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Penelope schnarchte immer noch leise, als ich nach Hause kam. Ich zog mich hastig in der Dunkelheit um und schlüpfte ins Bett. Meine Frau ist die tiefste Schläferin, die ich kenne. Es sei denn, unsere Kinder fangen an zu schreien. Ich habe erlebt, wie Penelope weiterschlief, während Wecker klingelten, laute Musik spielte oder ein Presslufthammer vor ihrem Fenster unablässig im Einsatz war. Aber wenn eine der Zwillinge mitten in der Nacht aufwachte und in ihrem Zimmer nur ganz leise »Mama« rief, war sie sofort hellwach, alarmiert und einsatzbereit. Ich sah, dass Penelope sich nicht bewegt hatte während der Zeit, die ich mit Brogus unterwegs war. Ich war völlig benommen vor Erschöpfung. Ich kuschelte mich an sie. Meine Thermounterwäsche schmiegte sich angenehm an den Flanellstoff ihres Herrenpyjamas, den sie gerne trug. Ich vergrub mein Gesicht in ihrem Haarschopf und atmete ihren wunderbaren, unvergleichlichen Duft ein. Ich liebte es, wenn sie leise schnarchte.

Penelope hasste es, dass sie schnarchte. »Das ist nicht sehr feminin«, erklärte meine sehr feministische Frau dazu. Da sie, natürlich, immer schlief, wenn sie schnarchte, fragte sie mich einmal, wie ihr Schnarchen denn klang, wie laut es war. Ich lieferte ihr Beispiele von groteskem Röcheln und Knurren und Gurgeln und sagte, sie klänge ungefähr so, nur lauter. Aber Penelope wusste, wie sehr ich ihr Schnarchen mochte. Es gab mir etwas Tröstliches, die Intimität einer innigen Umarmung, begleitet von dem sanften, rhythmischen Schnurren ihres Atems, während sie schlief. Schnarchen bedeutete, dass meine Liebste ruhte und die Kinder sicher in ihren Betten lagen.

Die roten Leuchtziffern auf der digitalen Anzeige des Weckers auf dem Nachtschränkchen zeigten 3:42. Es waren genau eine Stunde und fünfzehn Minuten vergangen, seit Reggie Brogus mich mit seinem Anruf aus dem Schlaf gerissen hatte. Als ich nun wieder im Bett lag, kam mir die ganze Episode vor wie ein bizarrer Traum, den ich gerade gehabt hatte. Ich glitt in den Schlaf mit dem Gedanken, dass das alles – der Anruf, das Gespräch in der Küche, die Leiche im Büro, die Fahrt zum Flughafen – nicht stattgefunden haben konnte. Ich spürte diese ganz besondere Erleichterung, die man empfindet, wenn man kurz vor dem Wiedereinschlafen erkennt, dass dieser besonders hässliche Albtraum nur ein Produkt der Fantasie war, nichts, mit dem man sich nach dem Aufwachen beschäftigen musste. Ich war ruhig, selbstsicher, eingelullt von Penelopes Schnarchen. Nichts konnte uns gefährlich werden. Alles war in bester Ordnung.

* * *

Ich sage gern, dass Penelope Law und ich eine selbstarrangierte Ehe führen. Es mag eigenartig klingen, aber wir beide hatten gleich bei unserem ersten Zusammentreffen mit zwölf Jahren das Gefühl, das wir eines Tages heiraten würden, sogar heiraten sollten. Ich war damals in der siebten Klasse der unglaublich angesehenen Dreedle Prep School in einem Vorort von Philadelphia. Sie war im gleichen Jahrgang auf der Hadley Girls’ School, der Schwesterschule direkt gegenüber auf der anderen Seite des Schulhofs. Trotz ihrer Reputation als Schule für reiche Weiße hielt sich die Dreedle-Hadley-School für toll und fortschrittlich. Penelope und ich gehörten zum 15-prozentigen Minderheitenanteil der Schülerschaft. Kaum hatten wir einander im Schulbus bemerkt – ich in meinem blauen Dreedle-Blazer mit weißem Hemd und karierter Krawatte, Khakihose und Mokassins, sie in ihrer weißen Hadley-Bluse mit blauem Band, kariertem Faltenrock, weißen Socken und Slippers –, wussten wir es. Es war nicht Liebe auf den ersten Blick. Viele Jahre würden vergehen, bevor wir uns ineinander verliebten. Was wir im Alter von zwölf Jahren erlebten, war eher etwas Praktisches, ein Gefühl von Unvermeidlichkeit. Eines Tages würden wir verheiratet sein. Das war einfach naheliegend. Wie ich schon sagte, ich weiß, das klingt merkwürdig. Aber später, als Erwachsene, sprachen Pen und ich darüber und bestätigten uns, dass wir beide schon damals während der Pubertät wussten, dass es so kommen würde.

Es war im Herbst 1970. Im November besetzten schwarze Schüler der höheren Klassenstufen das Verwaltungsgebäude. Was für eine Aufregung! Sie ahmten ganz dreist die College-Studenten nach. Allerdings lief der Konflikt bei Dreedle-Hadley vergleichsweise harmlos ab. Die schwarzen Schüler trugen keine Waffen bei sich. Und der Direktor, die Direktorin und alle anderen Angehörigen des Lehrkörpers überließen ihnen ganz friedlich das Gebäude. Ich war schwer enttäuscht, dass ich als Unterstufenschüler zu jung war, um an der Besetzung teilzunehmen. Ich hörte, dass die schwarzen Oberstufenschüler die Wände der Büros mit Plakaten von Che Guevara, Huey Newton, Angela Davis und natürlich Reginald T. Brogus tapeziert hatten – das Bild von Reggie, wo er mit der Pistole in die Kamera zielt. Die Besetzung dauerte 48 Stunden. Danach hatten die Schüler und die Schulleitung sich auf eine Abmachung verständigt. Es war nicht nötig gewesen, die Cops zu rufen – auf geschwungene Gummiknüppel und Tränengasschwaden wurde verzichtet. Auch wenn ich nicht beteiligt war, profitierte ich eindeutig von der Aktion. Im Jahr darauf wurden die Schuluniformen abgeschafft, die Jungs- und die Mädchenschule wurden zusammengelegt und es gab eine ganze Menge neuer Kurse, darunter Black Studies. Revolution war eine tolle Sache!

