19.2.1992
CLAY: LASS MICH NICHT IM STICH! HAST DU VERGESSEN, WAS ICH DIR IM AUTO GESAGT HABE? UM WAS ES WIRKLICH GEHT! DU MUSST DIE WAHRHEIT AUFDECKEN! VERRATE MICH NICHT, BRUDER! BITTE!!! LASS MICH NICHT IM STICH!
Ich starrte verblüfft auf die Nachricht auf meinem Computerbildschirm, las sie immer wieder, als wäre sie in einem geheimen Code verfasst, den ich entschlüsseln musste. Aber die Worte waren klar und eindeutig. Ich rollte in meinem Bürosessel langsam nach hinten, weg vom Schreibtisch. Ängstlich blickte ich mich in meinem Büro um, als würde ich erwarten, dass Reggie Brogus plötzlich aus dem Schrank sprang oder unter dem Sofa heraufkroch. Aber sollte Brogus nicht eigentlich in Mississippi sein? Das wurde jedenfalls heute Morgen in den Fernsehnachrichten behauptet. Wie konnte er mir also diese E-Mail schicken? Sie müssen bedenken, dass dies alles in den frühen Tagen der E-Mail-Kommunikation stattfand. Ich hatte bis dahin nur selten eine bekommen und selbst noch nie eine verschickt. Es gab keine fröhliche Roboterstimme in meinem Computer, die mir vorlaut mitteilte: »E-Mail für dich!« Gelegentlich beklagte sich jemand – meist war es Dekan Shamberg – darüber, dass ich mein E-Mail-Postfach nicht oft genug checkte. Wenn ich es dann mal tat, war es meistens leer oder es lagen zwei, drei Nachrichten seit Tagen oder gar Wochen ungelesen da herum. Ich weiß nicht, warum ich meinen Account an diesem Mittwochmorgen aufrief. Aber ich tat es.
“DU MUSST DIE WAHRHEIT AUFDECKEN!”
Ich brauchte eine Weile, bis ich kapierte, dass Brogus diese Nachricht von überall hätte schicken können, auch wenn als Absender die E-Mail-Adresse der Arden University angegeben war. Und plötzlich erinnerte ich mich an den Laptop, den Brogus gegen seinen Bauch gedrückt hatte, als ich ihn zum Flughafen fuhr.
“VERRATE MICH NICHT, BRUDER!”
Und trotzdem, als ich auf meinem Stuhl jetzt wieder näher an den Bildschirm rollte und mir diese dringliche Botschaft noch mal anschaute, kam es mir vor, als wären diese angsterfüllten Worte aus dem Jenseits zu mir gekommen. Aber Reggie war doch noch am Leben, oder? Jedenfalls ließen die letzten Nachrichten darauf schließen.
Verdammt. Ich hatte es bisher geschafft so zu tun, als wäre dies ein ganz normaler Mittwochmorgen. Ich war um neun Uhr aufgewacht, wie immer an einem Mittwochmorgen, eine Stunde nachdem Pen und die Mädchen das Haus verlassen hatten. Ich duschte, zog mich an, trank einen Becher Kaffee und schaute die Lokalnachrichten auf dem kleinen Schwarzweißfernseher mit dem vier Zoll großen Bildschirm, der auf dem Küchentisch stand und nur von mir benutzt wurde. Sportberichte. Verkehrsnachrichten. Eine Reportage über Ranger mit ihren Smokey-Bear-Hüten, die mit Bluthunden an der Leine und Flinten in den Händen in Mississippi durch Sumpfland stiefelten auf der Jagd nach Reggie Brogus. Ich starrte abwesend auf den Bildschirm, als hätte das, was da gezeigt wurde, nichts mit mir zu tun. Der Wetterbericht: Eisige Kälte, grauer Himmel, die Möglichkeit eines Schneesturms am späten Nachmittag. Als ich im Honda zum Campus fuhr, dachte ich über das Journalismusseminar nach, das ich um elf Uhr geben sollte. Das Leben an der Uni war wieder in den normalen Modus zurückgekehrt. Keine Fernsehteams, keine Streifenwagen in Sicht. Ich parkte hinter dem Haus mit den weißen Schindeln, betrat um 10:15 Uhr mein Büro und rief rein zufällig meine E-Mails auf.
“BITTE!!! LASS MICH NICHT IM STICH!”
