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Dienstag, 18. Februar 1992, 9:09 Uhr. Die Sonne schien hell, aber die Luft war knisternd kalt. Als ich mit dem Rad zum Campus fuhr, war ich auf alles gefasst. Schon von Weitem konnte ich die Menschenmenge vor dem Mathematikgebäude sehen. Als ich mich über den asphaltierten Gehweg dem Tatort näherte, bemerkte ich das rote Blinklicht, das sich auf dem Dach eines Krankenwagens lautlos drehte. Menschen drängten sich um einen weißen Transporter, den ich zuerst für eine weitere Ambulanz gehalten hatte, bis ich das Logo von ACTION NEWS bemerkte. Überall standen Cops in blauen Uniformen herum. Ich schloss mein Fahrrad auf dem Parkplatz hinter dem Mathematikgebäude ab. Bleib ruhig, wiederholte eine Stimme in meinem Kopf immer wieder. Was auch passiert, bleib ruhig.

Ich tauchte in die Menge ein, kämpfte mich bis zum Eingang hindurch und spürte dabei ein irritierend bekanntes Gefühl. Es war diese kollektive gespannte Erwartung, die einen überkommt, wenn man eine Arena betritt, kurz vor einem bedeutenden Konzert oder Sportereignis, oder wenn man sich durch eine Menschenmasse den Weg bahnt, um, sagen wir mal, an Silvester kurz vor Mitternacht auf dem Times Square in New York beim Countdown dabei zu sein. Die Menge vor dem Mathematikgebäude bestand zum größten Teil aus Studenten, die der Kälte trotzten und aufgeregt durcheinanderredeten. Gewisse Worte drangen an meine Ohren, während ich mich zwischen den dicken Wintermänteln, Daunen- und Lederjacken hindurchdrängelte:

»Eine Tote … jung … nackt … erwürgt … vergewaltigt …«

Beinahe stolperte ich über die dicken Kabel, die sich den Fußweg entlangschlängelten. Ich drehte mich um und bemerkte eine große, stark geschminkte Frau mit einer Hakennase, kalt glänzenden blauen Augen und einer helmartigen blonden Frisur. Sie trug einen marineblauen Mantel mit schwarzen Samtaufschlägen und sprach in ein Mikrofon. Ein Kameramann bewegte sich durch die Studenten, die ihm höflich Platz machten, auf die Frau zu.

»Wir kennen bisher nur Bruchstücke von Details, Rex. Aber ich stehe hier inmitten völlig verängstigter Studenten der Arden University. Was meinen Sie dazu?«

Die Reporterin hielt das Mikrofon einer Studentin mit wirren Locken und Sommersprossen unter die Nase, die nicht im Geringsten verängstigt wirkte. Im Gegenteil, sie lächelte andeutungsweise, beugte sich vor und sagte ziemlich platt: »Also, ich hätte halt nie gedacht, dass so etwas hier mal passieren könnte.«

Ich drängelte mich weiter durch, auf ein Podest zu, das vor dem Eingang errichtet worden war, darauf stand ein Pult mit Mikrofonen. Offenbar sollte eine Pressekonferenz stattfinden. Die Menge wogte plötzlich nach vorne und hätte mich beinahe umgeworfen. Die Tür des Mathematikgebäudes ging auf und die Polizei schob die Reporter und Kameraleute beiseite, als zwei Sanitäter mit einer Trage erschienen, über die ein weißes Tuch gebreitet war. Die Menge starrte gebannt darauf, während die Männer in Weiß vorbeieilten und ein kalter Wind zwischen uns hindurchwehte. Die Umrisse des Körpers zeichneten sich vage unter dem weißen Tuch ab. Als die Sanitäter die Trage in den Krankenwagen schoben, dachte ich nicht an die Person, die da unter dem Tuch lag. Ich sah das Ganze jetzt so wie wohl viele andere Anwesende: Als würde ich das alles im Fernsehen anschauen.

Bleib ruhig. Egal was passiert, bleib ruhig.

»Auch eine Möglichkeit, die Uni ins Gespräch zu bringen, was, old bean

Ich drehte den Kopf und blickte in das grinsende Gesicht von Roger Pym-Smithers neben mir. Er trug einen langen schwarzen Mantel und einen stilsicher verbeulten schwarzen Fedora. Er beugte sich leicht nach vorn, die Hände in den Taschen seiner Tweedhose vergraben. Roger war Professor für britische Geschichte, und obwohl er seit vielen Jahren in Amerika lebte, benutzte er, um seine englische Lebensart zu unterstreichen, Formulierungen wie »old bean«, die ich sonst nie aus dem Mund einer anderen Person gehört habe, Engländer oder nicht, und deren Oxbridge-Landclub-Anmutung uns Amerikaner offenbar beeindrucken oder brüskieren sollte. Ich hatte mir immer vorgestellt, dass Roger damals im Swinging London ein gutaussehender »bloke« gewesen war, aber im Laufe der Jahre war er ein bisschen heruntergekommen. Er hatte das rötliche, schlaffe Gesicht eines Trinkers (Roger hielt sich für einen Kenner französischer Weine), und seine grauen Augen trieften. Rogers Augenbrauen verliefen leicht schräg und er kämmte sich in letzter Zeit die dünnen Härchen hoch, sodass sie an den Enden leicht abstanden, was ihm ein teuflisches Aussehen verlieh. Auch wenn viele Kollegen ihn nicht ausstehen konnten, mochte ich Roger Pym-Smithers irgendwie. Sogar in diesem Moment fand ich seine hämische Bemerkung witzig. Mit der Formulierung »die Uni ins Gespräch bringen« hatte er unseren Dekan Jerry Shamberg zitiert, der ständig genau davon redete.

