen Regal des Bücherschranks auf, der eine ganze Wand des Arbeitszimmers einnahm. Glaubten sie wirklich, ich würde nicht auf die Leiter steigen, die sie selbst ja auch benutzten, um an ihre Sammlung von Werken der sexuellen Revolution zu kommen, an die Gebrauchsanweisungen zur Steigerung des Lustempfindens und die skandalösen Bestseller der damaligen Zeit, in denen viele Details sehr genau beschrieben wurden, in einer Sprache, die amerikanische Literaten noch wenige Jahre zuvor sorgsam vermieden hatten? Meine Eltern ermunterten meinen Bruder und mich immer wieder, »unsere Bibliothek zu nutzen«, in Wörterbüchern oder Lexika nachzuschlagen oder die alten historischen Schinken zurate zu ziehen, die sie so großartig fanden. Glaubten sie wirklich, irgendetwas würde mich davon abhalten, die Leiter noch höher zu klettern, um an die verbotenen Bücher zu kommen?

Es muss so ungefähr 1969 gewesen sein, als mir zum ersten Mal der Name Reggie Brogus ins Auge fiel, dort auf dem obersten Regalbrett.

Seit über einem Jahr befand sich die »Gang« in einem Auflösungsprozess. Seit dem 4. April 1968, »als sie Dr. King umbrachten« – wie meine Eltern und ihre Freunde den Mordanschlag nannten –, hatten die einst freundlichen Debatten sich in hässliche Streitereien mit wütenden Hasstiraden verwandelt. Alle waren genervt. Ihr Zukunftsoptimismus war bitterem Fatalismus gewichen. Ihr Glaube an die Integration war ersetzt worden durch das Gefühl, dass weiße und schwarze Amerikaner niemals friedlich koexistieren könnten. Ihr Glaube an gewaltfreien Widerstand war angesichts des gewaltsamen Todes ihres Anführers unwiderruflich zerbrochen. Der Mord an Bobby Kennedy nur zwei Monate später verhärtete ihre Position noch mehr. Zorn war das Gefühl, dass allen Angehörigen der Gang nun gemeinsam war. Sie waren vereint in ihrer Wut. Leider wendeten sie ihre Wut nun gegeneinander. Sie schrien sich ins Gesicht, dass eine gewaltsame Revolution nötig sei. Sie waren keine Negroes mehr. Von nun an waren sie Schwarze. Aber sie waren immer noch hoffnungslos bürgerlich. So sehr sie sich auch danach sehnten, sie gingen nicht auf die Straße, um einen blutigen Aufstand vom Zaun zu brechen. Stattdessen fielen sie übereinander her. Der Angestellte beschimpfte den Anwalt als Uncle Tom. Die Krankenpflegerin beschuldigte den Highschool-Direktor, er »versuche, weiß zu werden«. Der Zahnarzt warf dem Geschäftsführer Heuchelei vor. Die Psychologin verdammte die Kunstmanagerin dafür, dass sie nicht mit mehr Schwarzen aus dem Ghetto befreundet war. Ab und an verließ das eine oder andere Paar – manchmal auch eine Einzelperson, wenn Ehemann und Ehefrau aufeinander losgegangen waren – empört die Party und warf die Tür hinter sich zu.

Sie stritten sich über Malcolm X. Ich fand gerade erst heraus, wer das überhaupt war. Ein Separatist, kein Integrationist wie Dr. King. Ein Moslem, kein Christ. Ein schwarzer Nationalist, der nicht an Gewaltfreiheit glaubte, sondern daran, dass man zurückschlagen muss. Weil Malcolm X ermordet worden war wie Dr. King, schien er einen besonderen Platz in den Herzen der Gangmitglieder einzunehmen. Sie hätten ihm vielleicht widersprochen, als er noch lebte, aber jetzt schrien sie, Malcolm hat die Wirklichkeit so gesehen, wie sie war. Er war ein Märtyrer, ein Prophet. Was Malcolm X betraf, war die Gang trotz aller stürmischen Auseinandersetzungen einer Meinung.