Hatte Reggie den Verdacht, ich könnte ihn verraten? Hatte ich ihn nicht schon verraten mit meinem anspielungsreichen und anzüglichen Artikel im Arden Oracle vom heutigen Tag? Und was meinte er überhaupt mit seiner »wahren Geschichte«? Wie zum Teufel sollte ich herausfinden, ob Reggie die Wahrheit über diese angebliche Akte über die Ermordung von Martin Luther King gesagt hatte? Ich war kein Investigativjournalist. Sicher, ich konnte einen gefühlsduseligen Artikel über die Stimmung auf dem Campus schreiben, aber ich war kein verdammter Bob Woodward! Was zum Teufel erwartete Reggie von mir? Wenn er unschuldig war, warum war er dann geflohen? Und wie kam er darauf, ich könnte ihn im Stich lassen? Ich hatte doch schon meinen Kopf riskiert, indem ich ihn zum Flughafen gefahren hatte. (Und er hatte noch nicht mal das Flugzeug genommen, obwohl er genug Zeit gehabt hätte! Wie war er dann also nach Mississippi gekommen – per Anhalter?) Und was den Verrat betraf – ich hatte niemandem ein Wort von dem gesagt, was ich wusste. Ich hatte Brogus erlaubt, mich in diesen Wahnsinn reinzuziehen, und jetzt jagte er mir einen solchen Schreck ein, damit ich mich noch mehr reinhängte, um irgendeine durchgeknallte Verschwörungstheorie zu begründen. Scheiß auf Brogus!
Mit einem Mal brach mir der Schweiß aus. Ich merkte, wie mein Flanellhemd klamm wurde und auf der Haut juckte. Ich atmete schwer. Ich löschte Reggies E-Mail und schaltete den Computer aus. Ich brauchte frische Luft. Als ich aufstand, wurde mir schwindelig. Ich griff nach meinem Parka und taumelte zur Tür. Draußen vor dem Gebäude blieb ich auf dem welken, gefrorenen Gras stehen, beugte mich vor und stützte mich mit den Händen auf den Knien ab. Mein Atem ging wieder regelmäßiger. Die eisige Luft fühlte sich gut an in meinen Lungen. Schließlich richtete ich mich auf.
Jetzt sah ich ihn, ungefähr hundert Meter entfernt, jenseits der verdorrten Rasenfläche, er parkte am Rand des Liberty Drive. Der schwarze Beamte saß auf dem Beifahrersitz des Lincoln Town Car, bei herabgelassenem Fenster. Obwohl keine Sonne am stahlgrauen Himmel schien, trug der kahlköpfige große Kerl seine Ray-Ban-Brille. Und schien direkt zu mir herüberzusehen. Aber dieses Mal hatte ich keine Angst. Ich ging los, über die Grasfläche auf die schwarze Limousine zu. Ich dachte nicht mal darüber nach, wie ich ihn ansprechen wollte. Ich wollte ihn nur zur Rede stellen. Bildete ich mir das ein, oder war da tatsächlich eine Spur von Angst – oder sogar Schock – in seinem ledrigen Gesicht zu sehen, als ich immer näher kam? Ich sah, wie er sich dem Fahrer zuwandte.
»He!«, rief ich.
Der Motor heulte auf, das Beifahrerfenster schloss sich, das Gesicht des Beamten verschwand langsam hinter der getönten Scheibe. Ich war fast schon so nah, dass ich die Karosserie berühren konnte, streckte die Hand aus nach dem Türgriff, als der Wagen aus der Parklücke ausscherte. Und ich rannte tatsächlich hinter ihm her! Verfolgte den Lincoln, der nun über den Liberty Drive davonfuhr.
»He!«, schrie ich wieder.
Der Fahrer gab Gas, ich auch, und rannte zwei ganze Blocks hinter ihm her. Aber als ich sah, wie die schwarze Limousine an der Ecke mit dem Donut-Laden auf den University Boulevard abbog, verlangsamte sich mein Sprint zu einem Joggen und dann zu einem Trotten mit schweren Füßen, bis ich vor einem trostlosen alten Laden mit einem riesigen Plastik-Donut über der Glastür stehen blieb. Aber ich hatte keine Augen für die Donuts im Schaufenster. Ich starrte in die Ferne auf der Suche nach der schwarzen Limousine, die im geschäftigen Verkehr auf dem University Boulevard verschwunden war. Da hörte ich lautes Klopfen von Metall auf Glas. Ich drehte mich um und entdeckte Kwanzi Authentica Parker im Donut-Laden. Sie klopfte mit einem der vielen Ringe an ihren Händen gegen die Scheibe, dann winkte sie eifrig, ich solle hereinkommen.
* * *
»Ich weiß, dass du nicht an übernatürliche Kräfte glaubst, Clay«, sagte Kwanzi mit einem leichten Bedauern, »aber das ist nur ein weiterer Beweis dafür, dass es keine Zufälle gibt.« Eingewickelt in einen weiten schwarzen Mantel saß sie mir gegenüber, auf dem Kopf eine Kufi-Mütze mit buntem Kente-Muster. Vor ihr auf dem weißen Plastiktisch eine halb aufgegessene Biskuitrolle, ein dampfender Becher mit Tee und die neueste Ausgabe des Arden Oracle. »Ich wollte schon den ganzen Morgen mit dir sprechen. Und da sitze ich nun zum ersten Mal seit Jahren wieder hier im Donut-Laden, denke an dich – und da kommst du auch schon um die Ecke gerannt, direkt auf mich zu!«
»Eigentlich bin ich einem Auto hinterhergerannt, Kwanzi.«
»Scheinbar bist du einem Auto hinterhergerannt«, erklärte sie mit bedeutungsschwangerer Stimme. »Aber in Wahrheit bist du gerannt, weil du mich treffen wolltest.«
Ich wusste, dass es keinen Zweck hatte, Kwanzi zu widersprechen, wenn sie auf ihrem allwissenden Esoteriktrip war.
