»Die Schlampe hätte mal besser den Mund gehalten!«, sagte Reggie Brogus stark nuschelnd, denn sein eigener Mund war in diesem Moment gefüllt mit Rindfleisch. »Ich sag dir, wie der wahre Deal ging: Damals in den Achtzigern wollte die Sister den Brother ganz für sich allein haben. Sie hatte es auf ihn abgesehen, aber er hat sie überhaupt nicht wahrgenommen. Und als er dann diese fette weiße Tussi heiratete anstatt der hübschen kleinen Anita, konnte die hübsche kleine Anita das nicht verkraften. Sie wollte sich rächen. Wenn sie den schwarzen Alphamann schon nicht für sich allein haben konnte, würde sie ihn in der Öffentlichkeit unmöglich machen. Siehst du das denn nicht? Das war bloß die Retourkutsche für seine Zurückweisung! Aber die Mächte des Guten – die in Amerika letztlich immer siegen – triumphierten über das Böse!«
Brogus vertilgte ein Steak von der Größe meines Fußes und servierte mir gleichzeitig seinen Kommentar zur Affäre Clarence Thomas/Anita Hill. Das war Mitte Oktober 1991 und Thomas war gerade als Richter im Obersten Gericht bestätigt worden, mit der knappsten Senatsmehrheit seit dem Bürgerkrieg. Ein paar Tage nach meinem Trennungsgespräch mit Seeräuber-Jenny waren Penelope und ich Teil der großen Anzahl amerikanischer Bürger, die sich ansahen, wie Anita Hill vor den vierzehn weißen Männern des Rechtsausschusses des Senats aussagte. Sensationslüstern schauten wir zu, wie Hill von den anzüglichen Sprüchen berichtete, die Thomas hinter ihrem Rücken von sich gegeben hatte: seine Tagträume über den Pornostar Long Dong Silver, sein Gerede von Schamhaaren, die an seiner Coladose klebten. Während Hill ihre Aussage machte, redete Penelope auf das Fernsehgerät ein, feuerte sie an: »Na los doch, Mädchen, jetzt komm endlich zum Punkt. Was hat er mit dir gemacht?«
Aber Anita hatte keine weiteren Anschuldigungen vorzubringen.
»Er hat die Schlampe nicht mal angefasst!«, rief Brogus aus und ein kleines Stück Sirloin-Steak flog aus seinem Mund. »Er hat ein paar Witze gemacht! Was ist schon dabei!«
Wir saßen in einer Nische im Meat Locker, einem Steakhouse aus Fachwerk und Ziegeln, das ein paar Meilen entfernt vom Campus am Highway lag. Es war das dritte Mal innerhalb von vier Wochen, dass ich mit Reggie Brogus dort zu Mittag aß – es fühlte sich fast schon wie ein Ritual an.
»Nun ja«, sagte ich und legte zwischen zwei Bissen von meinem Jumbo-Grillburger eine Pause ein, »Thomas war Gleichstellungsbeauftragter. In dieser Funktion sollte er eigentlich die Regeln in Bezug auf sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz durchsetzen, nicht brechen.«
»Wir befinden uns im Krieg«, sagte Brogus, ohne auf meinen Einwurf einzugehen. »Darum geht es in dem Buch, das ich gerade schreibe. ›The New Abolition‹ handelt von diesem ideologischen Schlachtfeld. In unseren Herzen und Köpfen. Vom Krieg der Ideen. Die altbackene amerikanische Linke versuchte Clarence Thomas zu verhindern und ist gescheitert! Die Leute können ihn verhöhnen. Sie können ihm aus dem Weg gehen, seinen Namen in den Dreck ziehen, ihm ins Gesicht spucken. Aber mein Mann sitzt im Obersten Gericht der Vereinigten Staaten von Amerika bis an sein Lebensende! Nur ein einziger Negro sitzt in dieser Institution und erzählt den acht weißen Typen dort, die darüber entscheiden, was Recht und Gesetz ist in diesem Land, was man von den Schwarzen in diesem Land zu halten hat, und dieser Negro wird Clarence Thomas sein – für lange Zeit, so Gott will!«
Reginald T. Brogus war an einem Nachmittag im September unvermittelt in meinem Büro erschienen und hatte erklärt, wir hätten gemeinsame Freunde in New York (an deren Namen er sich allerdings nicht erinnern konnte), merkte an, Dekan Shamberg hätte in den höchsten Tönen von mir gesprochen, und lud mich zum Essen ein. Als ich an diesem windigen Nachmittag in Brogus’ orangen BMW einstieg, hoffte ich, dass niemand von den anderen schwarzen Dozenten – vor allem nicht Kwanzi Authentica Parker – mich mit diesem Paria des Afrikamerika-Instituts sah. Ich war froh, dass er ein Restaurant außerhalb des Campus vorschlug, wo die Chancen, dass man uns zusammen sah, gering waren. Ich hätte es niemals gewagt, gegen die inoffizielle Ächtung von Brogus zu verstoßen und ihn zum Mittagessen eingeladen. Aber ich war immer noch viel zu beeindruckt von dem Antihelden meiner Jugend, um seine Einladung abzulehnen.
»Mit dir kann ich reden«, sagte Brogus, nachdem er mich gerade mal eine Viertelstunde kannte. »Ich stelle fest, dass du ein hochintelligenter junger Mann bist. Wenn ich Typen wie dich sehe, mache ich mir um die Zukunft der Schwarzen keine Sorgen.«
Auch wenn ich den aktuellen Reggie Brogus für einen rechtsradikalen Clown hielt, brachte ich ihm widerstrebend eine gewisse Achtung entgegen. Weil er ein viel aufregenderes Leben hinter sich hatte, als es mir jemals beschieden wäre. Er war ein Mann der Extreme. Jemand, der eingesteckt hatte. Jemand, der sich positioniert hatte. Während meiner Reporterlaufbahn war ich einer Handvoll Berühmtheiten vom Schlag eines Reggie Brogus begegnet, die so verstrahlt waren vom Glauben an ihre Einzigartigkeit und ihre schicksalhafte Bestimmung, dass man – selbst wenn man diese Einschätzung nicht teilte – unweigerlich beeindruckt war von ihrem gigantischen Selbstvertrauen. Während unserer Mittagessen musste ich immer wieder dem Drang widerstehen, ihn zu interviewen, ihn mit Fragen zu bedrängen. Es war besser, ihn einfach reden zu lassen.
»Weißt du, Clarence hat etwas erkannt, was wir übrigen Negroes erst noch lernen müssen: Dass nur wenige von uns in jene höheren Regionen vordringen werden, nach denen wir streben sollten. Für die wir die richtige Einstellung haben sollten!«
Reggie nahm einen großen Schluck aus seinem eiskalten beschlagenen Bierkrug. Er hatte sich eine rot-weiß karierte Serviette in den Kragen gesteckt, um Hemd, Krawatte und Hosenträger vor Saucenspritzern zu schützen. Er stellte den Bierkrug ab und tupfte sich mit dem karierten Tuch die Lippen ab. Dann spießte er ein weiteres blutiges, saucentriefendes Stück Fleisch mit der Gabel auf, schob es in den Mund und redete kauend weiter.