Es wurden auch andere Namen genannt, Namen von schwarzen Aktivisten, die jünger waren als meine Eltern und ihre Freunde, und deren Nennung aggressivere Diskussionen hervorrief. Namen im Zusammenhang mit den Black Panthers und Black Power: Huey Newton und Bobby Seale, Stokely Carmichael, H. Rap Brown, Eldridge Cleaver, Reggie Brogus. Ich brachte die meisten dieser schwarzen Revolutionäre immer wieder durcheinander. Aber Reggie Brogus stand für etwas Besonderes in den verbalen Auseinandersetzungen der Gang. Brogus, sagten manche, sei überhaupt kein echter Revolutionär, sondern – ein Terrorist. Andere kritisierten, er sei ein Schwindler, ein Trittbrettfahrer, ein »crazy nigga«. Brogus war genau das, was die Bewegung brauchte, schrie jemand, weil er die Weißen das Fürchten lehre. Aber Brogus schien auch einer Menge Schwarzer das Fürchten zu lehren. Von allen Revolutionären galt Brogus eindeutig als der gefährlichste.

Tatsächlich so gefährlich, dass er dafür mit einem Platz auf dem Regalbrett der verbotenen Texte belohnt wurde. Als ich eines Tages auf der Leiter stand und die Sammlung anspruchsvoller Schmutzliteratur durchging, war ich sofort fasziniert von dem Namen »BROGUS«, der in schwarzer Blockschrift auf dem weißen Buchrücken eines schmalen Bands prangte. Meine Eltern stellten nie politische Titel in die Reihe mit den Sexbüchern. Ich erinnere mich noch, wie ich tief einatmete, als ich das Buch aus dem Regal zog und das Foto auf dem Umschlag sah. Ich geriet ins Schwanken da oben auf der Leiter, als ich völlig schockiert in den Lauf einer Pistole blickte, der direkt auf die Kamera gerichtet war, direkt auf dich, genauso bedrohlich wie der Blick des Mannes, der die Waffe in der Hand hielt und auf den Betrachter zielte: Mit den großen, hervortretenden Augen im dunklen Gesicht, einem sehr dunklen Gesicht mit viel Weiß um die schwarze Iris, wirkte das Bild beinahe wie ein altes rassistisches Zerrbild. Nur dass diese Minstrelkarikatur einen Psychoguerillero zeigte. In diesen hervortretenden Augen lag keine Dummheit, kein Bedürfnis zu gefallen, sondern eine brodelnde Intelligenz und eine glühende Leidenschaft, die unmissverständlich klarmachten, dass dieser Mann abdrücken würde, einfach weil er nicht anders konnte. Statt eines breiten, angenehmen Grinsens mit entblößten weißen Zähnen zeigte dieses Bild gekräuselte, grimmig zusammengepresste Lippen. Mit Muskeln wie ein Footballspieler schien dieser Mann sein Tarnfarbenhemd beinahe zu sprengen. Auf dem Kopf trug er ein schwarzes Beret. Direkt über der Mütze stand in gezackten schwarzen Buchstaben auf weißem Grund der Titel: LIVE BLACK OR DIE! Weiter unten auf dem Buchdeckel, ungefähr da, wo sich der Nabel dieses revolutionären Pistoleros befand, standen die Worte: A Militant Manifesto. Ich wusste nicht genau, was das letzte Wort bedeutete. Und erst, als ich das Buch aufschlug, las ich auf der Titelseite den vollen Namen des Autors: REGINALD TIBERIUS BROGUS.