Sie bekam dann so einen Ausdruck verträumter Glückseligkeit und in ihrer Stimme schwang ein tiefgründiger Ernst mit, wie bei Vincent Price in einem Horrorfilm von Roger Corman. »Ich bin also hierher zu dir gerannt, um über was zu sprechen?«
Kwanzi hob ihren Teebecher an, schloss die Augen und nippte daran. Sogar auf der anderen Tischseite war der Duft ihrer Kakaobutter noch überwältigend. Sie setzte den Becher ab und fixierte mich mit ihren weit aufgerissenen Augen. »Clay«, sagte sie bedeutungsschwer, »ich habe heute Morgen deinen Artikel im Oracle gelesen.« Sie hielt inne. Vielleicht wollte sie, dass ich sie frage, ob ihr der Text gefallen hat. Tat ich aber nicht. Nach einem Moment sprach sie weiter: »Also, ich wollte dich fragen … Wieso hast du nicht mich interviewt?«
»Dich?«
»Oder eine andere Person aus dem Afrikamerika-Institut.«
»Nun ja, ich kenne euch alle persönlich. Ich dachte, es könnte vielleicht peinlich werden, wenn ich …«
»Weißt du, wie viele Interviews ich gestern gegeben habe?«, unterbrach sie mich. »Fünf Fernsehsender, mindestens, noch mehr Radios, darunter das National Public Radio, und …«, Kwanzi hielt einen Wimpernschlag lang inne und sagte dann mit vor Stolz belegter Stimme: »… heute Morgen hat mich die New York Times angerufen und wollte, dass ich den Fall kommentiere.«
»Wow«, sagte ich tonlos.
»Daher kommt es mir eigenartig vor, dass ich ausgerechnet von der hiesigen Zeitung nicht befragt werde. Roger ist auch dieser Meinung.« Kwanzi verwies gerne auf die Meinung ihres Ehemanns, des britischen Historikers Roger Pym-Smithers, wie um ihren eigenen Standpunkt aufzuwerten.
»Tut mir leid, Kwanzi, ich hatte wohl einfach nicht …«
»Ich hätte befragt werden müssen«, sagte Kwanzi und klang jetzt beleidigt. »Zumal du über diese böse kleine Zwergin geschrieben hast!«
»Du meinst Patsy DeFestina?«
»Diese Frau«, sagte Kwanzi mit zusammengebissenen Zähnen. »Diese Frau ist … skrupellos. Absolut skrupellos. Roger ist auch dieser Ansicht.«
»Wirklich?«
»Du hättst mal sehen soll’n, wie sie Art und Matilda Davenport angepöbelt hat!« Kwanzi sprach immer schneller und zorniger. »Hat sie in die Mangel genommen – ein altes Ehepaar –, als wärn’s Kriminelle. Alle! Den alten Pops Mulwray, die Lumbakis, Mabel, die Teilzeitsekretärin. De-Festina hat alle angebellt wie’n wildgewordener Pitbull! Bei mir hat sie sich das nicht getraut, weil sie gleich geschnallt hat, dass ich da nicht mitspiele. Aber sogar wenn sie’s höflich versucht, is sie’n Miststück. Ich erklärte ihr, Roger und ich war’n beide über das Wochenende verreist. Ich war auf einer Konferenz in Chicago und er auf ’ner Konferenz in New York. Das habe ich ihr gesagt! Und Roger genauso! Aber dieses Miststück muss uns unbedingt noch nach den Flugtickets fragen, als Beweis dafür, dass wir nicht vor Montagmorgen in Arden zurück waren. Und gestern Morgen hat sie mir die ganze Zeit in den Ohren gelegen mit: ›Wer hat ’n Schlüssel? Wer hat ’n Schlüssel? Wer noch? Wer noch?‹«
»Einen Schlüssel?«
»Einen Generalschlüssel für alle Räume im Afram-Institut. Patsy hat einfach nich aufgehört, mich zu piesacken, von wegen wer alles Zugang zu den Räumen hatte. Sie will jede Person befragen, die irgendwann mal ’n Schlüssel gehabt hat. Sogar nachdem ich ihr ’ne Liste geschrieben hab, nervte sie weiter: ›Wer noch? Wer noch? Wer noch?‹ Ich hätt’ ihr am liebsten eine geknallt.«