»Stell dir mal vor, du bist für ein hohes Amt auf Lebenszeit vorgesehen, und dann will so eine beknackte Schlampe das verhindern, bloß weil du ihr ein paar schmutzige Witze erzählt hast. Eine erwachsene schwarze Frau. Eine Schlampe, die du nicht mal gevögelt hast! Die du nicht mal vögeln wolltest!«
Ich erinnerte mich an das, was Jenny bei unserem letzten Treffen gesagt hatte, in diesem fast schon verächtlichen Tonfall, in dem sie sich über meine kaum verhohlene Angst lustig gemacht hatte: »Ich würde dich niemals melden.«
»Sie hätte bloß ihren Mund halten müssen. Scheiße, Clarence wäre ihr womöglich dankbar gewesen und hätte ihr den Weg in irgendwelche eichenholzvertäfelten Räume eröffnet, wo er jetzt herumhängt, in diese abgeschotteten Enklaven, wo die wahre Macht zu Hause ist. Stattdessen versucht diese Tussi, seine Karriere zu ruinieren, indem sie irgendwelche alten Geschichten hervorkramt, um die Weißen damit zu erschrecken. Nur aus typisch weiblicher Eifersucht! Aber du siehst ja, wer jetzt in der Kammer des Obersten Gerichts sitzt und wessen Karriere total den Bach runtergegangen ist – Anitas nämlich. Es ist das passiert, wovor mich meine Mutter immer gewarnt hat: Wenn du in der Scheiße herumstocherst, fängt es an zu stinken!«
Reginald T. Brogus zitierte gern seine Mutter. Sie war Angestellte bei der Post gewesen – »einer der wenigen wirklich notwendigen staatlichen Jobs«, wie er gerne sagte – in Slackerton, Michigan. Reggies Vater – laut Aussage seines Sohns »ein typischer Taugenichts« – wurde drei Wochen vor Reggies Geburt im November 1942 bei einer Messerstecherei getötet. Bethel Brogus war eine taffe alleinerziehende Mutter, die schon mal den Gürtel zur Hilfe nahm, und offenbar die einzige Person, die er wirklich liebte. Sie war jetzt in Rente und lebte irgendwo im Süden, wo sie »Tabak kaut und Oprah Winfrey guckt«, wie er sie liebevoll beschrieb.
Brogus sprach viel über seine Kindheit und neigte dabei zu einer gewissen Ghettoromantik. »Ja, klar, wir lebten in der raueren Gegend des schwarzen Viertels, aber wir waren nie arm. Wir waren Arbeiterklasse. Verstehst du? Wir arbeiteten. Und alle Schwarzen um uns herum arbeiteten ebenfalls! Im Postamt, am Fließband, bei der Müllabfuhr. Die Leute arbeiteten, Mann. Sie hatten Ehre im Leib! Menschliche Würde! Also, ich will ja deine Familie nicht runtermachen, Clay, aber deine Eltern waren Akademiker, die gehörten nicht zur Arbeiterklasse. Sie hatten wichtige Berufe. Meine Mutter hatte bloß Arbeit!«
Stickball, Barbecues am 4. Juli, bescheidene Geschenke an Weihnachten: Brogus liebte es, sich in Kindheitserinnerungen zu ergehen. Und er schwärmte von den Zeiten, in denen wir nun lebten, und der sonnigen Zukunft der globalen Märkte und der technologischen Wunder. Er ging auf die fünfzig zu und sagte: »Es wird Zeit, Bilanz zu ziehen.« Aber er reagierte sehr zurückhaltend, wenn ich ihn auf die einzige Periode seines Lebens ansprach, die mich interessierte. Wie war aus dem fröhlichen, wohlerzogenen Arbeiterbengel aus Shackerton ein gewaltbereiter Aktivist geworden, und wie hatte er sich anschließend in diesen reaktionären Schurken verwandelt, der mir jetzt fleischkauend am Tisch gegenübersaß? Was war in der Zeit zwischen dem Stickball und dem Golfball passiert? Wie war ihm der Übergang gelungen von dem militanten Revoluzzer, der 1969 Molotowcocktails auf die New Yorker Börse geworfen hatte, zu dem Konservativen, der 1991 im Century Club an seinem Gin Tonic nippte? Ja, er hatte in seinem zweiten Buch An American Salvation darüber berichtet, aber die Texte in dieser Essaysammlung, die ich gelesen hatte, bevor ich das Buch quer durchs Zimmer in die Ecke warf, waren diesbezüglich merkwürdig unkonkret. Während LIVE BLACK OR DIE! in der Tat ein nihilistischer Proto-Rap gewesen war, stellte An American Salvation auch rhetorisch sein absolutes Gegenteil dar: ein endloser Sermon zum Lob konservativer Werte. Nur fehlte der Teil, der den emotionalen Prozess beschrieb, den der Autor während seiner politischen Wandlung durchgemacht hatte. Ich fragte mich, ob Brogus für sich selbst ein genauso großes Rätsel darstellte wie für mich.
Ab und zu machte er eine Anspielung bezüglich seiner revolutionären Vergangenheit, die mich aufhorchen ließ. »Also, ich sagte: ›Oigame, Fidel! Du nutzt all diese wunderbaren Strände überhaupt nicht! Du solltest die Kasinos wiedereröffnen! Havanna könnte das Las Vegas der Karibik werden. Aber du weigerst dich. Besiege die imperialistischen Dreckskerle auf ihrem eigenen Spielfeld! Du könntest der erste kapitalistisch-kommunistische Diktator werden!‹ Das war 1975. Hat er auf mich gehört? Nein, hat er nicht. Er lachte nur und paffte seine verdammte Zigarre.«
Die meiste Zeit aber ließ Brogus die Namen von TV- oder Radio-Moderatoren fallen, die er kannte, von Autoren und Kommentatoren, Politikern und PR-Experten, aktuellen oder früheren Diplomaten, wichtigen Personen aus dem Presse- oder Verlagswesen oder führenden Vertretern irgendwelcher Thinktanks: Angehörige des New Yorker und Washingtoner Medienklüngels. Reggie gehörte dazu und wollte, dass ich es wusste.
»Früher glaubte ich, wie viele andere Irregeleitete, dass die Macht aus den Gewehrläufen kommt. Aber heute weiß ich, dass sie durch die Linsen der TV-Kameras geht. Mit einem Auftritt in der Huck-Blossom-Show erreiche ich mehr Menschen als damals, als ich meine Knarre schwenkte und ›Killt die Weißen!‹ brüllte.«
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts glaubte der große afroamerikanische Intellektuelle W. E. B. Du Bois, dass ein Talentiertes Zehntel der Schwarzen als Anführer, soziale Pioniere und Vorbilder für die übrigen dienen könnte. Jetzt, gegen Ende des Jahrhunderts, glaubte Reginald T. Brogus, dass Du Bois’ Zahl viel zu hoch gegriffen war.
»Es handelt sich eher um die Talentierten Zehn!«, behauptete er. »Wenn man von echter Macht spricht, nicht von Erfolg im Sport oder im Unterhaltungsgeschäft – ich meine hier nicht die Macht eines Michael Jordan, sondern eines Vernon Jordan, nicht die Macht eines Michael Jackson, sondern eines Colin Powell –, dann sprechen wir von gerade mal zehn Schwarzen, die sie zu einem gegebenen Zeitpunkt haben. Clarence Thomas gehört jetzt zu dieser Elite.«
Reggie spießte das letzte knorpelige Fettstück auf, schob es in den Mund und spülte es mit seinem Bier hinunter. Die meisten Mittagsgäste im Meat Locker waren bereits gegangen. Reggie starrte mich mit seinen Froschaugen an und schwieg. Ich fing gerade an, nervös zu werden, als er sagte: »Glaubst du, du könntest einer von diesen Zehn sein?«
»Ich? Soll das ein Witz sein?«
»Ach komm, ich weiß, dass du als Journalist Scheiße gebaut hast. Aber jetzt kannst du dich als Akademiker neu erfinden! Wieso, glaubst du, verbringe ich ein Jahr hier in diesem beschissenen Ohio? Diese Gastprofessur fördert mein Ansehen als Intellektueller. Für medienaffine schwarze Akademiker gibt es heutzutage keine Grenzen. Schau dich doch an: Du siehst gut aus, kannst dich perfekt ausdrücken. Die Weißen werden dich lieben, Clay. Du weißt, wie man sie nehmen muss. Bei dir fühlen sie sich gut aufgehoben. Viele Weiße haben immer noch Angst vor mir, wegen meiner verrückten militanten Vergangenheit. Das muss ich ihnen noch vermitteln. Dass ich sogar damals in den Sechzigern und Siebzigern nur dem Land dienen wollte, das ich liebe.«
Reggie starrte mich immer noch an, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich verstand nicht, was er mit diesem letzten Satz meinte.
