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Die Kameraarbeit war ungeschickt, die Schwarzweißbilder auf dem Fernsehschirm wurden mal schärfer und mal unschärfer, ruckten hin und her. Wer auch immer da filmte, schien ganz schön hippelig zu sein. Ab und zu schwenkte die Kamera unvermittelt und blieb am Hinterkopf irgendeiner Person hängen, bevor sie wieder den muskulösen Schwarzen mit dem riesigen Afro in den Blick nahm, der Gefängniskleidung trug und Handschellen. Damals, vermutete ich, waren Aufnahmen im Gerichtssaal nicht zugelassen und der Dokumentarfilmer hatte wohl versucht, die Kamera zu verstecken. Im Off war die greinende Stimme eines Weißen zu hören: »Der Angeklagte Reginald T. Brogus …«

»Mkwame Obolobongo.«

Die Kamera schwenkte ruckartig und zeigte nun einen kahlköpfigen Richter in schwarzer Robe und mit Brille. »Was sagten Sie?«

»Mein Name ist Mkwame Obolobongo.« Die Kamera schwenkte zurück zum Angeklagten, dessen schwarzes Gesicht mal schärfer, mal unschärfer zu sehen war. Große schwarz-weiße Augäpfel starrten den Richter zornig an.

Im Off bestand der Richter weiter darauf: »Hier steht aber, Ihr Name ist Reginald Tiberius Brogus, und dieses Verfahren …«

»Das ist mein Sklavenname«, beharrte der Angeklagte. »Sie werden mich mit meinem afrikanischen Namen ansprechen: Mkwame Obolobongo.«

»In meinem Gerichtssaal werde ich Sie ansprechen, wie es mir beliebt, Mr. Brogus.«

»Mkwame Obolobongo.« Der schwarze Mann stand aufrecht da, die Hände gefesselt, den Kopf erhoben und leicht nach hinten geneigt. Er strahlte Arroganz und Machtbewusstsein aus, pures, rohes Charisma.

Das Publikum im Gerichtssaal wurde unruhig. Die Kamera schwenkte zum Richter, der wütend mit seinem Hammer aufs Pult schlug. »Ruhe im Saal! Ruhe, sage ich! Sie sind hier angeklagt als Reginald T. Brogus!«

»Mkwame Obolobongo!«

»Wenn Sie mit dieser Provokation fortfahren, machen Sie sich der Missachtung des Gerichts schuldig!«

»Ich bin Mkwame Obolobongo!«, rief der Angeklagte, als die Kamera zurückschwenkte und ihn fixierte. Zwei uniformierte Gerichtsdiener tauchten am Bildrand auf und näherten sich dem Gefangenen.

»Ihr Name ist Reginald T. Brogus!«

»Mein Name ist Mkwame Obolobongo!«

Im Off schlug der Richter wie wahnsinnig mit dem Hammer aufs Pult. »Sie werden hiermit wegen Missachtung des Gerichts belangt!«, schrie der Richter. »Bringen Sie ihn zurück in seine Zelle! Schafft diesen Nigger hier raus!«

Jetzt johlte die Menge vor Empörung. Als die Gerichtsdiener ihn fortbrachten, wehrte der Gefangene sich heftig, wand sich, trat um sich, knurrte und schrie: »ICH BIN MKWAME OBOLOBONGO! ICH BIN MKWAME OBOLOBONGO!« Sogar als er schon aus dem Gerichtssaal geschafft worden war, hörte man sein gedämpftes Protestgeheul: »Ich bin Mkwame Obolobongooooooooooooooooo …«

Jetzt ertönte die Stimme eines zeitgenössischen Nachrichtensprechers: »Der rassistische Ausrutscher des Richters während dieses Prozesses im Jahr 1971 führte dazu, dass das Verfahren wegen illegalen Waffenbesitzes eingestellt wurde. Brogus wurde wieder auf freien Fuß gesetzt.«

Das TV-Bild veränderte sich. Die Aufnahme war immer noch genauso ruckelig, aber die Bilder waren nun in Farbe. Zwei mit Gewehren bewaffnete, maskierte Männer in schwarzen Lederjacken rannten über einen Parkplatz. Sie duckten sich hinter einen Lieferwagen. Im Hintergrund waren Schüsse zu hören. Die Kamera schwenkte abrupt herum und zeigte einen Polizisten bäuchlings auf dem grauen Asphalt. Seine blaue Schirmmütze lag verkehrt herum neben ihm und wirkte verloren. Ich hatte diese Aufnahme schon mal gesehen. Darauf waren die Geschehnisse während des verpatzten Banküberfalls in Detroit 1974 zu sehen, nach dem Reggie Brogus sieben Jahre lang auf der Flucht war.