»Nun ja, Kwanzi, man könnte auch sagen, sie macht einfach nur ihren Job.«
»Willste sie jetzt verteidigen, oder was?«
»Na ja, nicht direkt. Ich wollte nur …«
»Jetzt hat sie sich auf T-Bird eingeschossen. Erst woll’n alle Reggie Brogus hängen sehen, jetzt ist es T-Bird! Hast du’s mitgekriegt? So’n junger Typ, der als studentische Hilfskraft im Institut arbeitet. Keiner hat ihn zuletzt auf’m Campus gesehen. Der arme Bruder ist wahrscheinlich völlig fertig. Hat die Nachrichten gesehen und gedacht: ›Ich bin ein junger Schwarzer – also werden sie versuchen, es mir anzuhängen! Besser ich verstecke mich!‹ Und jetzt ist der Lynchmob hinter ihm her!«
»Du glaubst also, weder Brogus noch T-Bird sind schuldig?«
Kwanzi machte eine längere Pause. »Ich glaube nicht, dass T-Bird es getan hat. Aber ich weiß, dass Reggie unschuldig ist.« Sie bekam wieder diesen distanzierten, hellseherischen Blick. »Was wäre …«, sagte Kwanzi ganz langsam und wieder in diesem Vincent-Price-Tonfall, »wenn ich dir sagen würde, dass die Leiche in Reggies Büro … gebracht wurde?«
»Haben die Geister dir das zugeflüstert?«
»Nein, Clay. Die Polizei weiß ganz genau, dass die Leiche dort hingebracht wurde.«
»Woher weißt du denn, was die Polizei weiß?«
Ein schwaches Lächeln erschien auf Kwanzis Gesicht. »Wusstest du, dass Roger drüben in England durchaus eine gewisse Reputation als Amateurdetektiv hat?«, fragte Kwanzi mit einem Anflug von imitiertem britischen Akzent im Stil ihres Ehemanns.
»Er hat mir davon erzählt.«
»Tja, Pitbull-Patsy wusste von dem Fall, bei dem Roger Scotland Yard bei der Aufklärung geholfen hat, damals in den Sechzigern. Als sie ihn dann befragte – er ist mein Ehemann, also hat er selbstverständlich einen Schlüssel zu meinem Büro und daher Zugang zum Institut –, wurde sie ganz leutselig angesichts seiner Verdienste und ließ sich mehr Informationen entlocken, als sie eigentlich preisgeben wollte. Weil sie gewissermaßen zu einem Detektivkollegen sprach.«
»Und sie sagte, die Leiche sei dorthin gebracht worden?«
»Sie sagte, das sei offensichtlich.« Kwanzi blickte mich erneut eindringlich an.
»Dann … war das ein Komplott?«, fragte ich zögernd.
»Hm-hmm«, bestätigte Kwanzi genüsslich. Wieder nippte sie an ihrem Tee. »Ich weiß, dass manche Leute es befremdlich finden, dass ich Reggie so vehement verteidigt habe. Aber ich weiß noch, wer Reggie Brogus einmal gewesen ist. Und das geht auch vielen anderen Leuten so. Ich liebe Reggie wegen dem, was er einmal war. Aber eine Menge Leute hassen ihn deswegen. Du hast das Wort ›Komplott‹ benutzt. Tja, wenn das ein Komplott war, dann will jemand Reggie ans Leder, will ihn dafür bestrafen, was er einmal war.«
Ich nickte nachdenklich. »Cointelpro.«
Sie riss überrascht die Augen auf: »Was hast du gerade gesagt?«
»Cointelpro«, wiederholte ich. »Counter Intelligence Program.«
»Ja, klar, ich weiß, was es bedeutet«, sagte Kwanzi. »Aber was weißt du davon?«
»Na ja … ich hab ein paar Mal mit Brogus zu Mittag gegessen, und da hat er … äh … da schien er zu glauben, dass es Leute bei Cointelpro gibt, die ihm … hm … keine Ahnung …«
»Die ihm ans Leder wollen«, wiederholte Kwanzi unheilvoll. »Sogar jetzt noch.«
»Ähm … ja.«
Wir schwiegen eine Weile. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich dachte an den schwarzen FBI-Beamten in der Lincoln-Limousine. Überlegte, ob ich Kwanzi davon erzählen sollte, ließ es aber lieber bleiben.