»Aber du, Clay, du bist jung, du musst diesen Ballast nicht mit dir herumschleppen. Du solltest bei diesem Afram-Projekt mitmachen. Verdammt, Mann, du könntest sogar der Leiter der ganzen Abteilung werden. Anstelle von Kwanzi, diesem wandelnden, quasselnden Anachronismus! Anschließend nutzt du deinen Titel, um wieder für Zeitschriften zu schreiben und dein hübsches Gesicht im Fernsehen zu zeigen. Ich kann dich einigen wichtigen Leuten vorstellen, wenn du das nächste Mal in New York bist. Ich kann dir Kontakte verschaffen, Bruder. Und das meine ich ernst. Ich glaube, du hast das Potenzial, einer von den Zehn zu sein.«
Ich lachte. »Was ist, wenn ich das gar nicht sein will?«
»Wie bitte?«
Reggie schaute mich schief an und runzelte die Stirn. Anscheinend hatte ich ihn beleidigt. Ich suchte nach den richtigen Worten, um zu erklären, was ich meinte.
»Ich meine, ich dachte immer, dass schwarze Schriftsteller oder Intellektuelle, wenn dir das lieber ist, dazu da sind, das Establishment herauszufordern.«
»Das Establishment herauszufordern?«, wiederholte Brogus ungläubig. »Wieso zum Teufel willst du das Establishment herausfordern, wenn du Teil des Establishments sein kannst? Verdammt, Clay, ich dachte, du hättest Grips im Kopf! Jetzt erzähl mir bloß nicht, dass du auch einer von diesen bourgeoisen Heuchlern bist! Ich weiß, dass du dich selbst gern als Linker siehst, aber du musst dich deswegen doch nicht lächerlich machen! Was genau tust du denn bitte am Establishment, um das Establishment herauszufordern, du Vorort-Eigenheimbesitzer?«
Jetzt hatte er mich in Verlegenheit gebracht. »Nicht viel, denke ich.«
»Pah! Rein gar nichts, das trifft’s wohl eher!«
Reggie griff mich an, aber irgendwie war es mir egal. Ich konnte mich mit seiner Hasstirade sogar ein bisschen identifizieren. Er hatte ja recht: Ich hatte noch nie in meinem Leben für oder gegen etwas gekämpft. Ich hatte nie für irgendeine Sache den Kopf hingehalten. Ich konnte nicht mal behaupten, ein besonders guter Staatsbürger zu sein. Ich hatte kein Ehrenamt inne, spendete nur wenig für wohltätige Zwecke. Ich ging regelmäßig zur Wahl und gab meine Stimme immer den Demokraten. Ich achtete die Gesetze. Ich kümmerte mich um meine Familie. Das war alles. Trotzdem meinte Reggie Brogus, etwas Besonderes in mir zu sehen. Vielleicht hatte er sogar recht. Vielleicht hatte ich wirklich das Talent, einer dieser Zehn zu sein. Vielleicht, dachte ich, sollte ich Reggie Brogus nicht so ablehnend begegnen. Immerhin schien er gute Verbindungen zu haben. Und er streckte seine Fühler nicht nur in eine Richtung aus, war nicht auf Rechtsaußen festgelegt. Wäre es denn eine große Sache für ihn, wenn er mich einigen Freunden vorstellen würde? Vielleicht sollten wir ihn mal zum Abendessen einladen?
»Du solltest das Beste aus dem machen, was Gott dir geschenkt hat, Clay.« Reggie klang jetzt weniger tadelnd als fürsorglich. »Das schuldest du dir selbst. Und deinen Leuten. Allen Amerikanern. Es wurde schon viel über die Macht von Ideen gesprochen. Als Sprachrohr für die richtigen Ideen könntest du dir ein ungeahntes Machtpotenzial verschaffen.« Reggie grinste. »Und die ganzen Mösen, die mit der Macht einhergehen.« Reggie leckte sich die Lippen. Dann wischte er sie sich mit der fleckigen und fettigen karierten Serviette ab. »Du glaubst ja nicht, wie viele Mösen ich hatte in den sieben Jahren, seit ich An American Salvation veröffentlicht habe und eine bekannte Medienpersönlichkeit geworden bin. Mann, in der Woche nach meinem ersten Auftritt in der Larry-King-Show haben sich mehr weiße Mädels an mich rangeschmissen als im gesamten Sommer der Liebe 1967! Berühmt zu sein, ist das ultimative Aphrodisiakum. Ich sag’s dir, Mann, eins muss ich zum Lob der guten alten Feministinnen von früher sagen: Fast jede amerikanische Frau heutzutage geht gern auf die Knie! Ich bin alt genug, um mich noch an die Zeiten zu erinnern, als man eine Tussi förmlich anbetteln musste, damit sie einem den Schwanz lutscht. Und die Schwarzen waren am schlimmsten!« Reggie wechselte plötzlich in einen schrillen hohen Tonfall: »›Nigga, bist du krank, ey? Ich steck mir doch nicht dieses Ding in den Mund!‹«
Er sprach weiter in seinem normalen Bariton: »Aber heute knien sie sich alle hin. Trotzdem gibt es immer noch einen großen Unterschied zwischen den schwarzen und den weißen Mädchen. Und ich wette, du weißt, was ich meine.«
Reggie machte eine Pause. Ich lachte und zuckte mit den Schultern. »Ich bin schon lange verheiratet«, sagte ich. »Da musst du mir auf die Sprünge helfen.«
Brogus beugte sich über den Tisch, schaute kurz nach rechts und links, als wollte er sichergehen, dass niemand in dem fast leeren Lokal zuhörte – dann starrte er mich aus seinen Froschaugen an und sagte: »Die weißen Mädchen schlucken es runter.«
* * *
Ich erkannte sie sofort. Sie hatte einen riesigen Afro und sehr dunkle Haut. Sie trug einen schwarzen Rollkragenpullover, schwarze Jeans und Boots und eine Tarnjacke. An einem Gurt um den Hals hing ein Maschinengewehr und ein goldener Ring glitzerte in ihrem linken Nasenloch. Ihre schrägen grünen Augen lachten. »Hallo, Jenny«, sagte ich.
Sie tat so, als wäre sie enttäuscht. »Wie hast du gemerkt, dass ich es bin?«
»Wer sonst sollte denn an einem Mittwochabend um halb acht in mein Büro kommen?«
Es war Halloween. Ich hatte Seeräuber-Jenny seit drei Wochen nicht gesehen. Die beiden vorherigen Mittwochabende hatte ich mein Büro gemieden aus Angst, sie könnte auftauchen und mir eine Szene machen. Meiner Frau gegenüber tat ich trotzdem so, als würde ich in diesen zwei Wochen meine regulären Tutortermine einhalten, und nutzte die Zeit zwischen 18:45 und 20:15 Uhr als Zeitfenster für private Unternehmungen. Ich fuhr ins Meat Locker, setzte mich an die Bar, las ein Buch und trank ein Bier, oder drei. Aber am 30. Oktober 1991 ging ich in mein Büro im weißen Gebäude des Anglistikinstituts, setzte mich an den Schreibtisch und wartete. Vor mir selbst tat ich so, als würde ich an meinem Drehbuchprojekt arbeiten. Oder liegengebliebene Klausuren durchsehen. Aber in Wahrheit wartete ich. Ich wartete nicht direkt auf Jenny, sondern wartete ab, ob sie wirklich kommen würde oder nicht. Ihr Kommen würde genauso viel Aussagekraft haben wie ihr Nicht-Kommen. Kam sie nicht, würde das bedeuten, dass sie verstanden hatte – was ich sehr hoffte –, dass wir unsere sexuelle Beziehung nicht aufrechterhalten konnten. Was es jedoch bedeutete, wenn sie kam, war nicht so leicht zu entschlüsseln. Aber ich wollte es herausfinden. Mich zu dieser Abendstunde ins Büro zu setzen war ein Akt kalkulierten Leichtsinns. Ich hatte den moralischen Anforderungen des vereinfachten Gandhi-Tests schon nicht genügt. Und ich wusste – jedenfalls dachte ich das tatsächlich –, ich würde mich keinesfalls auf eine weitere sexuelle Beziehung mit Jenny einlassen, wie stark die Anziehungskraft zwischen uns auch immer noch sein mochte. Vielleicht fehlte sie mir ja einfach, vielleicht fehlte es mir, mit ihr zu reden. Vielleicht fehlte mir ihre Aufmerksamkeit, das großartige Selbstwertgefühl, das damit einherging. Und so saß ich also seit einer halben Stunde in meinem Büro und wartete. Mir kam es genauso wahrscheinlich wie unwahrscheinlich vor, dass sie tatsächlich durch die Tür kommen würde. Aber dass sie im Aufzug einer militanten schwarzen Aktivistin aufkreuzen würde, hätte ich niemals erwartet.