»Es geht doch nichts über einen kleinen Mord, um ein bisschen Publicity zu bekommen, findest du nicht?«, fragte Roger in seinem hochgestochenen Public-School-Akzent und grinste schief.

Bleib ruhig. Was immer passiert, bleib ruhig.

»Mord?« Ich starrte Roger fragend an. »Meinst du das ernst?«

Das schiefe Grinsen verschwand aus seinem Gesicht und mit einem Mal wirkte er betroffen. »Willst du damit sagen, du weißt nichts davon?« Ich schüttelte den Kopf. »Ach du Schande. Kwanzi und ich bekamen heute früh einen Anruf. Komm.«

Roger fasste mich am Arm und führte mich aus der Menge zu einem verwelkten Stück Rasen an der Ecke des Mathegebäudes. Gestern, als ich den Feiertag in diesem seltsamen Schwebezustand verbrachte, hatte ich kein einziges Mal an Roger Pym-Smithers oder an seine Frau Kwanzi Authentica Parker gedacht. Kwanzi war eine rechtschaffene Schwarze, die immer traditionelle Gewänder aus Kente-Stoff trug und seit zwölf Jahren an der Arden University lehrte. Kwanzi war es auch gewesen, die den Vorschlag gemacht hatte, ein Afrikamerika-Institut einzurichten. Bevor Brogus im letzten Semester bei uns aufgetaucht war, gingen alle davon aus, dass nach Beendigung der zweijährigen »Pilot-Phase« sie die Leitung übernehmen würde. Es sei denn, sie würde sich selbst sabotieren. Aber in den letzten Wochen hatte unser Dekan, der auf Berühmtheiten und Kontroversen abfahrende Jerry Shamberg, gelegentlich den Namen Brogus ins Spiel gebracht, wenn es um die Institutsleitung ging, um einen Fachbereich, der laut Brogus am besten in »American Negro Studies« umbenannt werden sollte. Professor Kwanzi Authentica Parker – die Shamberg sogar öffentlich scharf dafür kritisierte, dass er Brogus überhaupt angeworben hatte – war verständlicherweise sauer. Für Kwanzi gehörte Reginald T. Brogus zur übelsten Sorte schwarzer Verräter.

Roger und ich standen uns auf diesem welken Stück Rasen gegenüber. »Ich sollte keine Scherze darüber machen. Kwanzi ist ziemlich verstört. Ich will dir mal ganz sachlich die Fakten darlegen, soweit wir sie kennen. Gegen sechs Uhr heute Morgen hat Pops Mulwray die Räumlichkeiten des Instituts betreten und die Leiche einer jungen Frau gefunden. Sie wurde ermordet. Sie war splitterfasernackt. Und, angesichts des Fundorts der Leiche vielleicht besonders brisant, sie war weiß.«

Ich schaute Roger direkt an und versuchte, nichts zu zeigen als Erschrecken und distanzierte Neugier. »Scheiße.«

»Genau das hat Kwanzi auch gesagt.«

Wir zuckten zusammen, als plötzlich eine Sirene aufheulte. Die Menge teilte sich und der Krankenwagen, in dem sich die Leiche befand, rollte langsam über den Fußweg. Als die Schaulustigen aus dem Weg waren, gab der Fahrer Gas und die Ambulanz fuhr mit jaulender Sirene quer über den Campus davon. Okay, dachte ich, eine junge weiße Frau wurde ermordet, aber das bedeutet nicht zwangsläufig, dass es sich um Seeräuber-Jenny handelt. Es kann jede x-beliebige Andere sein. Das Gesicht, das du gesehen hast, war misshandelt worden und verzerrt gewesen. Du hast dir eingebildet, es sei Jenny, aber wahrscheinlich kommt Jenny jeden Moment um die Ecke und schaut dich mit diesem typischen unverschämten, vielsagenden Blick an.

»Wie auch immer«, fuhr Roger fort. »Shamberg hat uns um halb acht angerufen. Kwanzi ist jetzt mit ihm da drin, zusammen mit Pops und der Polizei. Und wie du siehst, wurden auch die Medien schon informiert.«

»Verdammt«, sagte ich. »Und haben sie schon irgendeine Mordwaffe in Brogus’ Büro gefunden?«

Rogers Triefaugen leuchteten auf, und ich bemerkte meinen Fehler sofort. Roger starrte mich an: »Was sagtest du gerade, old bean

Scheiße, gottverdammte, beschissene Scheiße … Bleib ruhig, Clay. Bleib einfach ruhig.