»Du weißt ja, was man sich darüber erzählt, was Reggie passiert ist, oder?«, sagte Kwanzi schließlich. »Es heißt, sie hätten ihn, nachdem er 1981 in Paris aufgegriffen und ausgeliefert wurde, in Einzelhaft gesteckt. Er saß in ’ner winzig kleinen Zelle mit grellem Licht und ’ner Überwachungskamera. Vierundzwanzig Stunden am Tag. Er konnte das Licht nicht ausschalten. Er schlief, ging zur Toilette und so weiter, immer in diesem grell erleuchteten Raum. Er wusste nicht, ob’s Nacht oder Tag war. Besucher war’n nicht zugelassen, nicht mal sein Anwalt. Er hatte keine Bücher, keine Zeitungen, keinen Fernseher, kein Radio. Sie behielten ihn ein Jahr lang in dieser Zelle, Clay. Wer wär’ da nicht zerbrochen? Nach einem Jahr Isolationshaft war Reggie nur noch’n Zombie … Und da haben sie mit der Gehirnwäsche begonnen. Sie gaben ihm alle möglichen Psychopharmaka. Elektroschocktherapie. Gerüchten zufolge haben sie sogar neurochirurgische Eingriffe an ihm vorgenommen. So brachten sie ihn dazu, die eigene Vergangenheit abzulehnen, das zu verleugnen, was er einst war. Und machten ihn zu dem Menschen, den sie haben wollten.«
»Meine Güte.«
»Hat er dir nie davon erzählt?«
»Nein.«
»Ich frage mich sowieso, wie viel er davon noch erinnert«, sagte Kwanzi. »Wie auch immer, das ist nur ein Gerücht. Aber es könnte sein, dass es Leute gibt, die meinen, eine Gehirnwäsche sei nicht genug. Die Reggie lieber tot sehen möchten.«
»Und du verdächtigst die Leute von Cointelpro?«
»Clay, ich weiß nicht mal, ob es Cointelpro überhaupt noch gibt.« Kwanzi seufzte und bekam wieder diesen bedeutungsschwangeren Blick. »Ehrlich gesagt, hatte ich sowieso den Verdacht, dass die Bullenschweine dahinterstecken. Vielleicht haben ein paar von denen sich überlegt, dass sie so einen wie Reggie Brogus – den früheren Reggie Brogus – nicht in ihrer Community haben wollen. Also haben sie ein, wie du sagst, Komplott geschmiedet. Deshalb traue ich diesem DeFestina-Biest nicht über den Weg.«
»Glaubst du wirklich, die Bullen würden so ein Riesending vom Zaun brechen«, sagte ich, »nur um Reggie Brogus wegen seiner Verfehlungen in der Vergangenheit zu bestrafen?«
Kwanzi starrte aus dem Fenster. »Ich weiß es nicht, Clay«, sagte sie resigniert. »Ich weiß es einfach nicht.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Roger ist übrigens nicht meiner Meinung.«
»Ist er nicht?«
»Nein. Er ist überzeugt davon, dass es sich um ein Verbrechen aus Leidenschaft handelt. Verübt von jemandem, der beide sehr gut kannte – Reggie und das Mädchen.«
»Also dann käme T-Bird in die engere Wahl. Aber ich weiß nicht, wie gut er Brogus oder … äh … die Wolfshiem kannte.«
»Wo wir gerade darüber sprechen, Clay … Roger sagte, du hättest sie gekannt.«
»Äh, ja, ein bisschen.«
»Sie war eine Studentin von dir?«
»Nicht direkt. Sie war nicht in einem meiner Kurse. Ich war eine Zeitlang ihr Tutor, ein paar Wochen lang im September.« Ich fand, dass ich das auf eine sehr schön beiläufige Art vorgebracht hatte. »Sie war eine sehr interessante junge Frau. Sehr … äh … nett.«
Kwanzi bekam wieder ihren entrückten Blick. »Roger sagte, du seist sehr erschüttert gewesen, als du von ihrem Tod hörtest.«
»Ja, selbstverständlich.«
»Roger sagte, du hättest eine sehr enge Beziehung zu dem Mädchen gehabt.«
»Ach ja?«
Kwanzi nickte feierlich. »Das wird in deinem Artikel in der heutigen Ausgabe des Oracle deutlich, dass du dich zu ihr … hingezogen fühltest.«
So wie Kwanzi das sagte, es mit unterschwelliger Bedeutung auflud, lief es mir kalt den Rücken herunter. »Ja«, sagte ich vorsichtig. »Und?«
Kwanzi senkte den Kopf und starrte in ihren Becher. »Und … wie geht es Penelope und den Zwillingen?«
Das kam mir beinahe wie eine Fangfrage vor. »Ihnen geht’s gut«, sagte ich vorsichtig.
»Hattest du mit Penelope nicht kürzlich einen Jahrestag?«, fragte Kwanzi jetzt beiläufiger und leutselig.
»Den Siebenjährigen«, sagte ich, immer noch auf der Hut, ob sie mir eine Falle stellen wollte.