Jenny hob die Faust zum Gruß. »Power to the People!«
»Hoffentlich ist das keine Schuhcreme in deinem Gesicht«, sagte ich. »Ich war noch nie ein Fan von Minstrel Shows.«
Jenny ließ enttäuscht den Arm herabfallen. »Du hast gar keinen Sinn für Humor!« Sie schloss die Tür und ließ sich aufs Sofa fallen. »Ich war eine Woche lang in Johannesburg bei meinem Vater, der dort ist, um den Abbau der Apartheid zu beschleunigen oder auch zu verlangsamen, ich hab keine Ahnung, und ich werde nun mal sehr schnell braun.« Sie schüttelte den Kopf und ihr Afro wackelte hin und her. »Ich dachte, ich würde dir so gefallen.«
»Ich weiß nicht. Das wirkt ein bisschen so wie bei den weißen Typen mit Glatze. Oder weißen Mädchen mit Dreadlocks.«
»Ja, aber heute Abend gehe ich als Schwarze durch.« Jenny kicherte. »Drei schwarze Studenten – alles Unbekannte – haben mir in der letzten halben Stunde zugewinkt und Hallo gesagt, kannst du dir das vorstellen? Sowas ist mir noch nie passiert!«
»Endlich akzeptiert.«
»Ich dachte, du würdest mich jetzt akzeptieren.«
»Warum?«
Seeräuber-Jenny legte die MG-Attrappe beiseite, zog die Tarnjacke aus und eine Packung Nelkenzigaretten aus einer der Jackentaschen. Ich reichte ihr den kleinen schwarzen Plastikaschenbecher, den ich nach unserem ersten Treffen gekauft hatte. »Weißt du, ich habe mich gefragt, ob Amerika in vielerlei Hinsicht nicht das genaue Gegenteil von Deutschland ist. In Deutschland ist alles verboten – bis auf das, was erlaubt ist. In Amerika ist alles erlaubt – bis auf das, was verboten ist. Es gibt in diesem Land so viele ungeschriebene Gesetze. Und es scheint, als wären die ungeschriebenen viel strenger.«
»Ich weiß nicht, ob ich dir folgen kann.«
»Vielleicht ist es Ihnen, Professor Robinette, ja durchaus erlaubt, Affären mit schwarzen Studentinnen zu haben, aber es ist Ihnen verboten, eine Affäre mit einer weißen Studentin zu haben.«
Ich sah zu, wie sie sich eine Zigarette anzündete, einen tiefen Zug nahm und theatralisch den Rauch ausstieß. In ihrer Halloween-Verkleidung fand ich sie gleichermaßen lächerlich wie erotisch.
»Ich glaube, du solltest Amerika besser kennenlernen«, sagte ich. »Eine Affäre mit einer Studentin, egal welcher Hautfarbe, ist generell verboten.«
»Aber Beziehungen von Menschen verschiedener Hautfarbe sind besonders tabu. Es wird nur ständig das Gegenteil behauptet.«
»Das ist falsch. Schau dir doch diesen Campus an. Schau dir das Afram-Programm an. Xavier Lumbaki ist mit einer Weißen verheiratet. Einer Französin jedenfalls.«
»Ja, und das wird ihm, wenn auch unausgesprochen, übelgenommen.«
»Wird es das?«
»Wusstest du das denn nicht?«, sagte Jenny mit diesem Wo-bist-du-denn-die-ganze-Zeit-gewesen-Unterton.
»Na schön, aber niemand nimmt Kwanzi Authentica Parker etwas übel«, sagte ich. »Obwohl sie mit einem Weißen verheiratet ist. Einem Weißen, der weißer ist als weiß. Einem Engländer.«
»Ja, aber Kwanzi verachtet weiße Frauen.«
»Wie kommt es, dass du das alles weißt?«
»Wie kommt es, dass du das alles nicht weißt?«
Jetzt ging sie mir auf die Nerven. »Viel Spaß noch an Halloween«, sagte ich.
Seeräuber-Jenny drückte ihre Zigarette im Aschenbecher aus. Dann stand sie langsam auf und kam um den Schreibtisch herum. Ich blieb sitzen. Sie blieb dicht vor mir stehen, ihre Brüste unter dem schwarzen Pulli direkt auf Höhe meiner Augen. »Süßes oder Saures«, sagte sie.
»Saures.«
Sie kniete sich hin.
Ich hörte nur noch mein eigenes Stöhnen. Das Geräusch der Tür im Erdgeschoss, die auf- und zuging, die schweren Schritte auf dem Teppichboden im Flur vor meinem Büro nahm ich jenseits meines eigenen immer schneller werdenden Stöhnens kaum wahr. Ich war völlig weggetreten, meine Hose lag um meine Knöchel, mein Körper zuckte, schwamm in ihrem Mund, ihre Afroperücke in meinen Händen, die Augen weit aufgerissen, starrte ich zur geschlossenen Tür meines Büros. War einer meiner Kollegen vorbeigekommen, um noch ein paar Klausuren zu korrigieren, ein Drehbuch zu schreiben oder eine vergessene Aktenmappe zu holen? Eine Welle in mir brandete auf, bereit zu brechen, als ich den bekannten Bariton draußen im Korridor hörte.
»He, Clay!«
Die Bürotür schwang auf und Reggie Brogus trat ein. Ich schloss sofort die Augen.
»Oh, Scheiße«, hörte ich Reggie sagen. »Entschuldigung.«
Die Tür schlug zu. Unter meinen fest zusammengekniffenen Augen zuckten Lichtblitze, meine Adern schwollen an und ich spürte, wie das Leben aus mir herauspulsierte hinein in einen warmen, weichen Schlund.
* * *
»Nennt mich einfach Onkel Reggie«, rief Brogus fröhlich aus, während er auf jedem seiner breiten, kissenartigen Oberschenkel eine meiner Töchter schaukelte wie ein gut gelaunter Nikolaus im frühen November. Amber und Ashley kreischten vor Begeisterung. Wer hätte gedacht, dass Reginald T. Brogus so gut mit Kindern umgehen konnte? Vom ersten Moment an, als er durch die Tür kam, hatte er die Zwillinge betört mit seinen lustigen Zaubertricks, Grimassen und Scherzen. Keine zweiundsiebzig Stunden nachdem er hereingeplatzt war, als Seeräuber-Jenny vor mir kniete, war Brogus am Samstag bei uns zum Abendessen zu Gast. Und schon nach dreißig Minuten mit lautem Kichern und Lachen forderte er meine Töchter auf, ihn so zu behandeln, als wäre er mein Bruder.