Das Buch war ein zerlesenes, billig produziertes Paperback. Die Seiten sahen aus, als wären sie mit einer mechanischen Schreibmaschine geschrieben, dann verkleinert und vervielfältigt worden. Ich war so aufgeregt angesichts dieses Funds, dass ich das Buch nicht chronologisch durchlesen konnte. Ich blätterte wild durch die ungefähr hundert Seiten, meine Augen glitten über die Absätze und suchten nach den aufregenden Stellen. Das hier war also das Werk von Reggie Brogus! Von diesem berüchtigten, subversiven »crazy nigga«, dessen Ansichten so brandgefährlich waren, dass sie sogar andere schwarze Rebellen in Angst und Schrecken versetzten. Was ich da las, war weniger politisch als apokalyptisch. Es gab kein Zehn-Punkte-Programm, keine Agenda, der man folgen sollte. Es war eher eine Poesie der Gewalt, völlig unvernünftig und delirierend vor Wut. Brogus beschwor eine erbarmungslose Macht namens Blackness und forderte, dass alle, die nicht von Geburt an Schwarz waren, sich so Schwarz wie nur möglich machen sollten. Selbst wenn man Schwarz geboren war, aber nicht Schwarz genug, musste man noch Schwärzer werden. Sonst würde man an die Wand gestellt und erschossen. Er beschrieb geradezu orgiastisch, wie gigantische Wellen von Schwarzen aus aller Welt Amerika überrennen würden. Er rief zu Massenexekutionen von weißen Männern auf. Er befürwortete die Vergewaltigung von weißen Frauen durch Schwarze Männer, um erstens die Vergewaltigung von Schwarzen Frauen durch die weißen Sklavenhalter aufzurechnen und zweitens sicherzustellen, dass die Bevölkerung Schwärzer wurde. Trotzdem sprach er sich gegen gemischte Ehen aus. Schwarze Männer sollten ausschließlich Schwarze Frauen heiraten. Weiße Frauen waren nur dazu da, vergewaltigt zu werden. Ich las das ganze Buch stückweise durch und war gleichermaßen aufgepeitscht wie verblüfft. LIVE BLACK OR DIE! war eine irre, blutrünstige Genozidvision, sexbesessen, oftmals unlogisch, eine rassistische Rachefantasie. Ich war begeistert.

Das war 1969, und ich war ein wohlerzogener elfjähriger Junge aus der Mittelschicht. Zu behaupten, ich hätte Reginald T. Brogus als Vorbild betrachtet, wäre lächerlich. Ich würde nie so werden wie er. Aber wenn ich das Bild auf dem Umschlag anstarrte, fühlte ich mich auf eine beinah schmerzhafte Art angezogen. Ich kann nicht behaupten, dass ich ihn als Helden verehrte, denn Brogus war kein Held. Er war viel besser als das, viel cooler, viel Schwärzer als alles andere. Er war ein Anti-Held.

* * *

»Wie seh ich jetzt aus?« Reginald T. Brogus schäumte vor Wut. »Wie der allerletzte Trottel?«

Er saß neben mir in meinem dunkelblauen Volvo – das sichere, solide Familienauto –, eingezwängt in seine dicke graue Daunenjacke, eine Fellmütze mit Ohrenschützern leicht schräg auf dem Kopf. Er hatte seinen Trainingsanzug ausgezogen – aber der Geruch hing noch in der Luft, nachdem er das nach kaltem Schweiß stinkende Ding in seine Reisetasche auf der Rückbank gestopft hatte – und trug nun einen schlechtsitzenden blauen Nadelstreifenanzug und rote Hosenträger. Seine Hermès-Krawatte, auf der sich süße kleine Elefanten tummelten, hing ebenfalls schief um seinen Hals, dessen Speckfalten über die scharfe Kante des gestärkten weißen Hemds quollen. Auf seinem mächtigen Bauch lag die Tragetasche mit dem Laptop. Er strich sich abwesend über die schwarzen und weißen Bartstoppeln und erzeugte ein rhythmisches Kratzen, während er sprach. Er schien genauso sehr mit sich selbst wie mit mir zu sprechen, wechselte ständig hin und her zwischen dem Entwerfen eines Fluchtplans und dem Verfluchen seiner Feinde.