»Und du hast nicht das Gefühl, es ist das verflixte siebte Jahr und es juckt dich ein bisschen?«
»Wenn’s mich juckt, muss ich ja nicht gleich kratzen.«
Kwanzi brach in lautes Lachen aus. Ich lächelte, blieb aber wachsam. »Ich weiß, wie du dich fühlst, Bruder«, sagte sie und nickte verständnisvoll. »Eine Ehe ist viel mehr als nur Sex, findest du nicht?« Sie schlug einen salbungsvollen Ton an wie Oprah Winfrey. »Sicherheit. Darum geht es in der Ehe. Emotionale Sicherheit. Schau dir nur mich und meinen Ehemann an. Ich weiß, dass Roger nicht die große Liebe meines Lebens ist. Ich hatte irre leidenschaftliche Beziehungen – bevor ich Roger Pym-Smithers kennenlernte. Aber bei ihm fühle ich mich aufgehoben. Weil er mich so sehr liebt. Wusstest du, dass Roger der erste Mann war, der mir sagte, er liebt mich? Alle Männer vor ihm – die, die ich für die großen Lieben meines Lebens halte – haben mir nie gesagt, sie würden mich lieben. Manchmal macht es mich traurig, dass es ausgerechnet ein Weißer sein musste, der mir zum ersten Mal seine Liebe erklärte. Er sagte es gleich an dem Abend, als wir uns kennenlernten. Er sagte mir, er hätte das erlebt, was die Franzosen einen coup de foudre nennen – es traf ihn wie der Blitz. Liebe auf den ersten Blick. Und er fühlt heute immer noch so. Roger liebt mich abgöttisch. Er würde alles für mich tun. Das weiß ich. Das ist meine Sicherheit. Vor Roger war ich eine Vagabundin. Eine Bohèmienne, wenn du so willst, aber eigentlich eine Herumtreiberin. Nachdem ich Roger kennengelernt hatte, wusste ich, was es heißt, geliebt zu werden. Zu wissen, dass deine Telefonrechnung und deine Stromrechnung bezahlt werden. Zu wissen, dass deine Schecks nicht platzen. Zu wissen, dass es nicht passieren kann, dass du nach Hause kommst und der Vermieter hat deine Möbel und Klamotten auf die Straße geschmissen, weil du mit der Miete drei Monate im Rückstand bist. Zu wissen, dass man immer geliebt und umsorgt wird. Das bedeutet die Ehe für mich. Wusstest du, dass Roger bei unserer Heirat versprochen hat, dass er mir niemals wehtun wird, weder absichtlich noch unabsichtlich?«
Ich fragte mich, ob man versprechen kann, niemals etwas »unabsichtlich« zu tun. Ich wollte schon sagen: »Das ist doch Unsinn.« Stattdessen lächelte ich und sagte, mit nur ganz leicht angedeutetem Sarkasmus: »Was für ein Mann.«
»Und ich weiß, du würdest niemals etwas tun, was Penelope wehtun könnte, hab ich recht, Clay?«
»Kwanzi«, sagte ich ungeduldig. »Worauf willst du hinaus?«
Sie nahm einen Schluck von ihrem Tee und verzog angewidert das Gesicht. »Kälter als ich dachte«, sagte sie und stellte den Becher ab. »Eigentlich wollte ich über etwas anderes mit dir reden, Clay.«
»Ja?«
»Vor eineinhalb Jahren, als wir die Räume des Afram-Instituts eröffneten, gaben wir eine Soulfood-Party. Erinnerst du dich?«
»Natürlich.«
»Auf dieser Party … hab ich dir da nicht einen Schlüssel für die Institutsräume gegeben?«
»Warum hättest du das tun sollen? Ich bin doch kein Dozent in diesem Bereich.«
»Ja, aber ich hatte gehofft, dass du es wirst. Ich meine, mich daran zu erinnern, dass ich einen Schlüssel übrig hatte, den ich dir als Geste des guten Willens übergab. Um dir zu zeigen, dass du bei uns immer willkommen bist.«
»Daran kann ich mich nicht erinnern«, sagte ich wahrheitsgemäß.
»Schau mal an deinem Schlüsselbund nach.«
»Was?«
»Bitte. Es ist ein sehr ungewöhnlich geformter Schlüssel. Sehr modern.«
Jetzt war ich mir ganz sicher, dass Kwanzi falsch lag. Ich zog den Schlüsselring aus der Tasche meiner schwarzen Cordhose. Daran hingen ein Dutzend Schlüssel. Ich warf sie lautstark auf den Tisch.
»Das ist er!«, sagte Kwanzi sofort.
Tatsächlich hing da ein sehr merkwürdiger Schlüssel an meinem Bund. Er war ganz glatt, hatte keinen gezackten Bart wie die anderen. Die Oberfläche dieses länglichen Metallteils hatte fünf oder sechs pockennarbige Einkerbungen. Kwanzi griff in ihre Tasche und legte einen identisch aussehenden neben den seltsamen Schlüssel an meinem Bund. Ich saß da, mein Mund stand leicht offen, und ich starrte verblüfft auf diesen Schlüssel, an dessen Anblick ich mich schon so sehr gewöhnt und den ich schon so oft in die Tasche gesteckt hatte, dass ich ihn gar nicht mehr bemerkt hatte. In den anderthalb Jahren hatte ich ihn nie benutzt.
»Nun, mein Bruder«, sagte Kwanzi. »Das nächste Mal, wenn du mit Patsy DeFestina zusammentriffst, wird sie womöglich dich interviewen.«
»Ja«, sagte ich leise.