Es hatte mich viel Überredungskunst und einigen Kuhhandel gekostet, um Penelope dazu zu bringen, Reggie bei uns zu Hause zu empfangen. Sie hatte schließlich zugestimmt, als ich mich im Gegenzug bereit erklärte, sie zu einer geschäftlichen Zusammenkunft zu begleiten, die schmerzhaft langweilig zu werden versprach, und Xavier und Aurore Lumbaki zum Abendessen mit Brogus miteinzuladen. Penelope fürchtete, von ihm dermaßen angewidert zu sein, dass es ihr unmöglich wäre, sich mit ihm zu unterhalten. Sie überlegte sogar, die Zwillinge vor ihm und seinem möglicherweise unheilvollen Einfluss zu schützen, indem sie sie über Nacht zu Mrs. Henderson schickte. Aber als unsere Töchter mitbekamen, dass ihre Mutter Spaghetti carbonara kochen würde, ihr Lieblingsgericht, verlangten sie, beim Abendessen dabei zu sein.
Ich hatte Xavier am Mittwoch gegen 18 Uhr angerufen, eine Stunde bevor ich in meinem Büro ankam, um auf Seeräuber-Jenny zu warten. Er sagte, Aurore und er würden am Samstag sehr gerne zum Abendessen zu uns kommen. Ich rief bei Reggie an und hinterließ eine Nachricht auf seinem Anrufbeantworter. Eineinhalb Stunden später platzte er in mein Büro und trat sofort wieder den Rückzug an. Was hatte er gesehen? Mich natürlich, wie ich mich in meinem Bürosessel hin- und herwarf. Aber was hatte er von Jenny gesehen? Wahrscheinlich nur den Afro, der sich hinter meinem Schreibtisch hob und senkte. Als ich nach meiner Zusammenkunft mit Jenny nach Hause kam, teilte Pen mir mit, Brogus hätte angerufen und gesagt, er würde sehr gerne zum Abendessen kommen. Er hatte nach mir gefragt. Sie hatte ihm erklärt, ich sei noch an der Uni. Er sagte, er würde vorbeischauen.
»War er da?«, fragte sie.
Ich musste im Bruchteil einer Sekunde entscheiden, ob ich meiner Frau die Wahrheit sagen oder sie anlügen wollte.
»Nein«, sagte ich.
Ich hörte nichts mehr von Brogus, bis er am Samstag pünktlich um 18 Uhr vor unserer Tür stand. Ich hatte überlegt, ob ich ihn anrufen sollte – um ihm was zu sagen? Erzähl bitte meiner Frau nichts davon, dass du mich dabei ertappt hast, wie ich mir im Büro einen blasen ließ? Ihn zum Komplizen meiner Lüge machen, ihn bitten es zu vergessen, zu sagen, er sei gar nicht in meinem Büro gewesen? Ich entschied, nichts zu tun, abzuwarten, wie Reggie sich beim Abendessen verhalten würde. Xavier und Aurore sagten am späten Samstagnachmittag ab mit der Begründung, ihre Tochter Nathalie hätte Fieber bekommen. Das nahm Penelope jede Lust auf Gastfreundschaft, als Brogus eintraf. Die Weinflasche und der Blumenstrauß, die unser Gast überreichte, änderten nichts an ihrer frostigen Stimmung. Als er sich dann ohne Umschweife mit den Zwillingen anfreundete, war sie noch schlechter gelaunt. Was sein Benehmen mir gegenüber betraf, so fragte ich mich, ob ich mich täuschte, glaubte es aber nicht: Reggie Brogus trat mir deutlich respektvoller gegenüber, warf mir heimliche, anspielungsreiche Blicke zu, voller Bewunderung. Während des Abendessens erklärte er meinen Töchtern, was für ein kultivierter und intelligenter Mann ihr Vater sei. Zu Penelope sagte er, er hätte in den vergangenen Wochen eine Menge von mir gelernt: Wie man sich an der Arden University zurechtfand, über die Anliegen unserer Generation, über die einzigartigen Vorzüge eines Familienlebens heutzutage. Ich hatte keinen blassen Schimmer, worauf er damit anspielte, aber es war klar, dass seine Achtung vor mir gestiegen war. Ich fühlte mich stolz und schuldig zugleich.
Wir waren bereits bei der Schokoladen-Schichttorte angelangt, die ich für den Nachtisch gekauft hatte, als Ashley fragte: »Hast du Kinder, Onkel Reggie?«
»Nein, das Glück blieb mir bislang verwehrt«, sagte Brogus.
»Warst du mal verheiratet?«, wollte Amber wissen.
»Nein.«
»Warum nicht?«
Das traf ihn unvorbereitet. »Du bist ein ganz schön neugieriges kleines Mädchen, was?«
Amber starrte ihn an.
»Nun ja«, sagte Reggie unbeholfen. »Ich bin sehr viel gereist in meinem Leben, was nicht gerade förderlich ist für … nicht gerade gut ist für ein Familienleben. Und ich habe nie die richtige Frau kennengelernt. Das ist mein Pech. Ich habe nie eine Frau gefunden, die es mit meiner Mutter aufnehmen konnte.«
Ich schaute über den Tisch zu Penelope, die demonstrativ mit den Augen rollte, um zu signalisieren: Also jetzt ist es aber mal genug. Und Reggie war schon eifrig dabei, ein Loblied auf seine Mom zu singen, als sie ihn im Tonfall eines sarkastischen Untersuchungsrichters unterbrach: »Wann hast du deine Mom denn das letzte Mal gesehen?«
Reggie sprach weiterhin mehr zu den Zwillingen als zu mir oder Pen: »Zuletzt habe ich meine Mutter im Februar gesehen. Sie war nach Washington gekommen, um dabei zu sein, als ich von der ›Stiftung für amerikanische Tugenden‹ zum Bürger des Jahres ernannt wurde.« Jetzt schien er sich in Erinnerungen zu verlieren. »Meine Mutter und ich waren die einzigen Schwarzen beim Festbankett. Wir saßen am selben Tisch wie die wichtigsten Professoren der Harvard University und der Chefredakteur der New York Times Book Review!« Reggie hielt inne, damit wir alle die Bedeutung dessen, was er uns beschrieb, ermessen konnten. Die Zwillinge hingen an den Lippen ihres neuen »Onkels«. Reggie fuhr fort, voller Bewunderung für sich selbst. »Stellt euch das mal vor! Da saß ich, der kleine schwarze Junge aus Slackerton, Michigan, mit meiner alten Mutter am Tisch mit diesen Leuten! … Ich kann euch sagen …« Reggie traten die Tränen in die Augen. »Ich hatte das Gefühl, endlich dort angekommen zu sein, wo ich … hingehörte. Man könnte auch sagen … ich war endlich jemand. Wirklich jemand. Und ich war so glücklich, dass meine Mom das miterleben durfte.«
Reggie kämpfte mit seinen Tränen. Ashley stand auf und griff nach einer Kleenexschachtel, die auf einem Regal stand und hielt sie Reggie hin. Er lächelte und zog ein Tuch aus der Box. Als Reggie seine Brille abgenommen hatte, um sich die Nase zu putzen, strich sie ihm tröstend über den Rücken. Ich schaute zu meiner Frau am anderen Ende des Tischs. Sie starrte Brogus mit zusammengekniffenen Augen an, eiskalt und voller Verachtung.