Penelope wurde eine meiner engsten Freundinnen, aber wir waren keine Highschool-Sweethearts. Sie war mit anderen Jungs von der Dreedle-Hadley zusammen, ich mit anderen Mädchen. Trotzdem waren wir beide uns unausgesprochen einig. Ich hatte bei Pen nie diese groben, geilen Fantasien wie bei anderen Mädchen. Wenn ich über Penelope nachdachte, dann stellte ich mir immer unsere Hochzeit vor oder das Haus auf dem Land, das wir eines Tages beziehen würden. Träumte davon, wie wir unser gerade geborenes Baby aus dem Krankenhaus nach Hause bringen würden. Nach der Highschool schrieb ich mich an der Cornell University in New York ein. Penelope ging nach Berkeley in Kalifornien. Gelegentlich schrieben wir uns Briefe, manchmal verbrachten wir die Ferien miteinander. Als ich 1980 meinen College-Abschluss machte und sie auch, hatten wir immer noch keinen Sex miteinander gehabt. Das war gar nicht nötig. Wir wussten ja, dass wir einen unausgesprochenen Pakt hatten. Wenn der Zeitpunkt gekommen war, wären wir füreinander da, das stand fest. Es war außerhalb jeder Diskussion, dass wir nicht zusammenkommen würden.

* * *

Manchmal beginnt eine Ära, bevor eine vorherige beendet ist. Für mich begann das Konservative Zeitalter mit der Wahl von Ronald Reagan – der Verkörperung rechtsgerichteter Missgunst – zum Präsidenten der Vereinigten Staaten im November 1980. Das Liberale Zeitalter endete erst einen Monat später, als John Lennon – mein Lieblings-Beatle, der engagierte, bilderstürmerische Radikale, der »Give Peace A Chance« gesungen hatte – von einem geistig verwirrten Fan vor seinem Wohnhaus in Manhattan niedergeschossen wurde. Lennons Ermordung hatte auf mich die gleiche psychische Wirkung wie die Ermordung von Dr. King auf meine Eltern und ihre Gang. Aber Lennons Tod stachelte nicht zu Wutausbrüchen oder Aufständen an. In Zusammenhang mit dem Aufstieg von Reagan fühlte ich mich deprimiert und machtlos. The times they were a-changin’, aber zum Schlechteren. Mit einem Mal trugen die Leute ihre Haare kurz, achteten auf gute Kleidung, wurden apolitisch. Ich bemerkte, dass Begriffe aus der Wirtschaft – »Was bleibt unterm Strich übrig?« – oder dem Militärischen – »Reih dich ein!« – in die Alltagsgespräche Eingang fanden. Die Welt war härter, böser und kälter geworden. Und es gab keine Möglichkeit für mich, irgendetwas dagegen zu tun.

Im Frühjahr 1981 lebte ich in Greenwich Village und hatte meinen ersten Job als Praktikant bei der neuen Hochglanz-Wochenzeitschrift namens A Bite of the Apple ergattert. Eines Morgens, als ich in der Redaktion saß, wurde ich auf eine Meldung der Associated Press aufmerksam. Reginald T. Brogus war in Paris festgenommen und an die Vereinigten Staaten ausgeliefert worden, um sich wegen Verschwörung vor einem Bundesgericht zu verantworten. Es war Jahre her, seit ich den Namen Brogus zuletzt gehört hatte. In dem Artikel war zu lesen, dass er seit April 1974 untergetaucht war, als Mitglieder einer sogenannten Terrorgruppe – die offiziell den Namen »Blackness as a Revolutionary Force«, abgekürzt BAARF, trug – einen Banküberfall in Detroit verbockt hatten. Bei einem wilden Schusswechsel auf dem Parkplatz vor dem Bankgebäude wurden zwei Polizisten und drei Angehörige der BAARF getötet. Offenbar war der Plan gewesen, die Beute in einen Helikopter zu schaffen und das gestohlene Geld über den ärmsten Ghettos von Detroit abzuwerfen, Millionen von grünen Scheinen sollten auf die Innenstadt hinabregnen. Auch wenn Brogus sich nicht unter den vermummten, gewehrschwingenden Bankräubern befand, ging man davon aus, dass er der Stratege hinter diesem Plan war. Sieben Jahre lang hatte Brogus sich den Strafverfolgungsbehörden der USA entziehen können, indem er zuerst nach Kuba floh und dann über Angola, Algerien, die Türkei und die Sowjetunion nach Paris gelangte, wo er geschnappt wurde, als er sich gerade ein Glas Bordeaux und ein Stück Camembert in einem Straßencafé genehmigte. Jetzt befand er sich in einem Hochsicherheitstrakt in Michigan und wartete auf seinen Prozess.

Ich versuchte, meinem Redakteur zu erklären, dass die Ergreifung eines geflüchteten Revolutionärs eine tolle Story für A Bite of the Apple wäre. Aber er schnaubte nur abfällig: »Reggie Brogus! Der ist doch Schnee von gestern!«

Damals, zu Beginn meiner journalistischen Karriere, glaubte ich noch daran, dass Redakteure wussten, wovon sie sprachen. Deshalb beschäftigte ich mich nach meinem Praktikum, als ich eine erfolgreiche Laufbahn als Freelancer begann, auch nicht mehr mit dem Fall. Die folgenden drei Jahre stolperte ich kein einziges Mal über irgendeine Meldung zum Thema Reggie Brogus. Ich hatte keine Ahnung, wie sein Prozess ausgegangen war oder ob es überhaupt einen Prozess gegeben hatte.

Dann, eines Tages im September 1984, schickte mir mein alter Redakteur von A Bite of the Apple per Kurier ein Päckchen in meine Wohnung. Darin lag ein Buch mit einem angehefteten Notizzettel. »Vielleicht ist jetzt die Zeit gekommen, über diesen Kerl zu berichten«, stand darauf. Ich weiß noch, wie ich tief einatmete, als ich den Zettel abnahm und das Foto auf dem Buchumschlag sah. Es zeigte einen pummeligen, selbstbewusst und vornehm aussehenden Schwarzen mit einer Pfeife im Mund. Er trug ein hellblaues Hemd mit Button-down-Kragen, eine blaue Fliege mit weißen Punkten und rote Hosenträger. Sein angegrautes Haar war schon ausgedünnt und er hatte einen gepflegten Vollbart. Wären da nicht diese riesigen, froschartigen Augen hinter der dunklen Hornbrille gewesen, hätte ich den großen Antihelden meiner Jugend nicht mal wiedererkannt. Über dem Kopf mit dem schütteren Haar stand in eleganter Kursivschrift der Titel: An American Salvation: How I Overcame the Sixties and Learned to Love the USA. Ganz unten auf dem Umschlag, ungefähr da, wo der Schmerbauch des Autors sich wölbte, war sein Name vermerkt: Reginald T. Brogus.

Das Buch war ein schick designtes Hardcover, publiziert von einem der großen Verlagshäuser. Ich war so verblüfft von Brogus’ neuem Image, dass ich das Buch nicht chronologisch durchlesen konnte. Ich blätterte durch die ungefähr zweihundert Seiten und überflog die Absätze auf der Suche nach Erklärungen für seine schockierende Verwandlung. Soweit ich das sehen konnte, war das Buch eine rechtsradikale Hasstirade, eine wüste Diffamierung der staatlichen Wohlfahrtsprogramme, der Förderung von Minderheiten, des Rechts auf Abtreibung. Brogus verdammte die linken Aktivisten, verfluchte die Black-Power-Bewegung, die er einst mit angeführt hatte, verunglimpfte arme Afroamerikaner als faule, lahmarschige Parasiten. Er war voll des Lobes für die traditionellen amerikanischen Werte, pries Männer mit Prinzipien, wie Herbert Hoover, George Wallace und Ronald Reagan. Anstatt sich ständig mit ihrem schwarzen Erbe zu beschäftigen, sollten die »American Negroes«, wie er schrieb, den Weißen nacheifern, die dieses Land so großartig gemacht hätten.