»Daran erinnere ich mich«, sagte Mrs. Henderson in dem Moment, als die körperlose Stimme des Sprechers anfing, das Geschehen zu beschreiben. »Ich habe damals in Detroit gelebt.«

Mrs. Hendersons üppige Leibesfülle nahm die eine Ecke des Sofas im Wohnzimmer ein. Eine Ausgabe des National Enquirer lag auf ihrem Schoß. Als ich vor einigen Minuten hereingekommen war, hatte Mrs. Henderson – unsere Babysitter-Köchin-Allzweck-Haushaltshilfe, die uns an fünf Nachmittagen in der Woche zur Hand ging – mich aufgefordert zu schweigen, weil sie gebannt die Fünf-Uhr-Nachrichten im Fernsehen verfolgte. Ich trat neben das Sofa und schaute zum Bildschirm, während ich gleichzeitig den Duft des gebratenen Hühnchens wahrnahm, das sie zum Abendessen in den Ofen geschoben hatte. Penelope und ich waren begeistert von Mrs. Henderson. Wir hatten sie in der ersten Woche nach unserem Umzug nach Arden kennengelernt und sie sofort gemocht, mit diesem typischen freundlichen, aber bestimmten Auftreten einer älteren schwarzen Dame, die sonntags in die Kirche ging. Die Zwillinge mochten sie sehr und benahmen sich immer sehr gut, wenn sie da war. Sie holte sie jeden Tag von der Schule ab und sorgte dafür, dass sie ihre Hausaufgaben machten. Da sie mitbekamen, wie ihre Eltern sich den Anweisungen der Babysitterin fügten, war für Amber und Ashley klar, dass sie keine Chance hatten, gegen Mrs. Henderson aufzubegehren. Sie sprach uns mit Vornamen an, aber wir konnten nicht anders, als sie immer nur Mrs. Henderson zu nennen.

»Glauben Sie, dass Reggie Brogus diese Studentin umgebracht hat, Clay?«

»Ich weiß es nicht, Mrs. Henderson, wirklich nicht.«

Als der Moderator von einem »politischen Umschwenken« sprach, huschte eine Reihe kurzer Clips über den Bildschirm: Brogus, nun deutlich dicker und in einem Businessanzug, wie er Präsident Ronald Reagan die Hand schüttelt; Brogus, wie er Präsident George Bush die Hand schüttelt; Brogus, wie er Senator Jesse Helms die Hand schüttelt; Brogus, wie er General Colin Powell die Hand schüttelt; Brogus in einem Werbefilm für »Reggie’s Real Deal Barbecue Sauce«, wie er in ein riesiges Stück Spareribs beißt, schmatzt und in die Kamera sagt: »Das schmeckt!«

»Die Presse hat den Mann schon vor Gericht gestellt, überführt und verurteilt«, sagte Mrs. Henderson. »Ich habe Lynchjustiz miterlebt, wissen Sie. Ich finde, das ist eine Schande.«

»Ich verstehe, was Sie meinen«, sagte ich. Ich erzählte Mrs. Henderson lieber nicht, dass ich den ganzen Nachmittag in der Redaktion des Arden Oracle verbracht hatte, um einen Artikel zu schreiben, in dem Brogus quasi vor Gericht gestellt, überführt und verurteilt wird.

Eine Aufnahme des Arden Airport erschien auf dem Bildschirm. Der Tower ragte in den blauen Himmel. Eine ganze Flotte sogenannter Pendlerflieger stand auf dem Rollfeld. Es waren nicht mal Düsenflugzeuge, sondern kleine Propellermaschinen mit Türen, die aufgingen wie Klappbetten mit schmalen Treppchen zum Einsteigen auf der Innenseite. Immer wenn ich auf dem Arden Airfield in ein Flugzeug stieg – um einen der Linienflüge innerhalb von Ohio zu nutzen, zum Beispiel nach Cleveland, Columbus oder Cincinnati –, besann ich mich auf meine Religion und begann zu beten, was ich ansonsten nur sehr selten tat, um den Herrn anzuflehen, er möge mich in dieser wackligen Blechbüchse sicher ans Ziel bringen.

»Brogus hatte gestern eine Reservierung für einen Flug um sechs Uhr morgens nach Cleveland«, sagte die Stimme im Fernsehen. »Aber er ist nie am Flughafen erschienen, um die Maschine zu nehmen. Deshalb glauben die Ermittler, dass Brogus sich immer noch im Bundesstaat Ohio aufhält.«

»Er hat das Flugzeug nicht genommen?«, flüsterte ich.

»Wie bitte?«, fragte Mrs. Henderson.

Kwanzi Authentica Parkers Kopf tauchte auf dem Bildschirm auf, goldbrauner Teint, markante Cherokee-Gesichtszüge, schnörkelige dünne Zöpfe. Ihr Name erschien in weißen Buchstaben direkt unter ihrem Kinn, und unter dem Namen war die Position vermerkt, die sie nach eigener Aussage seit heute Morgen innehatte: Leiterin des Afrikamerika-Instituts. Eine rosige Hand hielt ihr ein Mikrofon vors Gesicht.