Wenig später, nach einem flüchtigen Händedruck von Penelope und weinerlich protestierender Verabschiedung durch die Zwillinge, stand Reggie mit mir in der Einfahrt und beklagte sich über den Ärger, den er ständig mit seinem in die Jahre gekommenen orangefarbenen BMW hatte. Dann senkte er die Stimme und sagte: »Du bist ein Wahnsinnstyp, Clay.«
Ich lächelte. »Ach was, das bist du doch, Reg.«
»Ach komm. Du bist derjenige, der alles im Griff hat. Häusliches Glück mit Frau und Kindern und …« Er starrte mich grinsend an und schüttelte den Kopf. »Aber ich war cool, oder? Beim Abendessen. Ich hab dich nicht verraten. Ich hab nichts angedeutet, oder?«
»Nein, hast du nicht.«
»Dein Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben, Bruder … Nur eins musst du mir noch verraten …« Brogus beugte sich vor und flüsterte: »Hat sie’s runtergeschluckt?«
Ich wusste immer noch nicht, was Brogus genau gesehen hatte. Glaubte er eine Weiße oder eine Schwarze gesehen zu haben, die mir hinter dem Schreibtisch einen geblasen hatte? Ich gab mich zurückhaltend, warf ihm einen schrägen Blick zu und sagte: »Was meinst du wohl?«
Brogus brach in lautes Gelächter aus. »Du bist ein WAHN-SINNSTYP, Clay!«
Ich lachte schwach. »Nacht, Reg.«
Er stieg in seinen Wagen, ließ das Seitenfenster herunter und steckte den Kopf heraus. »Vergiss nicht, Bruder … Du schuldest mir was!«
* * *
Mein Selbsthass brach ungefähr eine Woche nach Halloween aus. Natürlich hatte ich jeden weiteren Kontakt mit Jennifer Wolfshiem abgebrochen, nachdem Brogus uns in flagranti ertappt hatte. Am folgenden Mittwochabend ging ich nicht ins Büro. Ich blieb zu Hause und erzählte Penelope, mein Student hätte einen neuen Tutor gefunden, einen, der seinen akademischen Vorstellungen mehr entsprach. Ich ging sowohl Jenny als auch Reggie aus dem Weg und antwortete nicht auf ihre Nachrichten auf meinem Anrufbeantworter. Am Donnerstagabend ging ich ins Fitnesscenter und machte ein paar Übungen mit dem Stairmaster, und erst als ich zu Hause ankam, brach der Selbsthass über mich herein. Penelope begrüßte mich an der Tür mit diesem beunruhigten Blick, den sie aufsetzte, wenn es schlechte Neuigkeiten gab. »Magic Johnson hat Aids«, sagte sie.
Tatsächlich war der Star der Los Angeles Lakers lediglich positiv auf HIV getestet worden. Aber am 7. November 1991 war das so gut wie ein Todesurteil. Ich schaltete den Fernseher ein und schaute zu, wie Johnson seinen Rückzug aus der National Basketball Association erklärte. Seit dem Abschied des größten lebenden Amerikaners Julius Erving – auch bekannt als Dr. J – von den ’76ers meiner Heimatstadt Philadelphia war Earvin Johnson mein Lieblingsspieler gewesen. Er hatte fünfmal die Meisterschaft gewonnen, war kämpferisch, aber immer gut drauf und ein wahres Naturwunder (wer hatte jemals von einem 2,06 Meter großen Point Guard gehört?), das eine erstaunliche Kraft – man denke nur an diese punktgenauen Pässe über das ganze Spielfeld hinweg – mit einer atemberaubenden Leichtigkeit der Ballführung kombinierte, was ihm den Spitznamen Magic eingebracht hatte, und befand sich gerade auf der Höhe seiner spielerischen Fähigkeiten. Erst wenige Monate zuvor hatte er sein neuntes NBA-Finale in zwölf Jahren bestritten! Und nun stellte ich mir vor, wie er in einem Jahr wahrscheinlich in einem Rollstuhl durch das berühmte L.A.-Forum fahren würde, mit einer lila-goldenen Lakers-Cap auf seinem ausgemergelten Schädel, während die Presseleute Ohs und Ahs von sich gaben, wenn er ihnen das freundliche Lächeln eines Todgeweihten schenkte. Ich saß auf dem Sofa und kämpfte mit den Tränen, als ich an diesem Abend die Nachrichten anschaute. Magic sandte seine Grüße aus dem Nachbarstaat Michigan und die dortigen Medien trauerten um das Schicksal des Sohns der Stadt – obwohl er immer noch vor Gesundheit zu strotzen schien. Nachrufe wurden bereits verfasst. Magic war ein hoffnungsloser Fall. Er war außerdem der erste erwiesenermaßen heterosexuelle, nicht drogensüchtige männliche Prominente, den das Virus erwischt hatte. Ein Schwarzer in meinem Alter. Ein verheirateter Mann und Vater.
Erst da machte ich mir Gedanken darüber, dass ich beim Sex mit Jenny kein Kondom benutzt hatte. Der Gedanke, einen Gummi überzuziehen, war mir kurz in Jennys Schlafzimmer durch den Kopf geschossen, aber nicht, als sie sich im Büro vor mich hinkniete. Da ich meine Jugendjahre im Zwielicht der sexuellen Revolution verbracht hatte, hatte ich tatsächlich noch nie in meinem Leben so ein Ding benutzt. Aber ich hatte auch, bis zu der Sache mit Jenny, noch nie meine Frau betrogen.
Was für ein verdorbener Mistkerl ich doch war! Ich hatte das Leben von Penelope, der Mutter meiner Kinder, in Gefahr gebracht, nur um in den Genuss einer blutjungen Möse zu kommen. Am nächsten Morgen ging ich zum Gesundheitsdienst der Uni und machte unter möglichst diskreten Umständen einen Aids-Test. Ich bat den untersuchenden Arzt, das Ergebnis nicht per Post an mich zu schicken. Ich sagte, ich würde in einer Woche persönlich vorbeikommen. Ich hätte beinahe geweint vor Erleichterung, als das Ergebnis negativ war.
Trotzdem fragte ich mich, ob etwas mit mir ernsthaft nicht in Ordnung war. Welche abartige Veranlagung hatte mich in diese (selbst-)zerstörerischen Situationen viel zu nachlässig vertuschter Fehltritte getrieben? Ich zog eine Therapie in Betracht. Aber ich hatte gehört, dass die besten Psychologen in Arden alle der medizinischen Fakultät der Uni angehörten, und ich wollte nicht riskieren, meinem Therapeuten zu begegnen, wenn ich über den Campus schlenderte. Also strich ich die Sache mit Seeräuber-Jenny aus meinem Gedächtnis. Was mir gar nicht schwerfiel, denn sie war ja nur eine Randerscheinung meines Lebens. Trotzdem nahm ich mir die Zeit, mal in der Verwaltung vorbeizuschauen, um einen Blick in die Akte Wolfshiem zu werfen. Ich war sehr zufrieden zu sehen, dass vorne auf dem Umschlag des Ordners hinter dem Wort TUTOR der Name einer Frau stand, von der ich noch nie gehört hatte.
* * *
Wie Sie vielleicht inzwischen bemerkt haben, habe ich die Tendenz, besonders unangenehme Ereignisse in meinem Leben zu verdrängen. Vielleicht kennen Sie diese Eigenschaft auch von sich selbst. Vielleicht können Sie verstehen, warum ich, als ich fünf oder sechs Wochen nach meinem letzten Zusammentreffen mit Jenny ans Telefon ging, nicht mal ihre Stimme wiedererkannte. Ja, es muss Mitte Dezember gewesen sein. Sie wollte mich auf einen Kaffee treffen.
»In der Öffentlichkeit«, sagte sie. »Dann musst du keine Angst haben, dass ich mich auf dich stürze.«
Ich tat so, als würde mich das Ganze nichts angehen. Sogar als wir uns an dem kleinen runden Stuckmarmortisch im Café Bellafiglia gegenübersaßen, einem hübschen kleinen Lokal für Caffè latte und Cappuccino am University Boulevard, benahm ich mich, als wäre dieses Treffen ganz unwichtig, versuchte es zu vergessen, noch während es stattfand. Ich wollte nicht dort sein, wollte nicht mit ihr zusammen gesehen werden. Ich hatte nur zugestimmt, um sie zu besänftigen. Ich wollte nicht, dass eine möglicherweise psychisch labile Studentin, die ich gevögelt hatte, wütend auf mich war. »Verdammt«, dachte ich, als ich im grellen Licht des Cafés in ihre schrägen, smaragdgrünen Augen blickte und feststellte, dass ihre Südafrikabräune wieder ihrer typischen Blässe gewichen war, »sie ist nicht mal hübsch.«
Ich sage ihr, ich könne nicht lange bleiben. Es sei Samstagabend und ich müsse Weihnachtsgeschenke kaufen für meine Kinder.