Ich schleuderte das Buch gegen die Wand. Was sollte denn dieser Scheiß? War das eine Parodie, ein Satireversuch, ein schlechter Scherz? Was um Himmels willen war mit Reggie Brogus passiert? Hatte man ihn umgepolt, einer Gehirnwäsche unterzogen, war er wiedergeboren worden? Nicht, dass ich den revolutionären Brogus der Sechziger für eine ehrwürdige Ikone gehalten hätte. Aber immerhin hatte dieser Brogus das Establishment herausgefordert und die Machtstrukturen bedroht. Dieser neue Brogus hingegen war einfach ein Sprachrohr dieses Establishments, ein Werkzeug dieser Machtstrukturen. Glaubte er wirklich an das, was er in An American Salvation geschrieben hatte? Hatte er jemals an das geglaubt, was er in LIVE BLACK OR DIE! geschrieben hatte? Vielleicht hatte Reggie Brogus in seinem ganzen Leben keine wirklich ehrliche Überzeugung gehegt. Vielleicht war er bloß ein feiger Opportunist, der seine Ansichten dem Zeitgeist anpasste. Oder er hatte tatsächlich eine ideologische Wandlung vollzogen. Wieso erschien mir dies als die beängstigendste Variante von allen?

Ich rief den Redakteur an und erklärte ihm, dass ich niemals, nie und nimmer, irgendetwas über Reginald T. Brogus schreiben würde.

* * *

Penelope und ich heirateten früh, früher als alle unsere Freunde. Im Frühling 1984, am Tag, als sie nach New York zog, rief sie mich an. Sie wollte einen Job antreten in der Personalabteilung einer großen Versicherungsgesellschaft. Ich sagte ihr, ich hätte den in diesem Zusammenhang benutzten Begriff »Human Resources« immer schon ominös gefunden. Pen erklärte mir, sie solle sich im Grunde darum kümmern, dass mehr Angehörige gesellschaftlicher Minderheiten eingestellt würden, Beschwerden der Angestellten bearbeiten und dafür sorgen, dass alle Beschäftigten unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht oder Religion korrekt behandelt würden. Ich sagte, dass klänge nach einer ehrenwerten Tätigkeit. »Es ist nur ein Job«, meinte sie. »Nicht mein ganzes Leben. Und, wie sieht’s aus, hast du eine Freundin?«

Hatte ich, aber das spielte keine Rolle. Ich gab meiner aktuellen Affäre den Laufpass, denn jetzt waren Pen und ich so weit. Wir hatten einige Beziehungen hinter uns – mit Partnern, die weiß oder schwarz oder sonst wie waren. Wir hatten keine Lust mehr auf wechselnde Beziehungen. Außerdem gab es damals, 1984, eine gewisse Paranoia vor Herpes. Das kommt einem heute albern vor, Angst vor ein paar schmerzhaften Genitalwarzen zu haben. Aber damals wurde Aids noch als eine Schwulenseuche angesehen. Wie auch immer, Pen und ich hatten uns in sexueller Hinsicht ausgelebt und waren bereit, unseren inoffiziellen Pakt einzulösen. Die Hochzeit fand am Valentinstag 1985 statt. Die Zwillinge kamen genau acht Monate später zur Welt. Wir waren beide 27 Jahre alt.

Was zeichnet eine gute Ehe aus? Manche sagen, Gegensätze ziehen sich an. Aber das war eindeutig nie der Fall zwischen Pen und mir. Wir hatten die gleiche Hautfarbe, kamen aus dem gleichen Mittelklassemilieu, aus derselben Stadt, hatten eine ähnlich lockere Einstellung zum Leben und den gleichen Humor. Wir sahen uns sogar ähnlich, was dazu geführt hatte, dass manche auf der Highschool dachten, wir wären Geschwister. Und was den Sex betrifft, passten wir perfekt, ja geradezu ekstatisch zusammen. Zumindest in der Anfangszeit. Ich hatte kein Interesse mehr an anderen Frauen, schaute sie nicht mal an. Während der ersten vier Jahre unserer Ehe konnte ich mir nicht mal vorstellen, Sex mit einer anderen zu haben. Tatsächlich glaubte ich nicht, dass irgendeine andere mich sexuell so befriedigen konnte wie Penelope. Ich kannte ältere Männer, die ihre Frauen betrogen. Aber diese Versuchung spürte ich nie – jedenfalls während der ersten vier Jahre nicht.

Dann fiel ich öffentlich in Ungnade. Als Fälscher von Zitaten und Quellen, von dem keine Zeitschrift mehr einen Artikel wollte, war ich schnell pleite, und das mit einer Frau und zwei Töchtern (die ich allerdings nur teilweise unterhalten musste, da Pen immer deutlich mehr verdient hatte als ich), und ich fing an zu trinken. Ich wurde nachmittäglicher Stammgast im Babson’s, einer Kneipe für schwarze Yuppies auf der Upper West Side. Eines Tages kam eine alte College-Freundin von Penelope herein. Jasmine war eine üppige Frau mit honigfarbener Haut und karamellfarbenem, geglättetem Haar und großen, hellbraunen Augen. Wie immer stellte sie ihr beachtliches Dekolleté effektvoll zur Schau. Jasmine war mir immer wie eine gigantische Süßigkeit vorgekommen. Sie umarmte mich, als hätte sie mich ewig vermisst, setzte sich neben mich auf einen Barhocker und bestellte einen Whiskey Sour. Jasmine flirtete von Natur aus. Ich glaube, sie konnte gar nicht anders, als im Gespräch mit einem Mann darauf hinzuweisen, dass sie zu haben war. Ich hatte sie nie besonders anziehend gefunden – bis zu diesem Tag im Frühjahr 1989.

Ich war betrunken und geil wie ein Karnickel, als wir die Bar verließen. Jasmine fasste mich unter und führte mich in ihre nicht weit entfernte Wohnung. Und schon lag sie nackt auf ihrem Bett, in ihrer ganzen grandiosen, überzuckerten, wollüstigen Herrlichkeit, und forderte mich auf zuzugreifen. Und wie ich scharf auf sie war! Aber wissen Sie was? Ich konnte nicht. Das Bild von Penelopes Gesicht, von ihrem schlanken Körper schoss mir durch den Kopf. Ich war physisch unfähig, mich Jasmine hinzugeben. Nach einer Stunde gemeinsamer Anstrengung gaben wir auf, peinlich berührt und beschämt. Ich weiß nicht mehr, wer von uns sich mehr entschuldigte. Ich ging nach Hause zu Frau und Kindern, schwer in Sorge, dass Penelope sofort erkennen würde, was passiert war, dass sie nach einem kurzen Blick in mein Gesicht wüsste, dass ich versucht hatte, sie zu betrügen. Aber falls sie an diesem Abend meinen jämmerlichen Zustand bemerkt haben sollte, hat sie es wahrscheinlich auf meine anhaltende berufliche Krise geschoben.