»Ich sagte: Haben sie schon irgendeine Mordwaffe in Brogus’ Büro gefunden?«

»Ja, das ist korrekt, old bean«, sagte Roger langsam. »Allerdings habe ich bislang noch gar nicht von Brogus’ Büro gesprochen. Ich sagte lediglich, es sei eine Leiche im Afrikamerika-Institut gefunden worden.«

»Oh … stimmt … aber als ich durch die Menge ging, hörte ich, wie alle von Reggie Brogus sprachen. Also dachte ich, die Angelegenheit muss was mit ihm zu tun haben.«

Roger Pym-Smithers starrte mich an, die feuchten Härchen an den Enden seiner schrägen Augenbrauen standen teuflisch ab. »Dir ist nicht zufällig der aktuelle Aufenthaltsort von Professor Brogus bekannt, old bean

»Falls dem so wäre, könnten Sie eine Belohnung von hunderttausend Dollar einheimsen«, meldete sich eine nasale Stimme zu Wort. Ich drehte mich um und sah Andy Chadwick hinter uns auf dem Grasstück stehen. »Auf Reggie Brogus wurde ein Kopfgeld ausgesetzt! Ist das zu glauben?«

Andy grinste. Dem vierundzwanzigjährigen Andy Chadwick mit seinen öligen dunkelblonden Haaren voller Schuppen und den Aknenarben im Gesicht klebte immer etwas zwischen den Vorderzähnen. (Was war es heute? Sah aus wie Spinat.) Er trug eine Schildpattbrille und einen verkrumpelten beigefarbenen Trenchcoat über einem braunen Cordanzug. Er hatte sich einen Bleistift hinters Ohr geklemmt und aus seiner Brusttasche ragte ein Notizbuch. Vor zwei Jahren war Andy Chadwick einer meiner Studenten gewesen, heute war er der Starreporter des Arden Oracle, der hiesigen Tageszeitung. Ich wusste, dass Andy nicht sehr zufrieden war mit seinem Job. Er fühlte sich zu Höherem berufen. Und ich gebe zu, der Junge hatte Talent. Schon allein äußerlich würde er perfekt zur New York Times passen. Aber er war noch jung und unerfahren, und alle Jobs für Berufseinsteiger bei den angesehenen Zeitungen gingen seiner Ansicht nach an Frauen und Angehörige von Minderheiten. Das sagte er ohne Verbitterung. Er erklärte damit nur, warum es ihm trotz seiner Begabung bislang nicht gelungen war, eine adäquate Anstellung zu finden. Also musste er sich einstweilen in den Niederungen der Provinz abrackern, Artikel ansammeln und auf den großen Durchbruch warten, wenn ihm eine bahnbrechende Story vor die Füße fiel. An diesem sonnigen, kalten Februartag konnte Andy Chadwick seine Freude kaum verbergen. Er stand auf dem Rasenstück, schaute erst mich, dann Roger Pym-Smithers an, dann wieder mich, schüttelte den Kopf und grinste so lebhaft, dass das kleine grüne Stück Spinat zwischen den Zähnen gut sichtbar war.

»Wie oft fällt einem so eine Story in den Schoß? Hm, Clay?« Andy schien sein Glück kaum zu fassen. Und wie könnte ich ihm nicht recht geben? Ungefähr dreißig Stunden zuvor, als ich Brogus hierhergefahren hatte in der Erwartung, er wolle mir eine Portion Koks zeigen, die jemand in seinem Büro deponiert hatte, hatte ich das Gleiche gedacht. »Mit dieser Story werde ich mir meine Sporen verdienen«, sagte Andy Chadwick. »Ich werde mir meine beschissenen Sporen damit verdienen.«

»Es sei dir gegönnt, Andy, aber das wird dieser armen jungen Frau auch nicht mehr helfen, nicht wahr?«, sagte Roger tadelnd und – angesichts seiner eigenen schlauen Mutmaßungen über den Mord – scheinheilig.

Andy Chadwick schenkte Roger einen abfälligen Blick: »Hier geht es um Journalismus, das können Sie nicht nachvollziehen.« Er wandte sich an mich: »Ich bin schon im Gebäude gewesen. Hab die mit Kreide gezeichneten Umrisse der Leiche gesehen. Das gelbe Absperrband.«

»Hast du die Leiche zu Gesicht bekommen?«, fragte Roger.

»Noch nicht. Ich werde versuchen, bei der Obduktion dabei zu sein.«

»Aber weißt du, ob sie völlig nackt war?«, hakte Roger nach.

»Sie trug ein Paar Socken«, sagte Andy mit gesenkter Stimme mit makabrem Unterton. »Und ein Paar Hosenträger von Brogus war um ihren Hals geschlungen.«

Roger nickte. »Und Brogus ist verschwunden.«

»Das FBI ist da«, brach es aus Andy hervor. »Die werden ihn zu einer landesweiten Fahndung ausrufen. Aber hier vor Ort werden die Ermittlungen geführt von …«, Chadwick macht eine Kunstpause, »… Patsy DeFestina. Sie wurde mit dem Heli aus Toledo eingeflogen.« Andy machte wieder eine Pause, diesmal eher ehrfürchtig. Ich verstand nicht, worauf er hinauswollte.

»Wer ist Patsy DeFestina?«, fragte ich.

Andy starrte mich mit offenem Mund übertrieben ungläubig an. »Wer Patsy DeFestina ist?«

»Also wirklich, Clay«, stimmte Roger mit ein. »Sogar ich weiß, wer Patsy DeFestina ist.«

»Die ehemalige Nonne, die sich inzwischen als Superbulle betätigt«, sagte Andy Chadwick, als würde er eine erklärende Unterzeile zitieren. »Sie ist berühmt dafür, Vergewaltiger und Frauenmörder hinter Gitter zu bringen. 20/20 hat ein Porträt von ihr gesendet, Clay!«

»Diese Sendung muss ich wohl verpasst haben.«

»Nun, ich habe sie soeben kennengelernt. Sie ist echt cool!«

»Wussten die Herren eigentlich«, erklärte Roger Pym-Smithers, »dass ich drüben in England durchaus eine gewisse Reputation als Amateurdetektiv genieße?«

»Sie sollten dich mit dieser Story beauftragen«, sagte Andy zu mir.