»Okay«, sagt sie kleinlaut. Seeräuber-Jenny hat immer noch diesen verwegenen Blick, aber seit unserem letzten Zusammentreffen hat sie sich verändert. Ihre unverschämte Art ist verschwunden. Sie wirkt erschöpft, emotional ausgelaugt. Irgendwas ist mit ihr passiert. Ich weiß nicht was. Ich will es auch gar nicht wissen. Will nicht darüber nachdenken, dass ich der Grund für ihre schlechte Verfassung sein könnte. Nach fünf Minuten angestrengtem Smalltalk platzt sie heraus: »Ich muss die ganze Zeit an dich denken. Denkst du jemals an mich?«
In diesem Moment sehe ich zum ersten Mal die wahre Jenny, die verletzliche junge Frau, die von ihrer Mutter auf brutalste Art verlassen worden war. Ich möchte sie nicht verletzen, aber ich weiß, dass ich es tun muss.
»Nein, Jennifer, eigentlich nicht«, sage ich und füge entschuldigend hinzu: »Du weißt ja, wie voll meine Kurse sind und dass ich eine Familie habe. Ich habe viel zu viele andere Dinge im Kopf.«
Diese Erklärung scheint nicht bei ihr anzukommen. Sie lächelt mich nur traurig an. »Ich habe ein Geschenk für dich«, sagt sie. Ihre Stimme klingt fast schon schläfrig. Ich frage mich, ob sie Medikamente nimmt. Sie holt etwas aus ihrem schwarzen Rucksack und hält es mir hin.
Habe ich die schwarze Diskette ohne Beschriftung aus ihrer Hand entgegengenommen?
»Das ist mein Tagebuch der letzten Monate. Seit meiner Ankunft in Arden.«
Habe ich danach gegriffen, nachdem sie sie auf den Tisch gelegt hat?
»Ich möchte, dass du meine Geheimnisse kennst.«
Habe ich die Diskette in die Tasche meines Parkas gesteckt? In meine Aktenmappe? Hatte ich an diesem Tag meine Aktenmappe überhaupt bei mir?
»Wirst du mein Tagebuch lesen?«
Seeräuber-Jenny zupft am Wasserfallkragen ihres Pullovers. Ich bemerke eine frische rote Narbe auf ihrer Haut. Meine Güte, denke ich, hat sie sich das selbst zugefügt? Oder hat es ein anderer getan? Soll ich jetzt erregt sein, beunruhigt, entsetzt, neugierig, zornig, eifersüchtig?
So wie es aussieht, will ich einfach nur weg.
Jenny zieht ihren Kragen wieder gerade. »Du magst mich doch, Clay, oder?«
»Natürlich mag ich dich, Jenny.« Ich lächle im verzweifelten Versuch, die Stimmung aufzuheitern. »Auch wenn ich mich nicht mit dir identifiziere.«
Jenny lächelt immer noch traurig. »Ich muss mir mal kurz die Nase pudern.«
Ich warte, bis sie in der Damentoilette verschwunden ist. Dann lege ich fünf Dollar auf den Tisch für unsere Getränke und verlasse eilig das Lokal. Ich werde Seeräuber-Jenny nicht mehr lebend wiedersehen.
* * *
»Brogus ist in Mississippi gesehen worden!«, gab Andy Chadwick lautstark bekannt. Der junge Journalist war total aufgeregt und grinste breit. Zwischen seinen Schneidezähnen klebte ein bisschen Mais. »Ich nehme das nächste Flugzeug dorthin!«
Dienstag, 18. Februar 1992, 23:45 Uhr. Die Veteranen vom Arden Oracle behaupteten, eine derartige Aufregung hätte es in der Redaktion seit der Ermordung von John F. Kennedy 1963 nicht mehr gegeben. Ich war vor ein paar Stunden direkt von der Totenwache hingefahren, um letzte Korrekturen in meinem Artikel über die Stimmung auf dem Campus vorzunehmen. Ich verließ gerade die Redaktion, unterm Arm die neueste Ausgabe des Oracle, druckfrisch im wahrsten Sinne des Wortes, als Chadwick auf mich zugerannt kam, um mir die Neuigkeit brühwarm zu erzählen. Er fragte, ob ich mit ihm kommen wollte, um Brogus aufzuspüren. Ich sagte, ich hätte einige Kurse am nächsten Tag. Er fragte, ob ich bereit wäre, noch einen Artikel für die Zeitung zu schreiben, »ein sehr persönliches Porträt des Opfers – was war diese Jennifer Wolfshiem für ein Mädchen und so weiter«.
Ich erklärte Chadwick, dass ich vorhätte, dem Journalismus für immer zu entsagen.
»Wir trauern Ihnen jetzt schon nach. Ich fand Ihren Kasten zu Patsy DeFestina sehr amüsant. Und, hey, Professor, der Artikel, den Sie heute Abend geschrieben haben, der Teil über die Nachtwache mit den Kerzen und allem … hat mich zu Tränen gerührt.« Er präsentierte mir wieder sein Maisgrinsen und tat so, als würde er sich eine Träne aus dem Augenwinkel wischen.
Brogus war also in den Süden geflohen. Vielleicht, so dachte ich, als ich durch die verlassenen Straßen nach Hause fuhr, wollte Reggie sich ja zu Hause bei seiner Mom verstecken. Wusste irgendjemand, wo genau Bethel Brogus lebte?
Am Ende dieses bizarren Tages konnte ich nicht aufhören, über Patsy DeFestinas Theorie des offensichtlichen Täters nachzudenken und wie sie zu diesem Fall passte, nämlich: (1) Es gab eine neunzigprozentige Chance, dass Reginald T. Brogus, den alle für den wahrscheinlichsten Täter hielten, Jennifer Esther Wolfshiem umgebracht hatte; und (2) gab es eine zehnprozentige Chance, dass Tyrell »T-Bird« Williams, den nur wenige Leute kannten, als zweitoffensichtlichster Täter für den Mord in Frage kam.
Falls Brogus es getan hatte, musste er gewusst haben, wer Jenny war und was sie mit mir zu tun hatte. Er hatte gelogen, als er behauptete, er wüsste nichts davon. Sie muss ihn aufgesucht haben. Aber sie dürfte ihm kaum erzählt haben, dass sie die Frau gewesen war, mit der er mich in meinem Büro überrascht hatte, sonst hätte er mir nicht ihre Leiche auf dem Sofa gezeigt. Aber was war, wenn er wusste, dass wir dieselbe Geliebte gehabt hatten? War Jennifer ins Afrikamerika-Institut gegangen, um sich mit Brogus zu treffen, vielleicht letzten Sonntag, um bei ihm einen frühabendlichen Termin wahrzunehmen, wie sie es bei mir so gern getan hatte? Hatte Brogus sie, als niemand in der Nähe war, auf seinem schäbigen Kunstledersofa missbraucht? Hatte er sie mit seinen Hosenträgern gefesselt? Die Narbe auf Jennys Brust, die sie mir im Dezember im Café gezeigt hatte – stammte die von ihm? War er letzten Sonntag wieder in seinem Büro über sie hergefallen oder Samstag oder sogar Freitagabend, war er ausgerastet und hatte sie erwürgt? Und hatte er dann die Unverschämtheit besessen, zu mir zu kommen, damit ich ihm aus der Patsche helfe?
Nein. Das passte nicht zusammen. So sehr ich Brogus auch verabscheute in diesem Moment, so viel Hass auf ihn ich in der vergifteten, vom Jagdfieber verseuchten Atmosphäre der Redaktion des Arden Oracle eingeatmet hatte, und obwohl ich Artikel geschrieben hatte, wo jede einzelne Zeile den Verdacht nährte, er könnte der Täter sein – es war einfach vollkommen sinnlos, dass Reggie zuerst Jenny umgebracht haben und dann zu mir gekommen sein sollte.