Meine Frau zu betrügen war also eine physische Unmöglichkeit, stellte ich fest. Dazu wäre ich niemals in der Lage. Zwei Jahre nach meinem Erlebnis mit Jasmine, als wir schon nach Arden gezogen waren – aber bevor ich Seeräuber-Jenny kennenlernte –, sprach ich mit Pen abends im Bett rein hypothetisch über das Thema Untreue. Ich sagte ihr, falls ich herausfände, dass sie etwas mit einem anderen Mann hätte, wäre ich wahrscheinlich dermaßen deprimiert, dass ich mich einfach nur hinlegen und sterben würde. Ich fragte sie, was sie tun würde, wenn sie erführe, dass ich mit einer anderen was hätte.

»Ich würde das Miststück aufspüren und erwürgen«, sagte sie.

* * *

Die gefällig-jazzige Titelmusik der Huck-Blossom-Show wurde ausgeblendet und das lange, blasse Pferdegesicht des Gastgebers erschien auf dem Bildschirm. Mit seinem so volkstümlichen wie gebildeten Whitey-Tonfall und seinem typischen Carolina-Akzent gab er eine seiner üblichen Vorstellungen zum Besten, im Stil von: Mein erster Gast heute Abend muss eigentlich gar nicht vorgestellt werden. Es gab einen Schnitt und jetzt war Reginald T. Brogus zu sehen, im grauen Nadelstreifenanzug mit weißem Hemd und einer grellgelben Krawatte. Ich war immer wieder erstaunt darüber, wie fett Reggie Brogus geworden war. Auf dem 1968er Umschlag von LIVE BLACK OR DIE! war er noch muskulös gewesen, das Foto auf An American Salvation von 1984 zeigte einen pummeligen Kerl. Aber in den vergangenen sieben Jahren, in denen seine politischen Ansichten immer weiter nach rechts abgedriftet waren, hatte sein Körper sich proportional dazu aufgebläht.

»Das ist er«, sagte ich zu Penelope. Wir hatten es uns auf dem Sofa im Wohnzimmer bequem gemacht. Das war Anfang April 1991, um 23 Uhr. Amber und Ashley schliefen, aber Pen und ich waren ausnahmsweise länger aufgeblieben, um im Fernsehen den Mann zu erleben, den Jerry Shamberg gerade als Gastprofessor für das Afrikamerika-Institut engagiert hatte, und der im September bei uns anfangen sollte.

»Das ist der Typ, der bei den Panthers war?«, fragte Penelope ungläubig.

»Nein, er hatte seine eigene Gruppe – Blackness as a Revolutionary Force.«

»Waren das die, die Patty Hearst entführt haben?«

»Nein, das war die Symbionese Liberation Army.«

»Symbionesisch? Was soll das denn heißen?«

»Hab ich vergessen. Aber Brogus war nicht bei denen.«

»Aber er ist ins Ausland geflohen?«

»Er war sieben Jahre auf der Flucht. Anfang der Achtziger ist er wieder in die Staaten zurückgekommen, die Anklage gegen ihn wurde fallengelassen, und er hat sich in einen rechten Hardliner verwandelt.«

Penelope kniff die Augen zusammen und nahm Brogus genauer in Augenschein, um ihn von den anderen Aktivisten zu unterscheiden, an die sie sich vage erinnerte. »Ist das derjenige, der für den Kongress kandidiert hat, oder der, der seine selbstgemachte Barbecuesauce vermarktet hat?«

»Tatsächlich hat Brogus sowohl für den Kongress kandidiert als auch eine selbstgemachte Barbecuesauce vermarktet. 1986 war er Kandidat der Republikaner in Michigan für einen Sitz im Repräsentantenhaus. Glücklicherweise wurde er vom demokratischen Gegenkandidaten in die Pfanne gehauen. Anschließend hat er sich ins Soulfood-Geschäft gestürzt und ist damit pleitegegangen. Jetzt ist er ständig im Fernsehen zu sehen. Er tritt in diesen Sendungen am Sonntagvormittag auf, wo Männer im Kreis sitzen und sich anschreien. Und er taucht gelegentlich in einer von diesen vornehmen, halbintellektuellen Late-Night-Shows auf. Und wann immer es ein Thema gibt, das irgendwie für die afroamerikanische Community von Belang sein könnte, fragt man ihn in den Nachrichtensendungen nach seiner Meinung.«

»Und das nur, weil er so ein schräger Vogel ist«, sagte Pen. »Der sollte überhaupt nicht im Fernsehen auftreten. Der sollte mit einem Zirkus übers Land ziehen. Schaut her, die Dame hat einen Bart! Schaut her, dieser Hund hat zwei Köpfe! Schaut her, dieser Schwarze ist erzreaktionär!«

»Ja, und in fünf Monaten wird er ein Kollege von mir sein.«

Ich spürte, wie Pen in meinen Armen erschauerte. »Aber warum?«

»Marketing.«

Auf dem Bildschirm saßen Huck Blossom und Reggie Brogus an einem runden Holztisch, um sie herum war alles dunkel. Das war das typische Huck-Blossom-Setting. Man sprach miteinander vor einem schwarzen Hintergrund, es war ein Gespräch im Nirgendwo. Brogus bedankte sich überschwänglich bei Blossom für die Einladung zu einer Dinnerparty, die er kürzlich gegeben hatte. Blossom dankte Brogus großmütig für seine Dankbarkeit. Das war ein Austausch von Floskeln, den ich in letzter Zeit immer wieder in solchen Late-Night-Shows gesehen hatte, wo Gastgeber und Gast dem Publikum unter die Nase rieben, dass sie nicht nur auf Sendung die besten Kumpels waren, sondern dass sie außerdem zu einem privilegierten Kreis von Prominenten gehörten, zu dem du, lieber Zuschauer, niemals Zugang haben wirst.

Huck Blossom beugte sich zu Brogus und runzelte die Stirn. »Sprechen wir über Los Angeles. Wir alle haben in den letzten zwei Wochen dieses verwackelte Video gesehen, auf dem Polizisten des LAPD mit ihren Schlagstöcken erbarmungslos auf einen unbewaffneten Schwarzen einprügeln. Und das ohne erkennbaren Grund …«

»Gab es denn keinen Grund?«, warf Brogus ein.