»Nein, das wusste ich nicht«, sagte ich zu Roger.

»Sehr ähnliche Umstände. Ein Professor an meiner Uni wurde in seinem Büro erwürgt. Dank einer genialen Schlussfolgerung meinerseits war es Scotland Yard möglich, den Fall zu lösen. Es wäre zu kompliziert, das jetzt zu erklären, aber ich kann dir den ganzen Fall bei Gelegenheit darlegen. Im Vereinigten Königreich bin ich deswegen sehr bekannt.«

»Was du nicht sagst«, sagte ich.

»Clay!«, rief Andy aus. »Jetzt ist der Moment gekommen, wo Sie einen Artikel für uns schreiben müssen!« Chadwick ging mir schon seit einem Jahr auf die Nerven damit, ich solle mal irgendwas für den Arden Oracle beisteuern. Ich hatte das stets höflich abgelehnt mit dem Argument, ich sei immer noch zu beschämt wegen der öffentlichen Kritik, die ich auf mich gezogen hatte. In Wahrheit fand ich den Arden Oracle sogar für einen in Ungnade gefallenen mittelmäßigen Schreiberling wie mich indiskutabel. »Kommen Sie schon, Clay«, bettelte Andy. »Diese Riesenstory hat Sie doch praktisch schon am Wickel!«

»Ich dachte, dies wäre dein Karrieresprungbrett«, sagte Roger zu Andy.

»Ist es auch! Ich kümmere mich um das Verbrechen, um die blutigen Details, die Jagd nach dem Täter. Wir brauchen aber auch jemanden, der die menschliche Seite beleuchtet. Die Auswirkungen dieses Traumas auf die anderen Studenten. Und dann ist da noch das Opfer. Was ist ihre Geschichte? Sie kennen sich doch damit aus, Professor Robinette. Niemand sonst wäre besser geeignet, so eine Story zu schreiben! Jedenfalls niemand hier in der Stadt.«

»Von wem sprechen wir denn hier eigentlich?«, sagte ich und versuchte, möglichst abgebrüht zu klingen. »Weiß jemand den Namen des Opfers?«

»Hab ich vergessen«, sagte Andy. Er zog sein Notizbuch aus der Tasche und blätterte die Seiten durch.

Mit einem Mal fühlte ich mich der ganzen Szene enthoben, als würde ich auf einem Balkon stehen und nach unten schauen auf diese kleine vertrocknete Rasenfläche, mich weit nach vorn beugen und diesen leichten Schwindel spüren, diese Versuchung, und merken, wie meine Füße den Kontakt mit dem Boden verlieren, nach vorn kippen …

»Jennifer Esther Wolfshiem.«

… die Augen schließen und fallen, fallen.

»Waaaaaauuuuurrrrrggggggg!« Der schmerzgeplagte Schrei zwang mich dazu, die Augen zu öffnen. »Nein!«, kreischte eine junge Frau. »Nein! Neeeeiiiinn!«

»Was zum Teufel …«, sagte Andy Chadwick. Er zog sich den Stift vom Ohr und tauchte in die Menge ein.

»Mit dir alles in Ordnung, old bean?«, fragte Roger. »Du sahst aus, als würdest du gleich umkippen.«

Ich spürte, wie mein Körper schwankte. Ich rieb mir die Augen. »Entschuldige. Es ist nur … Ich kannte das Mädchen. Sie war … eine Studentin von mir.«

Roger nickte ernst. »Hmm. Der Name kommt mir auch bekannt vor. Ich glaube, ich hatte sie in einem Kurs über die Viktorianische Epoche … Seid ihr enger bekannt gewesen?«

Ich starrte in Rogers triefende Augen. Er sah mitfühlend aus. Ich musste schlucken. »Kommt drauf an, was du mit enger meinst.«

Wir standen nicht mehr außerhalb der Menge. Die versammelten Gaffer hatten inzwischen unsere kleine Rasenfläche eingenommen. Ich schaute mich um. Es kamen immer mehr dazu – mehr Studenten, mehr Polizisten, mehr Kamerateams. Im Gedränge der vielen Neugierigen wurden wir voneinander getrennt. »Wir sprechen uns später«, rief Roger mir zu, bevor er endgültig in der Menge verschwand.

Beinahe hätte ich mich umgedreht und wäre nach Hause gefahren. Ich hatte das plötzliche Bedürfnis, ins Bett zu gehen und mich unter der Decke zu verkriechen. Aber ich wusste, dafür war es zu spät. Ich musste mehr herausfinden. Ich schob mich durch die Menge, dorthin, wo das Podium mit dem Stehpult war, in der Hoffnung, die Pressekonferenz würde bald beginnen. In dem Moment, als ich den Rand des Podiums erreichte, stürzte sich Andy Chadwick auf mich. Er legte einen Arm um meine Schulter und beugte sich vertraulich zu mir. »Die junge Frau, die geschrien hat, das war die Mitbewohnerin der Wolfshiem. Sie hat gerade erst erfahren, was passiert ist.« Andys schaler Mundgeruch nach Kaffee drang mir in die Nase. Ich versuchte ihn wegzustoßen, aber die Menge drückte uns gegeneinander wie Pendler in einem Vorortzug zur Stoßzeit. »Mit ihr sollten Sie wegen der Story reden. Ich hab mir ihren Namen und ihre Adresse aufgeschrieben.«

»Können wir bitte alle etwas leiser werden?« Die Stimme von Dekan Jerry Shamberg übertönte alles. Ich schaute auf und sah den Präsidenten der Universität hinter dem Stehpult. Eine kleine Gruppe von Personen, darunter Kwanzi Authentica Parker und Pops Mulwray, stand neben ihm auf dem Podium.