»Es ist jetzt 3:09 Uhr«, sagte Reggie. »Der Flughafen von Arden wird um fünf geöffnet. Mein Flug nach Cleveland geht um sechs. Die Frage ist, wohin ich von Cleveland aus fliege … Diese beschissenen Arschlöcher! Was glauben die denn, mit wem sie es zu tun haben? Wollen die mich reinlegen? Wollen die sich mit Reggie Brogus anlegen? In Ordnung, ihr Arschlöcher, dann seht mal zu! … Aber heute ist Montag und Feiertag noch dazu. Ich glaube kaum, dass heute jemand ins Afrikamerika-Institut geht. Also wird die Leiche frühestens am Dienstagmorgen gefunden. Damit bin ich ihnen vierundzwanzig Stunden voraus. Ein Tag Vorsprung. Das ist ein Vorteil, den ich ausnutzen muss … Diese Feiglinge! Rückgratlose, feige, schwanzlose, arschleckende, jämmerliche Schwuchteln! Ihr wollt mich mit so einer stümperhaften Show drankriegen? Mich? Ich werde sie zurück in den Schlamm werfen, aus dem sie gekrochen sind! … Es ist jetzt 3:11 Uhr. Wie lange dauert es noch bis zum Flughafen?«

Der Volvo surrte die Straße entlang, die Lichtkegel der Scheinwerfer durchschnitten die Dunkelheit. Ich hielt das Lenkrad umklammert und starrte auf die gestrichelte weiße Linie auf der Asphaltstrecke, die sich endlos lang durch die flache Landschaft mit ihren hartgefrorenen winterlichen Feldern zog. Dies hier war Farmland. Mehr gab es nicht zu sehen entlang der dreißig Meilen zwischen der Arden University und dem Flughafen. Rechts und links der Straße waren in einiger Entfernung die dunklen Umrisse von Scheunen und Häusern zu sehen. Hier und da ragte ein Getreidesilo in den leeren Himmel und verschwand im Vorbeifahren hinter uns. Meine Gedanken waren in einer neutralen Zone angelangt, ich war nur noch ein Mann, der sich notgedrungen, aus Pflichtgefühl dazu entschlossen hat, einen Freund zum Flughafen zu bringen.

Wie die Vision eines Traums, an den man sich kaum noch erinnern kann, flammte gelegentlich das Bild der Leiche in Reggies Büro in meinem Kopf auf. Es war nicht Jenny. Während ich in einer Art Halbtrance immer weiterfuhr, schaffte ich es mir einzureden, dass es nicht Jennys Körper, nicht Jennys Gesicht gewesen war. Ich hatte von Seeräuber-Jenny geträumt, als mich der Anruf von Brogus vor einer Stunde aus dem Schlaf geholt hatte. Das war der Grund. Ich konnte mich nicht mehr an den Traum erinnern, aber ich war immer noch benommen gewesen, als wir Reggies Büro betreten hatten. Und als ich das Gesicht des toten Mädchens sah, musste ich Jennys Gesicht darüber projiziert haben. Bei dem erwürgten Mädchen auf dem Sofa konnte es sich unmöglich um Jenny handeln. Das durfte nicht sein.

Ich weiß nicht, wie lange ich in dieser Halbtrance immer weiterfuhr und Reggie zuhörte, wie man mit halber Aufmerksamkeit dem Radio lauscht, und dabei dachte, dass ich ihn einfach nur am Flughafen abliefern musste, um anschließend zurückzufahren, dorthin, wo ich hingehörte, in mein Bett. Aber je weiter ich fuhr, umso mehr erfasste mich eine gewisse Angst: die Angst, gesehen zu werden, von den Scheinwerfern eines entgegenkommenden Autos erfasst zu werden, von einem Streifenwagen, der plötzlich in der Dunkelheit vor mir auftaucht.

»Clay!«, schrie Reggie mich an.

»Was ist?«

»Wie weit noch bis zum Airport?«

»Weiß ich nicht. Noch ist der Tower nicht zu sehen. Wenn man den Tower sieht, sind es noch fünf Meilen oder sogar weniger.«

»Also gut. Nehmen wir an, dass wir um 3:20 Uhr dort ankommen. Dann muss ich eine Stunde und vierzig Minuten draußen warten.«

Brogus machte eine Pause, und ich merkte, wie er mich ansah. Ich starrte weiter stur auf die Straße.