Huck Blossom wirkte verwundert, aber auch angenehm überrascht von Brogus Zwischenfrage. »Nun, allem Anschein nach sieht es ganz danach aus, als würde die Polizei hier mit exzessiver Brutalität auf einen Schwarzen einprügeln, der ganz offensichtlich …«

»Der ganz offensichtlich was?«, unterbrach Brogus. »Unbewaffnet war? Woher konnten sie wissen, dass er unbewaffnet war? Sie hielten ihn an, weil er Schlangenlinien fuhr. Und wir sollen nicht vergessen, dass Rodney King vorbestraft ist. Wir alle wissen, dass eine überproportional große Anzahl von jungen schwarzen Männern im Gefängnis sitzt oder auf andere Weise mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist. Woher sollten diese Ordnungshüter wissen, dass Rodney King kein gefährlicher, gewalttätiger Krimineller war? Er weigerte sich zu kooperieren. Also mussten sie ihn überwältigen. Und wenn man mal ihre alltägliche Erfahrung mit schwarzen Kriminellen einbezieht, gab es für sie keinen Grund, davon auszugehen, dass dieser Rodney King ein sanftmütiger, gesetzestreuer Bürger ist.«

»Gut, gut«, sagte Huck Blossom. Er hüpfte aufgeregt in seinem Sessel auf und ab, immer noch nach vorn gebeugt und stirnrunzelnd, jetzt sogar noch seriöser, gleichzeitig bemüht, ein Lächeln zu unterdrücken. »Aber würden Sie nicht sagen, dass die Polizei, wenn sie Schwarze als besonders verdächtig einstuft, auch ein wenig ungerecht handelt?«

»Ungerecht?« Brogus wiederholte das Wort mit sarkastischem Unterton. »Statistiken beschreiben nun mal Tatsachen, Huck.« Reginald T. Brogus lehnte sich zurück und knöpfte sein Jackett auf. Als der graue Nadelstreifenstoff zur Seite fiel, schob er seine Daumen unter die Hosenträger. »Wie John F. Kennedy einmal sagte«, erklärte er nun mit erhobener Stimme, in würdevoller Haltung, die Daumen unter den blau-weiß-roten Stars-and-Stripes-Hosenträgern: »Das Leben ist ungerecht.«

* * *

Ist dies eine Erinnerung oder ein Traum? Seeräuber-Jenny sitzt mir gegenüber in einem hell erleuchteten Café. Ihre kupferfarbenen Haare fallen ungebändigt über ihre Schultern. Sie lächelt mich traurig an, ihre leicht schrägen Augen schimmern feucht. Ihr Gesicht ist noch frisch und unfertig, noch nicht festgefügt, sondern das Gesicht eines Mädchens, nicht einer reifen Frau. Sie trägt einen roten Sweater mit einem weiten Wasserfallkragen. Ich bin nervös. Ich möchte nicht hier sein. Ich möchte nicht mit ihr gesehen werden.

»Ich habe ein Geschenk für dich«, sagt Jenny.

Sie hat es in der Hand, hält es mir hin. Ihre Hand, auf der eine schwarze Diskette liegt, schwebt über dem kleinen runden Stuckmarmor-Tisch.

»Das ist mein Tagebuch«, sagt Jenny. »Ich möchte es dir geben. Ich möchte, dass du meine Geheimnisse kennst.«

Die schwarze Diskette ohne Aufkleber, nichts weist auf ihren Inhalt hin, wirkt eher wie ein böser Talisman. Ich versuche sie wegzuschieben, aber es geht nicht. Jennys Hand schwebt immer noch über dem Tisch, von der flachen schwarzen Diskette geht eine unsichtbare Strahlung aus.

»Ich möchte, dass du meine Geheimnisse kennst«, wiederholt Jenny.

»Mit Wissen entsteht Verantwortung«, sage ich. »Und das möchte ich nicht.«

»Dafür ist es zu spät«, sagt Jenny mit leuchtenden Katzenaugen.

Die Diskette ist verschwunden, aber ich weiß, dass sie auf irgendeine Weise in meinen Besitz geraten ist.

»Jetzt bist du der Wächter meiner Geheimnisse«, sagt Seeräuber-Jenny.

* * *

»Bist du krank, Liebling?«, hörte ich meine Frau sagen. »Du bist ja völlig verschwitzt.«

Ich schlug die Augen auf und sah Penelope auf dem Bettrand sitzen. Ich hatte das Gefühl, als wären wir nach einer langen Zeit der Trennung endlich wieder zusammen. Sie sah wundervoll aus, Mahagonihaut, Mandelaugen und üppige lockige Haare. Sie trug den schwarzen Kaschmirpullover, den ich ihr vor drei Tagen zu unserem siebten Hochzeitstag geschenkt hatte, und glattgebügelte Jeans. Sie legte sanft eine Hand auf meine Stirn.

»Ich glaube, du hast Fieber, Clay.«

Ich drehte den Kopf und schaute auf den Wecker auf dem Nachtschränkchen. Es war 9:29 Uhr.

»Wie geht es dir, Liebling?«, fragte Penelope besorgt.

»Ich liebe dich so sehr, Pen«, sagte ich schläfrig. »Weißt du das? Ich liebe dich so sehr.«

Penelope lächelte. »Du redest wirres Zeug. Ich glaube, es ist besser, du bleibst heute im Bett.«

»Ich hab um elf ein Seminar«, sagte ich und war überrascht, wie brüchig meine Stimme klang.

»Nein, hast du nicht. Heute ist Feiertag, President’s Day. Kein Unterricht. Hast du das vergessen? Ich fahre mit den Mädchen nach Toledo.«

Richtig. Wir hatten heute alle frei. Pen wollte mit Amber und Ashley ins Museum und eine Eisrevue anschauen. Ich sollte zu Hause bleiben und Seminararbeiten korrigieren, und mir vielleicht auch das Drehbuch vornehmen, das ich schreiben wollte.

»Wir müssen jetzt los, Liebling«, sagte Penelope. »Zwing dich nicht aufzustehen, wenn du dich nicht gut fühlst. Okay? Wir sind heute Abend um halb sieben wieder zurück.« Penelope stand auf. »Ich ruf heute Nachmittag mal an, um zu fragen, wie es dir geht. In Ordnung, Liebling?«

»Ich liebe dich«, sagte ich erschöpft.

»Ich liebe dich auch, Clay.«

* * *

Dexter hatte die Gewohnheit, aus der Toilette zu trinken. Er hockte fein ausbalanciert auf der Klobrille und klammerte sich mit den Hinterpfoten am Rand fest. Beugte sich vor, streckte ein schwarzes Vorderbein aus, berührte das Wasser, wie um die Temperatur zu testen, und senkte dann blitzschnell den Kopf, um mit der Zunge hastig einen Tropfen aufzunehmen, dann noch einen und noch einen. Schließlich drehte er sich zu mir um und seine silbrigen Augen drückten gleichermaßen Schuld und Schamlosigkeit aus. »Jau«, sagte er. Das sagte er immer, aber die Bedeutung hing jeweils vom Zusammenhang ab und von subtilen Nuancen im Tonfall. In diesem Augenblick interpretierte ich sein Miauen so: »Ja, ich weiß, ich sollte nicht aus der Toilette trinken, aber verdammt, ich trinke nun mal gern aus der Toilette, und daran kannst du eh nichts ändern.« Aber als er sah, dass ich Anstalten machte zu pinkeln, sprang er von der Schüssel und flitzte aus dem Badezimmer, mit einem weiteren über die Schulter hingeworfenen »Jau!«, das so viel bedeutete wie: »Dann halt später, Mann.«

Und ich dachte: War Dex nicht auch in diesem grässlichen seltsamen Albtraum letzte Nacht gewesen?