»Clay«, sagte Kwanzi vorsichtig. »Gibt es da etwas, das du mir sagen möchtest?«
Ich griff nach dem Schlüsselbund und steckte ihn zurück in die Hosentasche. »Ja«, sagte ich und musste mich sehr bemühen, wieder sachlich zu klingen. »Ich habe um elf einen Kurs. Ich muss los.«
Ich wartete, bis Kwanzi an der Kasse bezahlt hatte. Als wir in den grauen, kalten Tag traten, sagte Kwanzi: »Ich weiß, was du am zweiten Weihnachtsfeiertag zu Roger gesagt hast.«
»Was denn?«
Wir standen vor dem Schaufenster des Donut-Ladens und schauten einander an. »Am Abend des zweiten Weihnachtsfeiertags.« Kwanzi stellte den Mantelkragen hoch und starrte mich bedeutungsvoll an. »Als du mit Penelope zum Essen zu uns gekommen bist. Ich weiß, was du da zu Roger gesagt hast.«
Jetzt wurde ich wütend. Ich merkte, wie mir das Blut zu Kopf stieg. »Kwanzi … ich weiß wirklich nicht, wovon verflucht noch mal du sprichst.«
Eine Hupe ertönte plötzlich und nervtötend. Ich drehte mich um und sah, wie ein Streifenwagen neben uns einparkte. Das Beifahrerfenster war halb heruntergelassen. Zwei Hände mit kurzen Fingern umklammerten den oberen Fensterrand. Dann erschien Patsy DeFestinas kleiner Kopf mit aufgesetzten puscheligen Ohrenschützern. »Guten Morgen, Professoren!«
»Oh, hallo, Detective DeFestina«, sagte ich so fröhlich wie ich konnte. Ich wandte mich wieder Kwanzi zu. Sie hatte sich umgedreht und ging mit weit ausholenden Schritten über den University Boulevard davon.
»Ich fürchte, diese Frau mag mich nicht besonders«, sagte Patsy.
Ich ging auf den Streifenwagen zu und beugte mich zum Fenster herunter. »Na ja, das ist schon ein schwerer Schlag für die Leute im Afrikamerika-Institut.«
Patsy nickte. Ich sah echtes Mitgefühl in ihren schwarzen Knopfaugen hinter den klobigen rechteckigen Brillengläsern. »Was haben Sie gerade vor?«, fragte sie. »Ich wollte Sie zu etwas einladen.«
In diesem Moment vergaß ich den Kurs, den ich in fünf Minuten geben sollte. »Zu was denn?«
Patsy grinste boshaft. »Wir jagen einen T-Bird. Kommen Sie mit!«
* * *
Patsy DeFestina monologisierte fröhlich vor sich hin mit ihrem angenehm farblosen Ohio-Akzent – die Betonungen waren so flach wie das brachliegende Farmland, das sich vor uns erstreckte, die Vokale so gedehnt wie der unendliche graue Himmel über uns –, während der Streifenwagen Richtung Süden nach Impediment raste. Ich saß auf dem Rücksitz und konnte sie nicht sehen, während sie redete, und fragte mich, ob sie überhaupt in der Lage war, über das Armaturenbrett zu schauen.
»Sie waren viel zu nett zu mir, Clay. Wirklich«, hatte Patsy gesagt, nachdem ich in den Wagen gestiegen war, ohne noch einen Gedanken an meinen Elf-Uhr-Kurs zu verschwenden – noch, was das betrifft, an meinen Drei-Uhr- oder meinen Vier-Uhr-Kurs. »Wissen Sie, ich hatte schon oft mit der Presse zu tun«, sagte sie mit ihrer monotonen, aber freundlichen Stimme, die von unterhalb der Kopfstütze des Beifahrersitzes kam, »aber Ihr Artikel war der netteste, den ich je über mich gelesen habe. Und Sie kennen ja das Sprichwort: Schmeicheleien bringen dich voran! Hab ich recht, Larry?«
Larry, das Rübengesicht in der blauen Uniform, den ich schon vorher mit ihr gesehen hatte, saß hinterm Steuer. Er gab ein heiseres Glucksen von sich. Das würde auch seine übliche Antwort auf die weiteren Bemerkungen der Kriminalistin sein, während sie unermüdlich weiterplapperte. Er grummelte ab und zu freundlich, wie der Sidekick eines unermüdlich quasselnden TV-Moderators.
»Und ich finde, Sie haben auch Reggie Brogus sehr fair behandelt.«
»Finden Sie?«, fragte ich.