»Ich will dich nicht darum bitten, dort mit mir zu warten«, sagte Reggie. »Setz mich einfach ab. Das geht in Ordnung. Es ist verdammt kalt da draußen, aber das ist nichts im Vergleich zu Russland. Ich habe den Winter 1978 in einem sicheren Haus in Leningrad verbracht. Ohne Heizung, ohne warmes Wasser. Das war wirklich eisig. Mann, die Russen sind ein beschissen rückschrittliches Volk!«

Wieder spürte ich diesen verbotenen Nervenkitzel. Ich befand mich auf der Flucht, zusammen mit Reggie Brogus, diesem ehemaligen Illegalen, der ins Exil gehen musste, und der nun wieder auf der Flucht war. Aber die Angst überdeckte sofort meine Begeisterung. Ich tauchte aus meiner Halbtrance auf. Was zum Teufel machte ich hier?

»Cointelpro«, knurrte Reggie. Dann wiederholte er es lauter, damit ich es auch hörte: »Cointelpro!«

»Was?«, fragte ich. Ich dachte, er hätte etwas auf Russisch gesagt.

»CO-IN-TEL-PRO«, buchstabierte er ungehalten.

»Was soll denn das heißen?«

»Counter Intelligence Program!«, stieß er hervor. »J. Edgar Hoovers Strategie, um die Black-Power-Bewegung zu zerstören. Als ob diese Clowns das nicht selbst schon genügend bewerkstelligt hätten – ohne Schützenhilfe des FBI! Aber Cointelpro war ein System der Desinformation, mit schmutzigen Tricks, Doppelagenten, Infiltration – Mordanschlägen! Ich musste mich früher schon mit diesen Scheißkerlen auseinandersetzen, Clay! Ich weiß, wovon ich spreche. Diese Arschlöcher haben noch ein paar Rechnungen mit mir offen. Irgendein Mist von vor zwanzig Jahren. Diese Scheißkerle vergessen nie etwas. Sie warten auf ihre Gelegenheit. Und jetzt haben sie eine gefunden.«

Ich bemerkte die dunklen Umrisse des Towers, die sich vor dem violetten Himmel abzeichneten. Ich merkte, wie meine Gedanken wieder klarer wurden. Als ich das Gesicht dieses Mädchens in Reggies Büro gesehen hatte – das Gesicht, von dem ich dachte, es sei Jennys –, war das wie ein Schlag auf den Kopf gewesen. Ich war in gewisser Weise bewusstlos geworden. Erst jetzt kam ich langsam wieder zu mir. Ich spürte eine Wut, die in mir anwuchs. Ich war wütend auf Reggie Brogus, der, wie mir jetzt klar wurde, selbst auch völlig neben der Spur sein musste, aber vor allem war ich wütend auf mich selbst: Ich war gerade dabei, einem potenziellen – sogar einem offensichtlichen – Mörder zur Flucht zu verhelfen. Ich machte mich der Beihilfe zum Mord schuldig!

»Du hast anscheinend noch nie von Cointelpro gehört«, sagte Reggie abfällig. »Du solltest dich mehr um deine eigene Geschichte kümmern, Clay. Die solltest du kennen, wenn du helfen willst, mich zu entlasten … Hey, da vorne ist der Tower!«

Ich war jetzt ruhig geworden und lenkte den Wagen von der Fahrbahn auf das unebene gefrorene Feld. Wir waren noch gut vier Meilen vom Flughafen entfernt. Ich löschte die Scheinwerfer und schaltete den Motor aus.

»Was soll das denn jetzt werden?«, zischte Brogus.

»Du hast das Mädchen umgebracht, Reggie, das stimmt doch, oder?« Ich sagte es so eiskalt, dass ich sogar selbst überrascht war. Brogus schwieg. Da die Scheinwerfer aus waren, saßen wir fast in völliger Dunkelheit im Wagen. Der Himmel draußen schien heller zu werden, veränderte die Farbe von schwarzviolett zu blaugrau. Das einzige Objekt, das aus der diffusen Dunkelheit hervorstach, war die dunkle Silhouette des Towers. Windböen schlugen gegen die Fenster des Volvos. Brogus gab keinen Ton von sich.