Ich verbrachte den größten Teil des Feiertags in einer Art Schwebezustand. Womit ich meine, dass ich mir nicht sicher war, ob der Vorfall mit Reggie Brogus wirklich stattgefunden hatte, weshalb ich mich entschloss, kein endgültiges Urteil darüber zu fällen. Ich würde einfach abwarten, ob sich die Sache mit der Leiche in seinem Büro bewahrheitete und ob ich ihm wirklich bei der Flucht geholfen oder die ganze Sache nur geträumt hatte. Als ich endlich träge aus dem Bett rollte, war es 11:30 Uhr, und ich fühlte mich nicht mehr fiebrig. Ich duschte, zog mich an, trank eine Kanne Kaffee und aß eine Schale Special K. Dann beschäftigte ich mich ein paar Stunden lang mit gedankenlosem Herumwursteln. Es ist erstaunlich, wie sehr man sich in einer durchschnittlichen amerikanischen Wohnung mit Nichts beschäftigen kann. Ich machte mich in meinem Arbeitszimmer zu schaffen, ordnete die Bücher auf dem Regal, die Schallplatten, die Papiere auf dem Schreibtisch. Ich nahm mir das Schlafzimmer vor und brachte das Durcheinander der Kleider im Schrank in Ordnung. Dann machte ich in der Küche weiter, stellte das Geschirr in die Spülmaschine, ordnete das Gewürzregal alphabetisch, wechselte die Glühbirne aus, die in der Speisekammer nackt in der Fassung hing, und holte anschließend das saubere Geschirr aus der Maschine. Ich ging ins Wohnzimmer und räumte Spielsachen weg, schüttelte die Sofakissen auf. Ich schaltete den Fernseher ein und ging alle Programme durch in der Annahme, dass es im Fall eines Mordes an der Arden University bestimmt eine Sondersendung geben würde. Nachdem ich eine Stunde lang durch Seifenopern, Spielshows und Talksendungen gezappt hatte, entschied ich, dass keine Nachrichten gute Nachrichten waren. Und dann fiel mir ein, dass an einem Feiertag niemand die Leiche in Brogus’ Büro gefunden haben konnte – falls es in seinem Büro wirklich eine Leiche zu finden gab.

Schließlich, so gegen 16 Uhr, beschloss ich, mein Büro im Anglistikinstitut aufzusuchen. Ich hätte den Zweitwagen, einen kleinen Honda, nehmen können, entschied mich aber stattdessen für mein Fahrrad. Die Temperatur war um zehn Grad Celsius gestiegen und der morgendliche Regen hatte das Eis weggewaschen, das letzte Nacht noch alles bedeckt hatte. Als ich Richtung Campus fuhr, war der Himmel schmutziggrau wie Putzwasser. Als ich dort ankam, rollte ich am Gebäude der mathematischen Fakultät vorbei. Es sah öde und unbewohnt aus. Lag dort wirklich eine nackte Leiche? Ein paar Studenten liefen über den Platz, aber im Großen und Ganzen wirkte der Campus unheimlich, wie nach einer Evakuierung.

Der Fachbereich Anglistik befand sich in einem hübschen, mit weißen Schindeln verzierten Haus am nördlichen Rand des Geländes. Ich schloss mein Fahrrad an und betrat das Gebäude. Wie es aussah, war niemand über das verlängerte Wochenende hier gewesen. Mein kleines Büro war ein einziges Durcheinander. Als ich die Stapel mit ungelesenen, unkorrigierten Seminararbeiten auf meinem Schreibtisch sah, wusste ich, dass ich nicht die Kraft haben würde, sie durchzuarbeiten. Ich schaltete den Computer ein und rief die Datei mit meinem Manuskript auf:

ELEGIE FÜR EINEN AUFTRAGSMÖRDER

Von Clay Robinette

So weit war ich bisher mit der Arbeit an meinem Drehbuch gekommen. Ich schaltete den Computer aus, spürte eine große Müdigkeit und wurde von Melancholie überwältigt. Ich räumte einige Bücher und Papiere von meinem abgenutzten Sofa und streckte mich darauf aus. Vielleicht bekam ich eine Grippe. Oder so was in der Art. Ich driftete in diesen Bereich zwischen Traum und Wachheit, und da erschien mir Seeräuber-Jenny wieder.

Sie sitzt in diesem hell erleuchteten Café, mit ihren ungebändigten kupferfarbenen Haaren und den grün schimmernden Katzenaugen. »Ich möchte, dass du meine Geheimnisse kennst«, sagt sie beschwörend. Dann zieht sie am Kragen ihres Pullovers und zeigt mir ihre nackte Haut. Ich betrachte sie, sie ist weiß wie Alabaster. Da ist kein BH-Träger zu sehen. Nur eine hässliche rote Narbe wie von einem Strick, die von ihrem Schlüsselbein auf die linke Brust zuläuft, die weiterhin von ihrem Sweater bedeckt ist. »Siehst du das?«, sagt Jenny mit teilnahmsloser Stimme. »Wirst du jetzt mein Tagebuch lesen?«

Ich setzte mich ruckartig auf. Das war kein Traum. Das war wirklich geschehen. Ich hatte Jenny an diesem Nachmittag nicht im Café Bellafiglia treffen wollen, aber sie hatte darauf bestanden. Wann war das noch mal gewesen, im späten November, frühen Dezember? Ich hatte so hart daran gearbeitet, mir Jenny aus dem Kopf zu schlagen, unsere ganze – wie soll ich es nennen? Beziehung? Affäre? Verstrickung? – aus meinem Gedächtnis auszumerzen, dass ich mir nicht mehr sicher war, ob dieses Treffen wirklich stattgefunden hatte. Das hatte es aber. Und Jenny hatte mir tatsächlich ihre Narbe gezeigt und eine schwarze, unbeschriftete Computer-Diskette gegeben. Nur hatte ich den Inhalt niemals angesehen. Ich hatte sie irgendwo hingetan … aber wo? Was zum Teufel hatte ich bloß mit dem Tagebuch von Seeräuber-Jenny gemacht?