»Sie hätten mal hören sollen, was Shamberg vorhin im Mathegebäude gesagt hat«, grunzte Chadwick mir ins Ohr. »Er ist total durchgedreht. ›Wir bluten aus!‹, sagt er. ›Wir bluten aus! Wir müssen das Ausbluten stoppen!‹ Aufgebrachte Eltern haben bereits angerufen, die meisten natürlich aus Manhattan, und wollen ihre verwöhnten Bälger von der Uni nehmen, weil sie sich Sorgen um ihre Sicherheit machen.« Andy kicherte. »Mal sehen, wie unser Dekan damit klarkommt.«

»Leute …? Können wir bitte kurz mal ein bisschen leiser werden, Leute?« Wie auch immer er sich eben gerade im Mathematikgebäude gebärdet hatte, hier rastete Jerry Shamberg jedenfalls nicht aus. Er stand gefasst hinter dem Pult, klopfte auf die vor ihm stehenden Mikrofone, um herauszufinden, ob sie funktionierten, und wartete ab, dass die Menge sich beruhigte. Shamberg war ein stämmiger Mann mit bronzefarbenem Teint und man sah dem Fünfzigjährigen an, dass er eine Menge Zeit im Fitnessstudio und im Solarium verbrachte. Mit seinen kurzgeschnittenen grauen Haaren und dem sorgfältig gepflegten Kinnbart wirkte er eher wie ein in die Jahre gekommener Hollywoodmanager als wie ein Universitätspräsident. Das Eigenartigste an Shamberg war, dass man den Eindruck hatte, er würde einen immer schräg von der Seite anschauen. Sogar jetzt, hinter dem Pult, neigte er den Kopf leicht nach links, aber seine Augen schauten nach rechts. Während er die Menge taxierte, kippte sein Kopf langsam nach rechts und seine Augen blickten nach links.

»Heute ist unsere Gemeinschaft mit einem tragischen Ereignis konfrontiert.« Die Menge war jetzt ruhig, aber das Klicken und Surren der Kameras hielt an. »Im Augenblick gibt es nicht viel zu sagen. Unsere Gedanken und Gebete sind bei der Familie von Jennifer Wolfshiem. Und wir werden alle Anstrengungen unternehmen, um herauszufinden, was genau passiert ist und wer verantwortlich ist für dieses abscheuliche Verbrechen.«

Als der Dekan sich darüber ausließ, wie sehr uns dieser Verlust traf, und sein Kopf und seine Augen sich dabei kontrapunktisch bewegten, fiel mein Blick auf Kwanzi Authentica Parker. Sie stand ungefähr einen Meter neben Shamberg auf dem Podium und starrte direkt nach vorn in die Menge. Wie alle auf dem Podium trug sie weder Hut noch Mantel. Sie war bekleidet mit einem prächtigen, farbenfrohen afrikanischen Gewand, ihr üppiges Haar war in mehreren Schichten dünner Zöpfe um den Kopf drapiert. Ich hatte mitbekommen, dass manche Schwarze in Arden Kwanzi als hellhäutig bezeichneten, aber so sah ich sie nicht. Ihre Haut hatte einen Hauch von Herbst, einen rötlichen Schimmer, den sie von ihren Cherokee-Vorfahren geerbt hatte. Mir wurde klar, dass ihr Teint genau der war, den Jerry Shamberg und seinesgleichen im Sonnenstudio zu erzielen versuchten. Wie sie da im Sonnenlicht stand, mit zopfbewehrtem, hochgerecktem Kopf und strengem Blick, schien sie Stolz und Zuversicht auszustrahlen. Ihr verhasster Rivale Reginald T. Brogus war auf der Flucht und wurde wegen Mordes gesucht. Wie groß auch der Schaden für das Afrikamerika-Institut sein mochte, Reggie Brogus war auf und davon. Ihre Geringschätzung seiner Person hatte sich auf eine perverse, dramatische Weise bestätigt. Vielleicht, so überlegte ich, war Kwanzi gar nicht, wie ihr Ehemann Roger Pym-Smithers sie vorhin beschrieben hatte, »ziemlich verstört«. Vielleicht war sie im Gegenteil sehr froh über diese Entwicklung.

»Aber heute«, erklärte Dekan Shamberg, »betrauern wir nicht nur ein Opfer. Wir feiern auch einen Helden. Inmitten dieser Tragödie werden wir an den wahren Geist der Arden University erinnert. Pops, komm doch bitte mal her.«

Pops Mulwray, mager, gebeugt und leicht zittrig, dennoch eine gewisse Eleganz ausstrahlend in seiner grünen Uniform, die ihn als Aufsichtskraft der Arden University auswies, mit dem goldenen Schriftzug »Pops« über der Brusttasche, schlurfte in Richtung Stehpult wie ein kleiner dunkelbrauner Duke Ellington im Overall. Shamberg schlang seine Arme um den alten Mann und drückte ihn.