»Die mag ich«, sagte Mrs. Henderson. »Die ist schon den ganzen Tag im Fernsehen. Wenigstens gibt es ein paar colored folks, die sich für Reggie Brogus in die Bresche werfen.«

Ich schnaubte zustimmend und starrte auf den Bildschirm.

»Ich denke, wir alle müssen jetzt erst mal trauern«, sagte Kwanzi und schaute den Reporter ernst an. »Aber ich möchte noch eine besondere Botschaft aussenden.« Sie neigte den Kopf und schaute direkt in die Kamera: »Reggie … Bruder … wenn du jetzt da draußen bist … und uns zuhörst … Bitte komm zurück. Niemand wird dir etwas antun. Wir wollen nur, dass die Wahrheit ans Licht kommt …« Kwanzis Augen wurden feucht. »Bitte, komm zurück, Reggie … Wir glauben an dich …«

»Irre«, sagte ich, als Kwanzi aufschluchzte.

»Wie bitte?«, fragte Mrs. Henderson.

Auf dem Bildschirm erschien ein körniges Schwarzweißfoto von Reggie Brogus. Unter dem Bild war der berühmtberüchtigte amerikanische Fluch zu lesen: WANTED.

»Das FBI«, erklärte der Moderator, »hat eine Belohnung von 100.000 Dollar ausgesetzt für Hinweise, die zur Festnahme von Reginald Tiberius Brogus führen könnten. Wir weisen darauf hin, dass dieser Mann weiterhin auf der Flucht ist und bewaffnet und gefährlich sein kann.«

Ich starrte auf den Bildschirm und dachte an den kahlrasierten schwarzen Kerl im schwarzen Trenchcoat, mit der dunklen Sonnenbrille, der stocksteif auf dem Rasen vor Reggies Haus gestanden hatte, und an die wilde Tirade, die Brogus in diesen frühen Morgenstunden in meinem Volvo ausgestoßen hatte: Cointelpro … Counterintelligence-Program … Die Akten über die Ermordung von Martin Luther King am 4. April 1968 in Memphis, Tennessee … offene Rechnungen … Und ich fragte mich: Was, wenn Reggie die Wahrheit gesagt hat?

* * *

Die Erinnerung ist im besten Fall getrübt. Ich weiß noch, dass es Sommer und ich noch auf dem College war, also denke ich, es müsste 1978 oder 1979 gewesen sein. Meine Eltern waren schon seit ein paar Jahren geschieden und ich hatte mich bereit erklärt, mit meinem Vater an einem Familientreffen der Robinettes in Luckett, Tennessee teilzunehmen. Mein Bruder, der damals wohl schon sein Studium an der UCLA begonnen hatte, schaffte es irgendwie, sich vor einer Teilnahme zu drücken, und mein Vater musste wohl einen Tag vor mir im Süden angekommen sein. Er holte mich am Flughafen in Memphis ab, um mit mir nach Luckett zu fahren. »Ich möchte unterwegs einen Zwischenstopp einlegen. Ich will dir was zeigen«, sagte mein Vater geheimnisvoll.

Ich erinnere mich besser an die Stimmung als an das tatsächliche Geschehen. Es war ein grauer und schwüler Nachmittag. Ich stand zusammen mit meinem Vater auf dem Bürgersteig gegenüber dem Lorrain Motel, und ich erinnere mich noch, dass es rosa und blau gestrichen war. Ich glaube, es war der Balkon im ersten Stock, auf den mein Vater deutete. »Dort haben sie Dr. King ermordet«, sagte er. »Er wurde am Hals getroffen.«

Wie oft hatte ich das berühmte Schwarzweißfoto gesehen? Die kleine Gruppe schwarzer Männer, die alle nach oben über die Straße zeigten, und MLK, der in einer Blutlache vor ihnen lag. Ich erinnere mich an das schaurige, irreale Gefühl, das mich angesichts des echten Schauplatzes beschlich, des realen Balkons dieses realen Motels mit seinen verblichenen, einst fröhlichen Farben. Auf dem Parkplatz direkt unter dem Balkon, und das trug zusätzlich zu der eigenartigen Atmosphäre bei, stand eine überlange, unförmige Limousine mit dekorativen Heckflossen, ein Modell aus den 1960ern, das aussah, als wäre es genau zehn Jahre zuvor dort abgestellt worden. Ich drehte mich um und schaute mir die trostlosen rötlich-braunen Backsteinhäuser auf der anderen Straßenseite an. Auf eines davon mussten die Männer auf dem Foto gedeutet haben.