»Ich weiß, wie es passiert ist«, fuhr ich fort, immer noch mit diesem eiskalten Unterton. »Es war eine Sexgeschichte, die ein bisschen außer Kontrolle geraten ist, stimmt’s? Das war bloß ein Mädchen, mit dem du gevögelt hast. Nur ein Spiel, das du auch vorher schon gespielt hast. Wie in diesem perversen japanischen Film, ›Im Reich der Sinne‹. Eine Person würgen, damit kurz vor dem Ersticken die Intensität des Orgasmus gesteigert wird. Das war das Spiel, richtig? Du hast es schon vorher gemacht, und sie war total scharf drauf. Scheiße, womöglich war es sogar ihre Idee, hm? Und heute Abend seid ihr mehr als sonst abgedriftet. Es war ein Unfall. Das arme Mädchen ist gestorben. Aber es war kein Mord. Es war … Ich weiß auch nicht … fahrlässige Tötung, stimmt’s?«

»Das denkst du wirklich?« Reggies Stimme klang jetzt genauso eiskalt wie meine.

»Reggie, da liegt ein nacktes Mädchen in deinem Büro, mit deinen Hosenträgern um den Hals. Was, zum Teufel, soll ich denn davon denken?«

»Hier geht’s nicht um Sex, Clay. Hier geht’s um Politik.«

»Ja, klar, Reggie. Erst heißt es, die Cops sind hinter dir her, jetzt ist es die CIA.«

»FBI. Cointelpro war eine FBI-Operation.«

»Egal, was auch immer es war, ich nehme dir das nicht ab, Reggie. Warum, verflucht noch mal, sollten die eine Leiche in dein Büro legen?«

»Um mich loszuwerden, Clay!« Brogus’ Stimme klang jetzt wieder panisch und verzweifelt. »Weil ich zu viel weiß.«

»Ach, hör doch auf, Reggie.«

»Ich mein’s ernst, Mann. Es ist so, wie ich sage. Darum geht’s. Das musst du den Behörden erklären! Ich habe bestimmte Informationen, Clay. Informationen, die sie nicht veröffentlicht haben wollen. Tonbänder! Dokumente! Verschlusssachen!«

»Worüber denn?«

»Über das, was in Memphis passiert ist«, sagte Brogus pathetisch.

Memphis? Zuerst dachte ich an Graceland, das Anwesen von Elvis. »Wo?«

»Memphis, Tennessee«, erklärte er feierlich. »Das Lorraine Motel. Am 4. April 1968. Die Ermordung von Dr. King. Ich habe die MLK-Files, Clay. Ich weiß, was dort in Memphis wirklich abgelaufen ist.«

Sie können mich für einen Trottel halten. Für was auch immer. Aber Reggie Brogus hatte mich schon wieder am Wickel. Einerseits dachte ich, er ist komplett verrückt geworden, andererseits war ich fasziniert. Der Pawlowsche Reflex eines Journalisten. Mir lief das Wasser im Mund zusammen, angesichts der Möglichkeit einer ganz großen Story. »Diese Files sind tatsächlich in deinem Besitz?«

»Nicht im Augenblick.« Brogus presste seinen Laptop fester gegen seinen Bauch. »Die Dokumente sind an einem sicheren Ort. Aber diese Dreckskerle wissen, dass ich jederzeit damit an die Öffentlichkeit gehen kann. Ich habe konkrete, unwiderlegbare Beweise dafür, dass die Regierung an der Verschwörung zur Ermordung von Martin Luther King beteiligt war. Deshalb wollen sie mich in den Knast bringen. Oder auf den elektrischen Stuhl! Ich sag’s dir, Clay, diese Scheiße da in meinem Büro ist eine abgekartete Sache!«

Ich entschied, dass es nicht der rechte Zeitpunkt war, um Brogus auf den Zahn zu fühlen. Jeden Moment konnte auf dieser verlassenen Straße eine Polizeistreife auftauchen, und ich saß hier in einem Fluchtfahrzeug, das auf meinen Namen zugelassen war, mit dem Hauptverdächtigen eines Mordfalls. Ich starrte zu der dunklen Silhouette des Towers in der Ferne.