Also, dachte ich, als ich in die Auffahrt unseres Hauses in der ruhigen und sicheren Maplewood Road einbog, muss es T-Bird gewesen sein! Vielleicht hat Jenny sich mit ihm getroffen, als er am Wochenende pflichtbewusst seiner Arbeit als studentische Hilfskraft nachgekommen war. Vielleicht konnten die aufgepeitschten, sexverrückten Kids nicht widerstehen, es in den Räumen des Instituts miteinander zu treiben. Vielleicht hatten sie in jedem einzelnen Büro gevögelt, bevor sie auf Reggies Sofa gelandet waren, wo T-Bird anfing, mit den Hosenträgern herumzuspielen, die er in Reggies Schrank gefunden hatte, und dann war das Ganze ein bisschen aus dem Ruder gelaufen und er hatte Seeräuber-Jenny erwürgt und ihre Leiche im Büro liegen gelassen, damit Reggie sie einen Tag später dort finden, das Gebäude in Panik verlassen und das Weite suchen würde. Es waren keine Verschwörer aus dem Regierungsapparat gewesen, die die Leiche in Reggies Büro »platziert« hatten, sondern bloß ein geiler Junge aus dem Ghetto, genau der, den Brogus als »Sklave« beschimpft hatte. Ich fragte mich, ob Brogus T-Bird jemals im Afram-Institut begegnet war. Wenn ja, dann hätte er ihn wahrscheinlich nicht mal wiedererkannt.
Ich schaltete die Scheinwerfer aus, stellte den Motor ab und blieb noch eine Weile in meinem Volvo sitzen. Eins schien sicher: Jennifer hatte mit Reggie Brogus gevögelt oder mit T-Bird Williams oder mit beiden. Irgendwie machte mir der Gedanke, dass T-Bird Jenny gevögelt haben könnte, gar nichts aus. Aber der Gedanke, Reggie könnte seinen schlabbrigen Schmerbauch auf sie gewuchtet haben, erfüllte mich mit Ekel. Welches Geheimnis hatte Jennifer mir mitteilen wollen? Wenn ich mir die Zeit genommen hätte, ihr Tagebuch zu lesen, wüsste ich dann, wer es mit ihr getrieben, wer sie umgebracht hatte? Was zum Teufel hatte ich mit dieser Diskette gemacht? Ich vermutete, dass ich sie in den Müll geworfen hatte – vielleicht sogar in einen Abfalleimer am Straßenrand –, noch an dem Tag, als Jenny sie mir gab.
Ich saß immer noch in meinem Volvo, als die schwarze Lincoln-Limousine sich näherte. Sie glitt durch den Lichtkegel der Straßenlaterne, und kurz konnte ich durch die getönte Scheibe der Beifahrertür die geisterhafte Silhouette eines Kopfes erkennen: hohe, gefurchte Stirn, herabhängende Mundwinkel, die hinter dem dunklen, beschlagenen Fenster kaum zu erkennen waren, und Augen (denn der Beamte hatte jetzt mitten in der Nacht seine Ray-Ban-Sonnenbrille abgenommen): groß, matt, gequält dreinblickend wie die Augen der gepeinigten Seele in Edvard Munchs Gemälde »Der Schrei«. Erst als die Rückleuchten des Lincoln am Ende der Maplewood Road verglommen, fand ich den Mut, aus dem Wagen zu steigen und ins Haus zu eilen.
* * *
Penelope tat so, als würde sie schlafen. Das merkte ich sofort, als ich in unser dunkles Schlafzimmer trat. Weil sie ihr Schnarchen imitierte. Ich musste lächeln. Pen, die ja nicht mitbekam, wenn sie es wirklich tat, konnte ihr Schnarchen nicht glaubhaft nachmachen. Ich legte mich neben sie aufs Bett, immer noch komplett angezogen. Das Schnarchen meiner Frau heute Nacht war im Vergleich zu ihrem echten Schnarchen eine lustige, völlig übertriebene Karikatur wie aus einem Zeichentrickfilm.
»Mich kannst du nicht täuschen, Schlafmütze«, flüsterte ich ihr ins Ohr.
Sie schlug die Augen auf. »Wieso merkst du das immer?« Sie klang hellwach.
»Weil nur ich dein richtiges Schnarchen kenne.«
»Und wie klingt das also?«, fragte sie zum tausendsten Mal.
Ich bot ihr mein ganzes Arsenal grotesker Laute, angefangen mit leisem Tuten, über heiseres Gurgeln bis hin zu lautem Knurren. Wie immer fing Penelope an zu lachen und schlug scherzhaft mit der Faust nach mir. »Genauso klingst du«, sagte ich, »nur lauter.« Wir brachen beide in albernes Gelächter aus. Es war ein alter vertrauter Scherz zwischen uns.
»Es tut mir leid, dass ich heute so grantig war«, sagte Pen.
»Ich war noch viel grantiger.«
»Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll … Aber ich muss ständig daran denken, wie schrecklich es für dieses Mädchen gewesen sein muss. Und ich denke an sie als Mädchen, nicht als Frau in meinem Alter. Weißt du, dass sie neunzehn war? Das ist genau zwischen unserem Alter und dem der Zwillinge.«
»Tatsächlich?«
»Sie sind sechs. Wir sind dreiunddreißig. Dieses Mädchen war dreizehn Jahre von ihrer mittleren Kindheit entfernt und vierzehn Jahre von dem Alter, in dem wir jetzt sind. Wie auch immer man das nennt. Beginnendes mittleres Alter?«
»Wow. So habe ich darüber noch nie nachgedacht.«
»Hast du einen guten Artikel geschrieben? Warum ziehst du dich nicht aus und kommst ins Bett?«
»Hab ich gemacht. Mach ich jetzt.«
Ich zog mich aus, pinkelte, putzte mir die Zähne. Als ich ins Bett schlüpfte, stellte ich überrascht fest, dass meine Frau nackt war, genau wie ich. Wir kuschelten, schmusten, streichelten und drückten uns. Es war immer wieder tröstlich, diesen Körper zu umarmen, den ich fast so gut kannte wie meinen eigenen.
»Hast du Jennifer Wolfshiem gekannt?«
Ich weiß nicht genau wann, aber ich hatte mir irgendwann an diesem Tag ausgemalt, dass Penelope mir diese Frage stellen könnte, und hatte mir eine Antwort zurechtgelegt. Es war ein riskanter Schachzug, das, was Journalisten ein nichtssagendes Dementi nennen. Wenn zum Beispiel eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, die ins Zwielicht geraten ist, auf die Frage eines Reporters erklärt: »Diese Frage verdient keine Antwort«, dann ist klar, dass die Person sich dessen schuldig gemacht hat, wonach der Reporter fragte. Das ist ein nichtssagendes Dementi. Man hat damit keine Schuld zugegeben, aber auch nicht gelogen. Und hofft natürlich darauf, dass der Reporter nicht weiter nachbohrt. Ich gab Penelope also mein nichtssagendes Dementi und hoffte, dass sie nicht nachhaken würde.
»Baby, es gibt achttausend Studierende im Grundstudium an der Arden University«, sagte ich scheinbar beiläufig. »Die kann ich wirklich nicht alle kennen.«
Anstatt zu sagen: »Das habe ich dich nicht gefragt«, zuckte Pen nur mit den Schultern und sagte: »War nur so ein Gedanke.«
Wir kuschelten weiter, bis Pen plötzlich sagte: »Ich konnte die Diskette nicht finden.«
Mein Herz setzte einen Schlag aus, und ich fragte mich, ob sie das in unserer innigen Umklammerung wohl gespürt hatte. »Was?«, fragte ich zaghaft.
»Amber hat mir von der Diskette erzählt, die du gesucht hast. Schwarz, ohne Beschriftung. Ich habe im Gästezimmer nachgeschaut, meine ganzen Sachen durchwühlt, aber ich konnte sie nicht finden.«
»Oh, danke«, sagte ich und drückte sie noch stärker an mich. »Bist du sehr müde?«
»Nein.«
»Ich auch nicht.«
Wir liebten uns mit einer Leidenschaft und Verzweiflung, als wäre es das letzte Mal.