»Der Schuss muss von dort gekommen sein«, sagte ich.

»Offensichtlich«, entgegnete mein Vater.

Eine Weile standen wir schweigend auf dem verlassenen Gehweg in der feuchtschwülen Luft. Mein Vater starrte zu dem Motel und strich dabei mit Zeigefinger und Daumen über seinen kleinen Schnurrbart. Nie in meinem Leben hatte ich ihn so traurig gesehen. »Wie hieß noch mal dieser Typ, der ihn erschossen hat?«, fragte ich schließlich, obwohl ich die Antwort schon kannte. Ich wollte meinen Vater mit meinem Wissen beeindrucken. »War das nicht James Earl Ray?«

»Ray hat das Verbrechen gestanden«, sagte mein Vater und schaute mich immer noch nicht an. »Sie – die sogenannte Obrigkeit – schnappten ihn zwei Monate nach dem Attentat in London. Ein weißer Rassist, wie man es erwarten würde. Er bekannte sich schuldig. Also gab es nie eine Gerichtsverhandlung. Inzwischen behauptet Ray, er sei es nicht gewesen.«

»Glaubst du ihm?«

Mein Vater starrte immer noch wie hypnotisiert zum Balkon. Sein Schulterzucken drückte eine so grundlegende Hoffnungslosigkeit aus, dass ich den Tränen nahe war. Nach einer Weile sagte er: »Die Kugel, die Dr. King niedergestreckt hat, passte nicht zu Rays Gewehr. Wusstest du das?«

»Nein, das wusste ich nicht.«

»Es ist auch nicht sehr bekannt. Du wirst kaum darüber in den Zeitungen lesen. Niemand will darüber berichten. Denn wenn man es tut, muss man sich automatisch der Frage stellen, wer Dr. King wirklich umgebracht hat … und warum.«

»Was denkst du?«

»Ich denke, wir werden es nie erfahren.« Nach einer weiteren langen Pause fügte mein Vater hinzu: »Es spielt sowieso keine Rolle. Der Mann ist tot. Das ist das Einzige, was zählt. Und mit ihm starb so viel, dass die Leute es nie ganz verstehen werden und auch nicht fähig sein, es auszuhalten.« Mein Vater hatte Tränen in den Augen. Ich auch. »Was für ein Verlust«, sagte mein Vater leise. »Was für ein Verlust.«

* * *

Ich hatte gerade erst Mrs. Henderson verabschiedet. Es war halb sechs, und Penelope würde erst gegen sechs nach Hause kommen, also dachte ich, ich könnte eine halbe Stunde lang für Amber und Ashley den vorbildlichen Vater spielen. Als ich die Treppe nach oben ging, konnte ich schon die Musik hören, die durch die Tür des Mädchenzimmers drang, und auch die bekannten weiblichen Stimmen mit dem Queens-Akzent und der berühmten lüsternen Aufforderung:

Ah, push it!
Push it good!

Ach du meine Güte! Wieso hörten meine Töchter diesen vulgären Salt’n’Pepa-Song?! Amber und Ashley waren erst sechs Jahre alt! Ich erreichte das Ende der Treppe, rannte den Flur entlang und riss die Tür auf. Ich sah meine Töchter an, eineiige Zwillinge, kleine Ausgaben ihrer Mutter mit fein geformten Augen und langen Wimpern, dunkelbrauner Haut und wuscheligen Locken schwarzglänzender Haare, die in der Mitte des Zimmers standen, einander ansahen, die Hände an den Hüften, die sie nach vorn schwangen, während sie mit der Musik sangen, die aus einem altmodischen Kassettenrekorder dröhnte, der mal mir gehört hatte, jetzt aber ihnen, und sie sangen mit ihren schrillen Kinderstimmen: »Push it so good!«

»Hey!«, rief ich.

Amber und Ashley hielten mitten in ihren unzüchtigen Hüftschwüngen inne. Einen Moment lang starrten sie mich schockiert an. »Daddy!«, kreischten sie unisono. Während Ashley zu mir rannte und mich umarmte, schaltete Amber hastig die Musik aus und hüpfte dann auch zu mir und schlang ihre Arme um mich. Alle drei fielen wir auf eins der schmalen Betten, und die Mädchen kicherten hysterisch, konnten sich nicht mehr einkriegen, zappelten herum, schlugen mit den Armen um sich, quietschten wie verrückt, befreiten sich aus meiner Umarmung, drehten und wandten sich und es war klar, dass sie sich freuten mich zu sehen, aber ihre Aufregung kam vor allem daher, dass ich sie dabei ertappt hatte, wie sie etwas Freches getan hatten. Bevor ich etwas sagen konnte, brach auch ich in lautes Gelächter aus, wegen der Albernheiten meiner Töchter, lachte dröhnend, um die quälende Anspannung dieses Tages loszuwerden, und spürte dieses seltene überschwängliche Gefühl von Ausgelassenheit, das ich in diesem Moment mit Amber und Ashley teilte und vielleicht mit keinem anderen: eine reine, bedingungslose Liebe.