* * *

Jenny muss sich für unwiderstehlich gehalten haben. Körperlich hatte ich ihr, bis zu einem gewissen Punkt, tatsächlich nicht widerstehen können. Aber sie muss gedacht haben, dass ich zwar irgendwann die Willenskraft aufgebracht hatte, ihren Körper zurückzuweisen, dass ich aber niemals in der Lage wäre, ihren Gedanken zu widerstehen. Dass ich niemals aufhören könnte, ihre Geheimnisse erfahren zu wollen. Oder sie dachte, ich wäre aus reiner menschlicher Neugier oder aus dem natürlichen Voyeurismus eines Journalisten erpicht darauf, ihre Tagebücher zu lesen. Sie verstand nicht, dass ich nicht mehr daran interessiert war, was in einer Frau vorging, nachdem ich eine Affäre mit ihr beendet hatte.

Damals in New York, vor dem Zeitpunkt, als ich mich endgültig mit Penelope zusammentat, hatte ich eine dreimonatige missratene Beziehung mit einer extrem unter Spannung stehenden jungen Frau, die mir nach unserer Trennung wochenlang Briefe schickte, in denen sie wahrscheinlich darlegte, was mit mir nicht stimmte. Oder vielleicht auch nicht. Vielleicht waren es selbstkritische Briefe oder ganz erwachsene Analysen unserer Beziehung. Oder es waren erotische oder gehässige oder traurige Botschaften. Ich habe keine Ahnung, denn ich habe sie nicht gelesen. Wenn ich sah, dass ein Brief von Marcy gekommen war – selbst wenn der Absender nicht auf dem Umschlag stand, erkannte ich ihre Handschrift, und wenn die Adresse mit der Schreibmaschine getippt war und der Absender fehlte, konnte ich davon ausgehen, dass sie dahintersteckte –, warf ich ihn in den Papierkorb, ohne ihn zu öffnen oder gar zu lesen. Schließlich rief sie mich an. »Hast du meine Briefe nicht bekommen?« Als ich ihr sagte, ich hätte sie alle ungelesen weggeworfen, wollte sie mir zuerst nicht glauben und entschied dann, dass ich ein »noch schlechterer Mensch« war, als sie gedacht hatte. Aber immerhin hörte sie auf, mir Briefe zu schreiben.

Ich war also grundsätzlich nicht geneigt, Seeräuber-Jennys Tagebuch zu lesen, obwohl sie es mir so provokant unter die Nase gehalten hatte. Aber was zum Teufel hatte ich mit der Diskette gemacht, nachdem sie sie mir aufgedrängt hatte?

Schluss mit der Grübelei. Zwei Stunden lang durchwühlte ich mein kleines Büro, breitete den Inhalt von Schubladen auf dem Fußboden aus, durchstöberte sämtliche Regale. Ich fand zahlreiche Disketten, aber alle waren beschriftet. Ich fragte mich plötzlich, ob Seeräuber-Jennys Diskette vielleicht auch beschriftet war und ich mir nur eingebildet hatte, dass sie keinen Aufkleber trug. Also schaute ich mir jede Diskette genau an, studierte jede Beschriftung. Nichts wies darauf hin, dass Jennys Tagebuch sich darauf befand. Jetzt war ich mir ganz sicher, dass ich eine schwarze Diskette suchte, auf der kein Aufkleber war.

Ich befand mich immer noch in diesem seltsamen Schwebezustand. Ich war völlig fixiert auf dieses kleine Stückchen Metall in einer Kunststoffhülle. Ich hatte es völlig von dem Gedanken getrennt, dass es da auf der anderen Seite des Campus womöglich eine Leiche gab – und dass es sich um die Leiche von Jennifer Wolfshiem handeln könnte. Ich dachte nicht an Beweise oder Indizien. Ich investierte meine gesamte emotionale und intellektuelle Energie in die Suche nach dieser Diskette. Wohin würde ich eine Diskette tun, die ich nicht lesen wollte? Hatte ich sie einfach in den Müll geworfen, so wie die Briefe von Marcy? Nachdem ich alles durchkämmt hatte, war ich überzeugt, dass die Diskette sich nicht in meinem Büro befand. Was zum Teufel hatte ich damit gemacht? Hatte ich sie mit nach Hause genommen?

Als ich um 18:30 Uhr mit dem Fahrrad zurückfuhr, war es bereits dunkel. In den Wohnheimen gingen die Lichter an, die Studenten kehrten aus ihrem verlängerten Wochenende zurück. Als ich an dem dunklen, massigen Mathematikgebäude vorbeikam, spürte ich wieder diese Fiebrigkeit. Vielleicht sollte ich bei Seeräuber-Jenny anrufen, dachte ich, nur um sicherzugehen, dass es ihr gut ging. Lieber nicht. Ich hatte noch nie bei ihr angerufen. Wenn ich das jetzt tat, würde ich mir nur noch mehr Probleme einhandeln. Vielleicht, so dachte ich, sollte ich Brogus anrufen und mir anhören, wie er sich kaputtlachte über meinen bizarren Traum von ihm und der Leiche in seinem Büro. Oder sollte ich die Polizei anrufen? Während ich in die Pedale trat, mich vom Campus entfernte und die düsteren abendlichen Vorstadtstraßen entlangfuhr, entschied ich, dass ich niemandem davon erzählen durfte, was sich letzte Nacht zwischen mir und Reggie Brogus ereignet hatte, was immer das gewesen war.

* * *

»Hey, Clay, wir sind’s. Es ist jetzt halb sieben. Bist du da …? Nein, okay, Liebling, dann bist du wohl doch noch ins Büro gegangen. Tut mir leid, dass ich mich nicht früher gemeldet habe. Du hast so krank ausgesehen heute Morgen, dass ich mir dachte, du bleibst den ganzen Tag im Bett. Wie auch immer, ich hoffe, es geht dir besser und du schaffst, was du dir vorgenommen hast. Ich weiß nicht, wann wir zu Hause sind. Der Verkehr ist mörderisch, ich schätze, alle kehren aus dem verlängerten Wochenende zurück. Die Kinder waren ganz schön zappelig, aber mittlerweile sind sie erschöpft. Ich muss sagen, dass der Rücksitz ziemlich übel gerochen hat. Hast du deine Joggingschuhe dort rumliegen lassen? Wie auch immer, wir halten gerade bei McDoodoo zum Abendessen. Wir sind eben angekommen, die Mädchen stehen schon in der Schlange, also muss ich jetzt Schluss machen. Ich wollte nur kurz durchgeben, dass wir nicht vor acht Uhr zu Hause sein werden, und dann müssen die Mädchen sofort ins Bett und ich wahrscheinlich auch, ich bin total erledigt. Aber es war sehr schön. Ach ja, ich weiß, dass du dich lieber einer Wurzelbehandlung unterziehen würdest, als zu ›Holiday on Ice‹ zu gehen, aber die Mädels wollen am Samstag unbedingt ›Die Schöne und das Biest‹ sehen … ja, schon wieder. Vergiss nicht, dass ich da einen Workshop auswärts habe, ich weiß nicht mehr, an welchem Tag. Okay, Clay, du musst dich jetzt mit einem traurigen Junggesellendinner begnügen. Falls wir es nicht bis um halb neun schaffen, rufe ich nochmal durch. Weißt du, wer dich liebt, Baby?«