»Pops Mulwray ist neunundsiebzig Jahre alt. Er hat Parkinson und ist nicht mehr so gut zu Fuß. Aber er arbeitet schon seit siebenunddreißig Jahren für die Arden University. Und er packt immer noch ordentlich mit an. Heute Morgen um sechs Uhr betrat er das Mathematikgebäude und ging von Büro zu Büro, um alles in Ordnung zu bringen für den Fall, dass jemand über das lange Wochenende hier gewesen ist. Dabei hat er die tote Jennifer entdeckt. Und auch wenn er nicht mehr so gut sprechen kann und es sehr schmerzhaft für ihn ist, sich fortzubewegen, hat Pops den Weg bis zur Polizeistation des Campus zurückgelegt und die Beamten zum Tatort geführt. Das, liebe Freunde, ist der wahre Geist der Arden University. Pops Mulwray, wir alle ziehen den Hut vor dir!«

Die Menge applaudierte enthusiastisch. Das musste man Jerry lassen: Mit einer einzigen Geste hatte er die Solidarität zwischen den Angehörigen verschiedener Ethnien gestärkt, indem er in dieser potenziell explosiven Situation einen schwarzen Angestellten in den Mittelpunkt stellte und gleichzeitig dem Publikum die Möglichkeit gab, sich gut zu fühlen, indem sie dem alten schwarzen Mann Beifall zollten. Pops Mulwray wiederum stand mit glänzenden Augen zittrig neben dem Pult. Das Klatschen schien ihn zu verwirren. Er wehrte kraftlos ab und schlurfte zurück zu der Gruppe von Leuten, die sich auf dem Podium zusammengefunden hatten.

Andy Chadwick kicherte mir ins Ohr: »Ja, schön, aber woher will der Dekan denn wissen, dass Pops das Mädchen nicht umgebracht hat?«

Ich warf Andy einen verärgerten Blick zu. Er sah mich verlegen an und begann hektisch in sein Notizbuch zu kritzeln.

»Und jetzt«, sagte Shamberg und klang dabei wie ein Zeremonienmeister, »werde ich das Podium Detective Patsy DeFestina überlassen …«

»Da ist sie!«, kreischte Andy.

Ein uniformierter Beamter stellte ein kleines Fußbänkchen vor das Stehpult. Als die winzige Frau mittleren Alters daraufstieg, begannen sämtliche Kameras zu klicken. Das eigenartige akustische Spektakel erinnerte mich an einen Dschungel, in dem zahlreiche exotische Insekten irgendwo versteckt im Gras durcheinanderzirpen. Als sie sich nach vorn zu den aufgestellten Mikrofonen beugte und den Mund öffnete, fingen die Reporter an zu gestikulieren und zu rufen.

»Patsy! Patsy! Patsy! Detective DeFestina! Hier bitte! Hey, Patsy!«

Ich hatte Detective DeFestina schon zuvor zwischen den Leuten auf dem Podium bemerkt, aber gedacht, sie wäre eine von den Verwaltungsangestellten – vielleicht eine, die für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist –, der ich bislang noch nicht begegnet war. Sie trug eine große rechteckige Brille mit durchsichtigem Plastikgestell im Stil der siebziger Jahre, ein rot-schwarz kariertes Jackett, darunter einen braunen Rollkragenpulli, schwarze Hosen und bequemes Schuhwerk. Nachdem ich sie nun zuordnen konnte, dachte ich, diese Frau hatte die asexuelle Aura einer Nonne in Zivil. Aber ich hätte sie nie für eine Polizistin gehalten.

»Keine Fragen«, sagte DeFestina entschieden, aber höflich, und hob ihre kleine Puppenhand, um die Menge zu beruhigen. »Ich werde später zusammen mit dem FBI eine Pressekonferenz abhalten, aber im Augenblick kann ich keine Fragen beantworten …«

DeFestina redete weiter, aber ich hörte nicht mehr richtig zu. Ich wusste, dass sie nur die wenigen Details herunterbeten würde, die bislang bekannt waren. Während sie weiterplapperte, studierte ich ihr Gesicht und ihr Benehmen, horchte mehr auf ihren Akzent als auf das, was sie sagte. Und ich war verblüfft, auf eine sehr eigenartige Weise ratlos. Was war diese Patsy DeFestina? Weiß? Ja, sie hatte einen italienischen Namen. Ihre Haut war sicherlich heller als die von Kwanzi. Und deutlich heller als Shambergs künstliche Bräune. Aber konnte ich da nicht einen Hauch von olivfarbenem Teint bei DeFestina erkennen? War sie also schwarz? Auf jeden Fall »klang« sie nicht schwarz. Sie hatte einen angenehmen, kontrastarmen Ohio-Akzent mit ausgeprägten Vokalen. Vielleicht war sie ein Mischling? Ihr kurzes braunes Haar war in einem perfekt unauffälligen Stil geschnitten, schien sich aber an manchen Stellen leicht zu kräuseln. Und waren ihre vollen Lippen und die runde kleine Nase nicht Hinweise auf eine schwarze Herkunft?

Verstehen Sie mich nicht falsch. Patsy DeFestinas ethnische Herkunft war mir egal. Mich verstörte nur, dass ich sie nicht einordnen konnte. Normalerweise konnte ich afrikanische Gene einer Person sofort in ihrem Gesicht erkennen – ohne Zögern und mit unfehlbarer Sicherheit. Na gut, sagen wir mal, wenn eine Person zur Hälfte schwarz war, konnte ich das sofort erkennen. Vielleicht, so dachte ich, war schon mein Verdacht, Patsy DeFestina könnte schwarze Vorfahren haben, ein Beweis dafür, dass dies der Fall war. Andererseits wäre ich auch nicht überrascht gewesen, wenn ich erfahren hätte, dass die Eltern der Polizistin beide weiß waren und ihre Großeltern ebenfalls. Ich stand vor dem Podium, starrte diese Frau an und fand nicht heraus, was zum Teufel sie war.