Schließlich beruhigten wir uns wieder. Die Zwillinge hockten auf ihren Matratzen und ich lag ausgestreckt zwischen ihnen. Amber, die dreizehn Minuten Ältere, die ein winziges bisschen gewitzter war und schlauer und eine raschere Auffassungsgabe hatte, die blitzschnell das schlüpfrige Stück ausgeschaltet hatte, hockte links neben mir; Ashley, die ein kleines bisschen offenherziger und zugewandter war, impulsiver und intuitiver, die mich sofort umarmt hatte, saß auf der rechten Seite. Ich hatte um jede einen Arm gelegt. Nun bemühte ich mich so gut es ging um einen ernsten, erzieherischen Tonfall.

»Was für ein Musikstück habt ihr denn eben gehört?«

»Salt’n’Pepa!«, rief Ashley aus.

»Ja«, sagte ich, »aber wisst ihr auch, worüber die da singen?«

»Sie singen übers Tanzen, Daddy!«, sagte Amber mit übertrieben gespielter Verzweiflung.

Ich setzte mich auf. »Weiß eure Mutter, dass ihr diese Kassette habt?«

»Mommy hat sie uns doch gekauft!«, sagte Ashley.

»Hat sie?« Ich schnappte nach Luft. »War da denn kein Warnhinweis aufgeklebt?«

»Kein was?«, fragte Amber ungeduldig.

Ich warf einen Blick auf den mit Krimskrams übersäten Tisch, auf dem der Kassettenrekorder stand. Aber meine Aufmerksamkeit wurde abgelenkt von dem schon ziemlich alten Macintosh-Computer, der danebenstand. Ein »Erbstück« von Pen für die Zwillinge. Ich hatte ganz vergessen, dass die beiden einen eigenen Computer hatten.

»Benutzt ihr den Mac oft?«

»Klar, Daddy«, sagte Ashley. Sie sprang vom Bett und rannte zum Tisch.

»Wir wollten dich etwas fragen«, sagte Amber. Sie klang dabei mehr nach ernstem Elternteil als ich.

Ashley rannte zum Bett zurück und zeigte mir eine ganze Reihe von quietschbunten Computer-Disketten, die sie in der Hand aufgefächert hatte wie Spielkarten. Die Aufkleber zeigten verschiedene Zeichentrickfiguren und Fernsehpuppen, die Lernprogramme anboten.

»Der Computer ist toll!«, rief Amber aus. »Möchtest du sehen, wie er funktioniert?«

»Muss nicht sein, Liebes. Ich hab auch einen.«

»Daddy«, sagte Amber. »Wir wollten dich etwas fragen.«

»Benutzt ihr manchmal auch eine von den Disketten, die Mommy und ich unten im Arbeitszimmer haben?«, fragte ich Ashley, ohne auf Amber zu hören.

»Nee«, sagte Ashley.

»Ich suche nämlich eine Diskette, die ich irgendwo verloren habe. Sie ist nur schwarz und hat keinen Aufkleber.«

»Wenn sie keinen Aufkleber hat, ist auch nichts drauf«, sagte Amber. »Dann ist sie vielleicht noch nicht mal formatiert.«

»In den meisten Fällen stimmt das, Liebling«, sagte ich zu meiner Ältesten. »Aber diese Diskette ist formatiert und es ist auch etwas drauf.«

»Aber woher willst du denn wissen, dass etwas drauf ist, wenn sie keinen Aufkleber hat?«, fragte Ashley.

»Genau das ist ja das Problem, Liebes. Eine Studentin hat mir diese Diskette gegeben, aber sie hat vergessen, einen Aufkleber draufzumachen.«

»Das ist ja dumm«, sagte Amber.

»Soll ich mal nach der Diskette suchen, Daddy?«, fragte Ashley.

»Nein, ist schon okay. Ich glaube nicht, dass sie hier im Haus ist, aber falls ihr sie zufällig findet …«

»Daddy«, fiel Amber mir ins Wort, »wirst du jetzt unsere Frage beantworten?«

Ich wandte mich Amber zu. »Welche Frage denn?«

Ihre dunkelbraunen Augen bohrten sich in meine. »Hat Onkel Reggie es getan?«

Ich war völlig verblüfft. Natürlich war das dumm von mir, aber ich war davon ausgegangen, meine Töchter würden nichts von dem Thema mitbekommen, über das alle Menschen in der Stadt sprachen. Einige Sekunden war ich sprachlos, und dann verfiel ich auf meine übliche Antwort, wenn es brenzlig wurde: »Fragt eure Mutter.«