Ich löschte Penelopes Nachricht und ging in die Küche. Das bekannte Kratzen war wieder zu hören. Ich öffnete die Tür der Vorratskammer und da war Dexter. »Jau«, sagte er, was in diesem Zusammenhang »Gib mir was zu fressen!« bedeutete. Ich gab eine ordentliche Portion Katzenfutter in den Napf und stellte eine tiefgefrorene Lasagne für mich in die Mikrowelle. Die aß ich dann vor dem großen Fernseher im Wohnzimmer, was Penelope mir und den Mädchen normalerweise nicht erlaubte. Ich ging die Sender durch und gab mich der narkotischen Anziehungskraft des Mediums hin. Ich driftete ab, döste halb ein, in meinem Kopf flossen die Bilder ineinander. Keine Meldungen über Brogus oder Leichen auf dem Arden-Campus. Es gab ein paar Berichte über diesen Bill Clinton. Offenbar war er nicht nur ein Schürzenjäger, sondern auch ein Kriegsdienstverweigerer. Ein unwürdiger Kandidat für das Präsidentenamt, meinten die Moderatoren. Keine Chance, die Nominierung in der Demokratischen Partei zu gewinnen, geschweige denn die Wahlen im nächsten November, so hieß es. Zum Scheitern verurteilt. Ich nahm an, dass sie recht hatten, zumal ich den Gouverneur aus Arkansas schon vor Wochen abgeschrieben hatte, als ich hörte, dass sein Kampagnen-Song »Don’t Stop Thinkin’ About Tomorrow« von Fleetwood Mac war. Was für ein Schlappschwanz.

Ich fing wieder an zu spekulieren. Ich weiß, dass das nicht nachvollziehbar ist, aber ich musste nicht die ganze Zeit an die Leiche auf dem Sofa denken oder darüber nachgrübeln, wo Reggie Brogus abgeblieben war: War er wirklich in den »Untergrund« gegangen? (Und was bedeutete das genau? Hockte er auf einem Floß in unruhiger See mit Kurs auf Kuba?) Auch dachte ich nicht darüber nach, in welche Gefahr ich mich und meine Familie gebracht hatte, indem ich einem Kriminellen zur Flucht verholfen und ein Verbrechen nicht gemeldet hatte. Ich war völlig besessen davon, dieses kleine Metallteil in der Plastikhülle zu finden, diese unbeschriftete Diskette.

Ich schaltete den Fernseher aus und eilte in mein Arbeitszimmer, wo ich vor ein paar Stunden noch so emsig herumgebosselt hatte. Ich ging sämtliche neu geordneten Stapel mit zahllosen verschiedenfarbigen Disketten durch, die alle mit Aufklebern und Hinweisen auf verschiedene Inhalte versehen waren, nicht aber mit dem auf Jennys Tagebuch. Und ich fragte mich: Wenn ich diese Diskette nach Hause gebracht hatte und verhindern wollte, dass jemand – zum Beispiel meine Frau – sie anschaute, würde ich sie dann so verdächtig unbeschriftet herumliegen lassen? Natürlich nicht. Ich würde ihr eine falsche Beschriftung verpassen mit dem Hinweis auf etwas Unverfängliches, Langweiliges, das niemanden interessieren würde. »NOTIZEN ZUM ESSAY, 24/9/91« zum Beispiel. Ich schaltete den Computer ein und schob nacheinander alle unverfänglich beschrifteten schwarzen Disketten ein und klickte sämtliche Dateien an, um zu prüfen, ob Jennifers Tagebuch auf dem Bildschirm erschien. Ich war gerade mit allen schwarzen Disketten durch und fragte mich, ob ich vielleicht die falsche Farbe in Erinnerung hatte und wollte schon mit dem Stapel der dunkelblauen Disketten anfangen, als ich hörte, wie draußen der Volvo in die Einfahrt fuhr. Ich schaute auf die Uhr: 8:39.

* * *

Eine Stunde später kuschelten Penelope und ich uns im Bett aneinander. Der Flanellstoff ihres Herrenpyjamas fühlte sich angenehm und beruhigend an auf meiner nackten Haut. Wir hatten gerade zusammen gebadet, aber ihr war immer noch kalt, weshalb sie den Pyjama angezogen hatte. Ich versuchte nun, sie unter der Daunendecke zu wärmen. Die Kinder hatten total erledigt und ineinander verschlungen auf dem Rücksitz gelegen. (Es stank tatsächlich ein bisschen. Ich entschuldigte mich bei meiner Frau dafür, dass ich meine Turnschuhe dort liegengelassen hatte, ohne den stechenden Geruch von Reggie Brogus’ Trainingsanzug zu erwähnen.) Ich nahm Ashley in die Arme, Pen hob Amber hoch, und wir trugen die beiden in ihr Zimmer. Als wir sie aus den Kleidern schälten und ihnen die Schlafanzüge anzogen, murmelten sie verschlafen vor sich hin, was mich an ihre Babyzeit erinnerte, als wir uns beim Wickeln und Anziehen jeweils eins der Mädchen vorgenommen hatten, und als es mit dem Stillen vorbei war, auch beim Füttern. Wir achteten immer darauf, sie abwechselnd zu betreuen. Wir wollten nicht, dass die eine ein Mama- und die andere ein Papa-Kind würde. In den letzten Jahren waren die beiden so selbstständig geworden, dass wir uns nicht mehr ums Anziehen und sowas kümmern mussten. Und so wurde ich regelrecht nostalgisch, als wir sie nach ihrem aufregenden Tag bettfertig machten. Ab dem Moment, wo ich Pen und die Mädchen im Volvo gesehen hatte, befand ich mich wieder im Vatermodus. Als ich mich nun an meine Frau kuschelte, nachdem wir zusammen ein nach Kräutern duftendes Bad genommen hatten, fühlte ich mich gleichermaßen beschützt wie als Beschützer. Wir, also unsere Familie, waren eine Welt ganz für sich.

Ich streichelte die nackte Haut unter dem Flanellstoff, genoss das Gefühl, meine Finger über den Wulst gleiten zu lassen, der von dem Gummizug der Pyjamahose erzeugt wurde.

»Zwick mich nicht in meine Fettpolster«, sagte Pen.

»Das sind keine Fettpolster«, sagte ich. »Das sind bloß Speckfalten.«

»Wo ist der Unterschied«, sagte sie und bewegte die Hüften.

»Ich mag sie«, sagte ich und zog die Pyjamahosen über ihre Schenkel. »Ich werde dich immer lieben, Pen.«

»Ich werde dich auch immer lieben, Clay.«

Wir liebten uns so sanft und innig, wie nur Ehepaare sich lieben können. Penelope schlief vor mir ein. Als ich vom leisen Schnarchen meiner Frau in den Schlaf gelullt wurde, wusste ich, dass uns nie etwas passieren konnte. Alles war in bester Ordnung.