»Das ist alles, Leute«, sagte DeFestina freundlich, aber unmissverständlich. »Ich muss jetzt an die Arbeit gehen. Bis später.«

Als sie sich von den Mikrofonen abwandte, drehten die Reporter durch. Im wilden Durcheinander gebrüllter Fragen stach ein einziges Wort immer wieder hervor und bohrte sich in mein Trommelfell:

»BROGUS! – BROGUS! – BROGUS! – BROGUS! – BROGUS!«

Patsy DeFestina wirbelte herum und näherte sich erneut den Mikrofonen. Sie deutete auf einen der Journalisten. »Was haben Sie gefragt?«

»Ist Brogus Ihr einziger Verdächtiger, Patsy?«, tönte eine männliche Stimme wichtigtuerisch.

DeFestina hielt inne und musterte den Fragenden sehr genau und erbarmungslos durch ihre Brillengläser. »So lange, bis wir den kranken Mörder dieser jungen Frau überführt haben … sind alle verdächtig.«

Mir gefror das Blut in den Adern. Alle Anwesenden waren verblüfft von dem eiskalten Ton in Patsys Stimme. Wenn ich Schwester DeFestina in einem Klassenzimmer in der Grundschule begegnet wäre, ich bin mir sicher, ich wäre schwer traumatisiert worden. Der Gedanke, irgendwann einmal mit Detective DeFestina in einem Verhörzimmer zu sitzen, jagte mir eine derartige Angst ein, dass ich mich am liebsten übergeben hätte.

DeFestina hüpfte von dem kleinen Hocker zurück aufs Podium, und die Presseleute überwanden ihre Verblüffung und schrien wieder auf sie ein.

»BROGUS! – BROGUS! – BROGUS!«

Der uniformierte Beamte schnappte sich den Hocker und lief hinter Patsy DeFestina her, die bereits vom Podium gesprungen war und nun mit ihren kurzen Beinen überraschend flink zurück ins Mathematikgebäude eilte. Die Journalisten brüllten weiter durcheinander. Bis eine heisere Stimme sie übertönte:

»Ich bin Professor Kwanzi Authentica Parker, Vorsitzende des Afrikamerika-Instituts.«

Als die Menge sich beruhigt hatte, stand Kwanzi hinter dem Bouquet von Mikrofonen und funkelte uns an. Ich fragte mich, ob irgendeiner meiner Kollegen bemerkt hatte, dass Kwanzi sich soeben in eine Position befördert hatte, die noch gar nicht existierte.

»Als eine in Amerika lebende Afrikanerin«, sagte die in New Jersey geborene Kwanzi, »hoffe ich, dass Sie in Ihren Medien die Gesetze dieses Landes respektieren … Es gilt die Unschuldsvermutung. So lautet das Gesetz in diesem Land.« Kwanzis Stimme vibrierte zornig. Wie sie da auf dem Podium stand, strahlte sie etwas Majestätisches aus, während sie empört ihr Publikum anstarrte und ihre Korkenzieherzöpfe in der leichten Brise erzitterten. »Lassen Sie sich nicht zu einem übereilten Urteil verleiten. Ich wiederhole: Lassen Sie sich nicht zu einem übereilten Urteil verleiten. Heute sind wir alle Opfer. Sogar ein Mitglied unserer Fakultät, das beschuldigt wird, ist heute ein Opfer. Wir alle im Afrikamerika-Institut bedauern zutiefst, dass ein Mensch zu Tode gekommen ist. Aber wir bestehen darauf, dass die Ermittlungen in diesem Fall fair und gerecht erfolgen. Gott segne Sie alle. Vielen Dank.«

Als Kwanzi vom Podium stieg, brach vielstimmiges Murmeln aus. Ich weiß nicht, was die anderen Anwesenden dachten, aber ich war erstaunt, dass Kwanzi Reggie Brogus gerade offenbar … nun ja, nicht direkt verteidigt hatte, aber für seine Rechte eingetreten war, für einen Mann also, den sie zutiefst verabscheute. Vielleicht war ihr in einer solchen Situation die Solidarität unter Schwarzen wichtiger als Brogus’ Verrat an den eigenen Leuten. War ich nicht einem ähnlichen Impuls gefolgt, als ich Brogus fast bis zum Flughafen gefahren hatte?

Die Menge redete weiter durcheinander, niemand schien etwas mit Kwanzis Bemerkung anfangen zu können. Bis auf einmal eine Person eifrig zu applaudieren begann. Es war Roger Pym-Smithers, Kwanzis Ehemann, der jetzt auf der anderen Seite des Podiums stand. »Gut gesprochen!«, rief er und klatschte laut und heftig. »Hört, hört! Sehr gut gesprochen!«

Andere aus dem Publikum fingen ebenfalls an zu applaudieren, aber eher zögerlich und schüchtern. Dekan Shamberg trat vor die Mikrofone. »Nun, damit wäre wohl fürs Erste alles gesagt. Die Vereinigung der Studentinnen hat angekündigt, heute Abend um acht Uhr an dieser Stelle eine Mahnwache im Gedenken an Jennifer Wolfshiem abzuhalten, mit Kerzen …«

»Hey!« Andy Chadwick stieß mir den Ellbogen in die Seite. »Darüber sollten Sie berichten, Clay!«

Während Shamberg noch erklärte, dass die anstehenden Mathematikveranstaltungen in andere Gebäude verlegt würden, zerstreute sich die Menge. Ich konnte mir nun etwas mehr Abstand zu Chadwick verschaffen. Der junge Journalist grinste mich an, letzte Reste seiner Spinatmahlzeit hingen ihm immer noch zwischen den Vorderzähnen.