* * *

Meine Frau war wütend auf mich. Die Tatsache, dass sie ihr Businesskostüm nicht ausgezogen hatte, um sich fürs Abendessen bequemer anzuziehen, war ein eindeutiges Zeichen. Seit unserem Umzug nach Arden hatte Penelope als freischaffende Diversity-Beraterin ein lukratives Geschäft aufgezogen. Sie bot Kurse an – manche fanden an Samstagen statt, andere liefen über einen ganzen Monat – zum Thema Integration von Frauen, Minderheiten und behinderten Menschen in Geschäftszweige, die von weißen Männern dominiert wurden. Penelope beriet Führungskräfte, Angehörige des mittleren Managements und leitende Angestellte bei Themen wie Bewusstwerdung von Multikulturalität, Sensibilisierungstraining und Techniken für transpersonales Interfacing für Beratungsfirmen, Versicherungen, High-Tech-Unternehmen und Einzelhandelsketten in ganz Ohio. Wenn sie nicht gerade irgendwo eine ganze Woche vor Ort im Einsatz war, schloss sie sich tagsüber in unserem Gästezimmer ein, tippte auf ihrem Laptop und überarbeitete das Handbuch, das sie gerade verfasste – von dem sie mir aber noch keine Seite gezeigt hatte – und das den provisorischen Titel trug: »Wie sich Diversität für DICH auszahlt!«

Als ich Penelope nachmittags von der Redaktion des Oracle aus an ihrem aktuellen Arbeitsplatz angerufen hatte – eine Agrarfirma in der Nähe von Mulchville –, um ihr mitzuteilen, dass ich an der Campus-Mord-Geschichte arbeitete – sie hatte bereits von dem Verbrechen und dem Verschwinden von Reggie Brogus im Radio erfahren –, war ihre direkte Antwort ein langes Schweigen am Telefon gewesen. Schließlich hatte sie, mit deutlich irritiertem Unterton, gefragt: »Wieso denn?« Irgendwie war es mir dann gelungen, ihrer Frage auszuweichen und ihr entschuldigend mitzuteilen, dass ich nach dem Abendessen noch mal zum Campus aufbrechen würde, weil ich einen Bericht über die Totenwache schreiben wollte. Nach einem weiteren langen Schweigen hatte Penelope gesagt: »Okay, das kannst du mir dann ja beim Abendessen erklären.«

Als wir dann am Tisch saßen, versuchte ich ängstlich, jeden Hinweis auf den Artikel zu vermeiden. Amber jedoch verschwendete keine Zeit und folgte der Aufforderung, die ich ihr zuvor gegeben hatte. »Mommy«, sagte sie sehr ernst, als sie sich an den Esstisch setzte, »hat Onkel Reggie es getan?«

Ich merkte, wie Penelopes Körper erstarrte. Sie hatte es nie gut gefunden, dass die Mädchen Brogus so nannten. »Amber, in unserer Community hat sich eine schreckliche Tragödie ereignet«, sagte Penelope in einem ruhigen, aber tadelnden Ton. »Eine junge Frau hat auf grausame Weise ihr Leben verloren und das ist kein Thema für eine Unterhaltung beim Abendessen. Wir können später darüber sprechen, aber nicht bei Tisch.«

»Aber Mom-myyy!«, quengelte Amber.

»Du hast gehört, was ich gesagt habe. Also, wie war euer Schultag heute?«

»Da ist etwas total Lustiges passiert!«, rief Ashley aus.

Ganz aufgeregt begann sie den Vorfall zu schildern, bei dem es um einen widerlichen Jungen in ihrer Klasse ging und einen Kasten mit Fingerfarben, und Amber stimmte sofort mit ein. Normalerweise hörte ich meinen Töchtern aufmerksam zu, wenn sie ihre Anekdoten zum Besten gaben, aber an diesem Abend war ich in Gedanken ganz woanders. Ich bekam gar nicht mit, was die beiden erzählten. Ich sah nur die Fröhlichkeit in ihren Gesichtern, als sie Pen ihre Geschichte erzählten, die wiederum aufmerksam zuhörte, interessierte Fragen stellte und die beiden ermunterte, alles genau auszuführen. Ich verspürte eine Melancholie, ein Gefühl, das mich in letzter Zeit öfter beschlich, wenn ich mit meiner Frau und meinen Töchtern zusammensaß, als wäre ich irgendwie isoliert, eine leichte Ahnung von Außenseitertum. War das ein Gender-Problem? War es einfach nur natürlich, dass ich mich ein wenig außen vor fühlte, wenn sie diese besondere Atmosphäre von Intimität erzeugten, weil ich der einzige Mann im Haus war? Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich beschreibe hier nur einen kaum merklichen Anflug von Entfremdung, nicht ein Abklingen von Liebe. Mein Leben gehörte immer noch diesen drei menschlichen Wesen.