»Ich gehe in den Untergrund, Clay«, sagte Reggie mit rauer Stimme. «Aber du musst dir diese Sache vornehmen. Sie aufdecken! Sieh es mal aus dieser Perspektive, Mann. Du sitzt hier vielleicht auf der Jahrhundertstory! Du könntest sogar den Pulitzerpreis dafür gewinnen!«

Reggie übertrieb maßlos. Der Pawlowsche Hund hörte auf zu geifern. »Reggie«, sagte ich, und der eiskalte Unterton war wieder da. »Ich kann dich nicht weiterfahren. Der Flughafen ist ungefähr vier Meilen entfernt. Du musst zu Fuß gehen.«

»Du willst mich nicht hinbringen?«

»Nein, will ich nicht.«

Brogus schnappte nach Luft. »Wie beschissen ist das denn? Wir fahren den ganzen Weg bis hier raus und jetzt willst du mich einfach am Straßenrand aussetzen?«

»Steig aus, Reggie.«

»Hör mal, Clay, Mann, du schuldest mir noch was!«

Jetzt spürte ich den Hass, den Hass auf Reggie Brogus, der mich immer wieder packen würde. Wieso kam er jetzt auf einmal damit, dass ich ihm verpflichtet war? Falls ich ihm überhaupt etwas »schuldete«. Wurde dieser Hass von einem noch tieferen Misstrauen hervorgerufen? Vielleicht war das doch Jenny in seinem Büro. Hatte er sie gekannt? Hatte Reggie sie auch gevögelt? Wusste er, dass dies die Frau war, mit der er mich erwischt hatte? Wusste er, dass es Jenny gewesen war, an diesem Abend, trotz ihrer großartigen Verkleidung? Aber nein, das in Brogus’ Büro konnte einfach nicht die Leiche von Seeräuber-Jenny sein. Trotzdem lag da eine Tote. Und dieser Fettwanst hatte den Nerv, von mir eine Schuld einzufordern!

»Raus aus meinem Wagen, Reggie!«

Brogus schwieg eine Weile. Schließlich sagte er: »Dann ist das also so, hm?«

»Genau.«

Reggie hob seine Reisetasche von der Rückbank. »Ich verstehe. Du hast eine Frau und Kinder, die du schützen musst. Vielen Dank, dass du mich so weit gebracht hast. Ich weiß das zu schätzen. Ich werde es dir nie vergessen, Bruder. Ich hoffe, du glaubst an mich. Wirst du dir merken, was ich dir heute Nacht erzählt habe?«

»Ja«, sagte ich so kühl, wie ich konnte.

»Wirst du versuchen, so viel wie möglich herauszufinden?«

»Ich werde es versuchen, Reggie.«

»Danke, Clay.«

Brogus öffnete die Tür und ein kalter Luftschwall drang herein. Er stieg aus dem Wagen und zog den Reißverschluss seiner Jacke zu. Ich erwartete, dass er nun die Tür schließen würde. Stattdessen beugte er sich noch mal herein. »Verrate mich nicht, Clay.«

»Mach ich nicht«, sagte ich hastig im Reflex.

Brogus schloss vorsichtig die Tür. Ich hörte, wie er davonging, seine Schritte knirschten auf der frostharten Erde. Ich startete den Motor, schaltete die Scheinwerfer ein. Brogus wurde nun grell angestrahlt. Ich sah nur seinen Rücken, die Pelzmütze, die graue Daunenjacke, die blaue Nadelstreifenhose und die schwarzen Schuhe, die Reisetasche, die er sich über die Schulter gehängt hatte, die Laptoptasche über der anderen. Er drehte sich nicht um, schaute nicht zurück, schien nicht überrascht zu sein von dem plötzlichen Aufflammen der Scheinwerfer. Es war etwas Mitleiderregendes an diesem schweren, großen Mann, der durch den Schnee davonstapfte.

Ich umfasste das Lenkrad, drehte den Wagen und fuhr zurück in die Stadt. Die Angst hatte mich gepackt. Ich wollte so schnell wie möglich nach Hause, ohne gesehen zu werden, ohne dass ein anderes Auto mir entgegenkam. Ich schaute auf meine Armbanduhr. Es war 3:23 Uhr. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so sehr und so verzweifelt danach gesehnt, nach Hause zu kommen, in mein Bett, und danach, meine Frau zu umarmen.