»Schreib einfach einen Artikel über die Stimmung auf dem Campus.« Andy riss eine Seite aus seinem Notizbuch und reichte sie mir. »Das ist der Name der Studentin, die vorhin geschrien hat, Wolfshiems Zimmergenossin.« Er hörte auf zu grinsen. »Ernsthaft, Clay, das könnte Ihnen nützen. Ich gehe jetzt in die Redaktion. Kann ich meinem Redakteur ankündigen, dass Sie was für unsere morgige Ausgabe schreiben?«

»Lass mich darüber nachdenken«, sagte ich. »Wann musst du das spätestens wissen?«

Andy Chadwick suchte in der Tasche seines Trenchcoats und förderte eine verkrumpelte Visitenkarte zutage. Ich lachte verhalten, als er sie mir hinhielt. »Ist dir die Karte in den Abwasch gefallen, Andy?«

»Ruf mich vor Mittag an«, sagte er. »Ich geh mir jetzt meine Sporen verdienen.«

Als Andy davoneilte, glitt Kwanzi in ihrem wogenden Technicolorkleid auf mich zu. Wir umarmten uns und verharrten einen Moment so. Kwanzi roch wie immer nach Kakaobutter. Sie löste sich sanft aus der Umarmung, ließ aber ihre Hände auf meinen Schultern liegen. »Bruder Clay«, sagte sie seufzend.

»Wie geht es dir, Kwanzi?«

Sie schloss die Augen und nickte. »Ich komme damit klar.« Sie schlug die Augen auf. »Die Geister helfen mir, mit all dem klarzukommen.«

Roger Pym-Smithers stand hinter Kwanzi und starrte verzückt auf den Hinterkopf seiner Frau.

»Das könnte ein Riesenproblem für das Institut werden, hm?«, sagte ich.

»Im Augenblick mache ich mir keine Sorgen um das Institut, sondern um Reggie.«

»Ich dachte, den kannst du nicht ausstehen.«

»Oh, Clay«, sagte Kwanzi sanft und umfasste meine Hände.

»Kwanzi glaubt nicht, dass Brogus der Täter ist, old bean«, sagte Roger.

»Glaubst du nicht?«

»Ich empfange einige sehr starke Signale zu diesem Fall«, sagte Kwanzi.

»Kwanzi ist ein echtes Medium«, vertraute Roger mir an.

»Ich habe Reggie nie gehasst«, sagte Kwanzi. »Ich hatte immer das Gefühl, dass der Bruder den Kontakt zu dem verloren hat, was er einmal war. Weißt du, Clay, Reggie hat für die Schwarzen eine große Bedeutung.«

»Ja, ich weiß.«

»Aber du bist zu jung, um es wirklich zu verstehen. Du hast von diesen ganzen dramatischen Sachen gehört, der Gewalt, aber Blackness as a Revolutionary Force hat den Menschen damals wirklich viel bedeutet. Niemand spricht mehr von den kostenlosen Mittagessen, die BAARF an arme Großstadtkinder verteilt hat.«

»Wow«, sagte ich. »Ich hab dich noch nie so über Reggie sprechen hören.«

Kwanzi lächelte mich selig an. »Ich bekomme so viele widersprüchliche Signale zurzeit, mein Bruder. Aber bei einer Sache bin ich mir sicher: Reggie hat dieses weiße Mädchen nicht umgebracht.«

»Woher weißt du das?«

»Das kann ich dir nicht sagen. Es sind Informationen, die mich auf spirituellem Weg erreichen, von einer anderen Ebene. Aber glaub mir: Reggie war es nicht.«

»Okay.«

»Kwanzi irrt sich nie bei solchen Sachen, old bean. Sie ist ein echtes Medium.«

Kwanzi ging nicht auf Roger ein. Sie streichelte meine Hand und starrte ins Nichts. »Aber der Mörder ist in der Nähe. Er steht uns sehr nah.«

Kwanzi ging mir allmählich auf die Nerven. »Ich muss jetzt los«, sagte ich.

»Wirst du darüber schreiben, Clay?«, fragte Kwanzi.

»Hat Roger dir gesagt, dass ich vielleicht einen Artikel für den Oracle schreibe?«

Kwanzi schaute mich mit großen Augen an. »Roger hat mir überhaupt nichts davon erzählt.«

»Das stimmt, old bean, ich habe kein Wort davon erwähnt.«

»Das habe ich intuitiv erfasst«, sagte Kwanzi und legte ihre rechte Hand an meine linke Wange. »Sei vorsichtig, Clay. Die Geister passen auf dich auf. Aber du musst vorsichtig sein.«

»Entschuldige bitte«, sagte ich und rang mir ein Lachen ab, »aber du, äh, du machst mir ja richtig Angst.«

»Sei einfach vorsichtig, Clay«, sagte Kwanzi, die Hand an meine Wange gelegt, ernst und gelassen zugleich, mit leuchtenden braunen Augen. »Du könntest ernsthaft in Gefahr sein.«