Vielleicht war es eine Folge meines Verrats an ihnen, dass ich mich ausgeschlossen fühlte. Das kleine Techtelmechtel mit Jenny hatte meine Verbindung zu den drei bedeutendsten Personen in meinem Universum gestört. Sie wussten nichts davon. Und ich wollte mir lieber nicht vorstellen, was passieren würde, wenn sie es herausfänden.

* * *

»Er ist ein Monster«, sagte Penelope. Nach dem Abendessen waren die Mädchen ins Wohnzimmer gegangen, um die Wiederholung einer alten Cosby-Show anzuschauen, und Pen und ich waren in die Küche gegangen, um eine Kanne koffeinfreien Kaffee aufzusetzen. Sie verzichtete auf eine Namensnennung, aber natürlich wusste ich, dass meine Frau auf den Mann anspielte, der vor einundvierzig Stunden genau an diesem Küchentisch gesessen hatte, während sie oben friedlich vor sich hin geschnarcht hatte. »Er ist ein unterhaltsames, berühmtes Monster. Deshalb findest du ihn so toll. Er ist ein Monster, das seine Monstrosität auch noch zelebriert und genießt. Aber, weißt du, man kann es damit auch übertreiben. Selbst wenn man ein grotesk telegenes Monster ist, das die Journalisten in seinen Bann schlägt.«

»Was ist mit Amber und Ashley?«, fragte ich. »Die sind auch total gebannt von Reggie und sie sind keine Journalisten.«

»Sie sind erst sechs Jahre alt. Kinder sind nun mal fasziniert von Monstern. Erwachsene sollten es allerdings besser wissen.«

Wie sie mir da gegenübersaß in ihrem gut geschnittenen Businesskostüm mit der Kunstperlenkette, wollte Penelope mich mit ihrer Abgeklärtheit beeindrucken. Ja, sie hatte Brogus immer schon durchschaut. Wieso ich nicht? Aber stimmte das denn?

»Du glaubst also, dass Brogus der Täter ist?«, fragte ich.

»Das ist doch nicht der Punkt.«

»Oha!«

»Clay«, sagte meine Frau ernst und beugte sich nach vorn, »warum schreibst du darüber?«

Konnte ich Penelope erzählen, wie erschüttert ich seit meinem Interview mit Patsy DeFestina war? Konnte ich ihr erzählen, wie sicher ich gewesen war, dass T-Bird Williams Jenny ermordet hatte, wie ich dann aber, als ich in die Redaktion des Oracle gekommen war und das Brogus-Fieber gespürt hatte, plötzlich davon überzeugt war, dass Reggie – da die Leiche in seinem Büro gelegen hatte, mit seinen Hosenträgern um den Hals – Jenny umgebracht haben musste? Doch wenn das stimmte, dann hatte ich einem Mörder zur Flucht verholfen, und selbst wenn es nicht stimmte, hatte ich ein Verbrechen nicht angezeigt, was womöglich selbst ein Verbrechen war. Und ganz egal, ob Brogus nun gefasst wurde oder nicht, musste ich dann nicht alles dafür tun, diesen ganzen Schlamassel von mir fernzuhalten und meine Verfehlungen zu kaschieren? Konnte ich Penelope erklären, dass ich gar nicht über das schrieb, was ich herausgefunden hatte – eine unterschwellige Schadenfreude, eine bürgerliche Überheblichkeit, eine quasi-erotische Aufgeregtheit bei den Bürgern von Arden –, sondern dass ich stattdessen dabei war, ein manipulatives Rührstück zu verfassen über eine Gemeinschaft, die ernsthaft glaubte, in Trauer zu sein: einen Artikel also, der zwar zur Gänze auf authentischen Zitaten beruhte, aber trotzdem von vorne bis hinten gelogen war? Konnte ich ihr erklären, auf was für eine perverse Art aufgedreht ich war, weil ich heute Abend die Totenwache besuchen wollte, um noch mehr makabren Kitsch aufzusaugen für die morgige Ausgabe? Konnte ich ihr erklären, dass ich es sogar geschafft hatte, einen Kasten für ein unterwürfiges Porträt von Detective DeFestina herauszuschinden – inklusive eines schmeichelhaften Fotos aus dem Archiv des Oracle, das immer benutzt wurde, wenn Patsy das Medieninteresse auf sich zog –, in dem die Plattitüden der berühmten Superpolizistin über Teamwork und den Heroismus ihrer Kollegen zitiert wurden, dank denen sie den Fall selbstverständlich lösen würden, ohne Patsys Feststellung zu zitieren, es gäbe eine neunzigprozentige Sicherheit, dass Brogus schuldig war, wobei ich aber hinter jedem Satz in meinem handwerklich sehr sorgfältig gestalteten journalistischen Erguss – sowohl in dem Porträt-Kasten als auch bei der Schilderung der Situation auf dem Campus – durchblicken ließ, dass es Brogus gewesen sein musste? Vielleicht hatte Penelope recht. Vielleicht war es gar nicht der Punkt, ob Brogus schuldig oder unschuldig war. Sollte doch alle Welt glauben, dass er – das berühmte Monster – schuldig war. Ich würde ihnen gerne dabei helfen. Solange es half, die Aufmerksamkeit von mir abzulenken.

Konnte ich meiner Frau erklären, dass ich mich fühlte, als würde ich jeden Moment zusammenbrechen? Konnte ich Penelope diese ganze hässliche Geschichte beichten, ihr, die mich besser kannte als jede andere?

Was denken Sie? Ich zuckte resigniert mit den Schultern. »Es ist eine gute Story.«

Wir hörten beide das plötzliche, insistierende Kratzen. Ich stand auf und öffnete die Tür zur Speisekammer. Genervt, weil meine Frau von mir genervt war, ließ ich meine schlechte Laune an der Katze aus: »Wenn du nicht in der Speisekammer eingeschlossen werden willst, dann leg dich da nicht zum Schlafen rein!«

»Jau«, sagte Dexter, ein lakonisches »Leck mich doch«. Stolz schritt er zu seinem Napf mit dem Dosenfutter.

Penelope schaute auf ihre Armbanduhr. »Du solltest losgehen, sonst kommst du noch zu spät.« Sie zog eine Ausgabe des Wall Street Journal aus der Ledertasche, die neben ihr auf dem Boden stand und begann zu lesen, ohne mir noch weitere Aufmerksamkeit zu schenken.

Ich nahm meinen Parka vom Garderobenhaken und ging zur Hintertür. Als ich den Türknauf betätigte, stellte ich fest, dass die Tür mal wieder unverschlossen war. Ich holte tief Luft, hörbar irritiert. Ich bin in Philadelphia aufgewachsen und habe fast ein Jahrzehnt in Manhattan gewohnt, daher war ich es gewohnt, alle Türen hinter mir abzuschließen. Egal, ob ich kam oder ging, ich schloss immer automatisch die Tür ab. Als wir noch in New York lebten, hatte Penelope das auch getan. Aber seit wir ins Landesinnere gezogen waren, hatte meine Frau sich an einen laxeren Umgang in Sicherheitsfragen gewöhnt. Die Bürger von Arden bildeten sich etwas darauf ein, ihre Türen nicht abschließen zu müssen. In dieser Stadt dachte sich niemand etwas dabei, wenn er an eine unverschlossene Tür klopfte, um gleich darauf einzutreten. Mich machte das wahnsinnig. Penelope aber fand es in Ordnung. Sie mochte diese lockeren Kleinstadtsitten und ermunterte ihre Töchter, es ebenso zu sehen. »Pen«, sagte ich mit einem genervten Seufzen, »wie oft soll ich das noch sagen? Wir leben hier nicht auf unserer kleinen Farm.«

Pen nippte an ihrem Kaffee, las die Zeitung und nahm mich weiterhin nicht zur Kenntnis.

»Weißt du«, sagte ich, »in dieser ach so sicheren Community wurde gerade eine Frau umgebracht und der Mörder wurde noch nicht verhaftet. Das solltest du vielleicht berücksichtigen.«

Ich sah, wie die Schultern meiner Frau sich anspannten und wusste, dass ich einen Nerv getroffen hatte. »Ist angekommen«, sagte sie.

Für mich, der ich in der Großstadt aufgewachsen bin, waren die Straßen in den Randbezirken von Arden abends und nachts einfach zu dunkel. Glücklicherweise gab es in der Nähe unseres Hauses eine Straßenlaterne, aber außerhalb ihres Lichtkegels lagen Gehweg und Straße in tiefster Dunkelheit bis zum Lichtkegel der nächsten Laterne. Ich stand in unserer Auffahrt und zog den Reißverschluss meines Parkas zu, als ich den Kühlergrill und die Motorhaube des Lincoln Town Car in der Finsternis jenseits des Radius der nächstgelegenen Laterne bemerkte. Auf den Vordersitzen konnte ich die Umrisse von zwei Personen erkennen. Instinktiv wusste ich, dass die eine Silhouette zu dem Mann gehörte, der mich vor Brogus’ Wohnhaus gesehen hatte. Ich stieg in den Volvo. Als ich den Motor startete, sah ich, wie die Scheinwerfer des Lincoln eingeschaltet wurden. Ich setzte rückwärts aus der Einfahrt und fuhr unsere Straße, die Maplewood Road, entlang. Der Lincoln folgte mir zur Totenwache für Seeräuber-Jenny.