»Absolut. Sie haben ihn nicht oft erwähnt, aber sie haben ihn auch nicht vorverurteilt, wie viele andere Medien es getan haben. Wissen Sie, ihn als den großen, gefährlichen Nigga darzustellen, der ein armes weißes Mädchen vergewaltigt und umgebracht hat, das ist doch bloß der übliche rassistische Schwachsinn!«
Jetzt wusste ich, dass Patsy schwarz war – oder zumindest teilweise. Kein weißer Cop würde jemals so etwas sagen. Dennoch hatte Kwanzi sie gerade eben im Donut-Laden mehrmals als Miststück bezeichnet. Ich hatte mir nicht die Mühe gemacht, Kwanzi zu fragen, ob sie Patsy für schwarz oder weiß hielt. Ganz offensichtlich dachte Kwanzi, Patsy sei eine Weiße, eine weiße Rassistin. Und Patsy hatte mir erst vor vierundzwanzig Stunden erklärt, es gäbe eine neunzigprozentige Wahrscheinlichkeit, dass Brogus der Täter war. Aber nun hatte Kwanzi behauptet, Patsy wüsste, dass die Leiche in Reggies Büro gebracht worden sei. Warum sollte Brogus Seeräuber-Jenny, wenn er sie an einem anderen Ort ermordet hatte, in sein eigenes Büro schleppen? Das machte überhaupt keinen Sinn. Also war T-Bird definitiv der Mörder. Er hatte Jenny getötet – womöglich versehentlich – und dann die Leiche in Reggies Büro abgelegt, um die Tat dem Mann anzuhängen, den er als »hässlichen fetten Drecksack« beschimpft hatte. War das die Schlussfolgerung, zu der Patsy gekommen war? War das der Grund für unsere einstündige Fahrt in eine andere Stadt – um einen T-Bird zu jagen?
»Sehen Sie«, sagte Detective DeFestina. »Keiner von Brogus’ weißen konservativen Kumpels hat irgendwas zu diesem Verbrechen oder der Jagd nach dem vermeintlichen Täter gesagt. Dieser Radiomoderator, Rash Knoblauch, hat sich rundweg geweigert, live über das Thema zu sprechen! Aber früher oder später werden sie sich gegen ihn wenden. Ganz egal, ob er das Mädchen getötet hat oder nicht. Hab ich nicht recht, Larry?«
Larry gluckste heiser.
»Nicht, dass ich eine gefühlsduselige Linke wäre!«, fügte Patsy hastig hinzu. »Ich liebe dieses Land!«
»Das tun auch eine Menge gefühlsduselige Linke«, sagte ich. Es war der letzte Satz, den ich für lange Zeit beisteuern konnte.
»Wissen Sie, warum ich dieses Land liebe?«, fragte Patsy, nur um ihre Frage im nächsten Atemzug selbst zu beantworten. »Dies ist das einzige Land auf der Welt, wo eine Person wie ich, als Frau … als Angehörige einer ethnischen Minderheit … als Kleinwüchsige … indem sie die Regeln beachtet und – seien wir ehrlich – gelegentlich jemanden hier oder da an einer Strippe ziehen lässt … Police Detective werden kann. Und damit, wenn ich das so sagen darf, ein Vorbild für Millionen. Nur in Amerika! Hab ich nicht recht, Larry?«
»Grmblmff.«
»Wissen Sie, wie ich einmal zu Barbara Walters sagte, es ist genauso …«
Patsy driftete ab in ein solipsistisches Selbstgespräch über Glauben und Disziplin, die Bürde der Vorbildfunktion und die Bewahrung einfacher Werte. Ich hörte kaum noch hin. Ich starrte aus dem Fenster, während die Umgebung sich veränderte, von alterslosem Agrarland in ein zeitgenössisches Irgendwo: Reklametafeln, Megastores, Multiplexe, Investitionsruinen – Retortenvorstädte am Straßenrand mit Blöcken von zwölf bis zwanzig identischen Häusern –, ausgedehnte armselige, flache Brachflächen, als wir uns den Außenbezirken von Impediment näherten. Ich bemerkte die neugierigen Blicke der Autofahrer, die uns entgegenkamen. Plötzlich erkannte ich, dass sie keine Ahnung hatten, dass ich als Reporter für eine Story unterwegs war. Sie mussten denken, ich sei verhaftet worden. Das war doch der erste Gedanke, der einem kam, wenn man einen relativ jungen Schwarzen auf dem Rücksitz eines Streifenwagens sah.
Ich musste ein Lachen unterdrücken, als ich die Perversität meiner Situation erkannte. Ich saß in einem Streifenwagen mit meiner neuen besten Freundin Patsy DeFestina und ihrem schläfrig dreinblickenden Trottel Larry, und wir waren unterwegs, um Tyrell »T-Bird« Williams aufzuspüren, den jemand heute Morgen gesehen hatte, wie er in Impediment eine Straße entlangspaziert war. Wie die meisten Afroamerikaner war ich der Polizei bislang mit einem natürlichen Misstrauen, wenn nicht gar mit Ablehnung begegnet. Und jetzt ließ ich mich von Patsy DeFestina umschmeicheln. Wohl weil ich dachte, sie könnte mir irgendwie helfen, die Wahrheit herauszufinden. Ich glaubte nicht – wie Kwanzi –, dass die hiesige Polizei Reggie Brogus eine nackte Leiche untergeschoben hatte. Meiner Ansicht nach waren normale Polizisten viel zu dumm, um sich etwas so Kompliziertes auszudenken.
Ich grübelte immer noch über meine Begegnung mit Kwanzi im Donut-Laden nach. Dass ich den Schlüssel zum Afram-Institut an meinem Schlüsselbund hatte, war schon beunruhigend genug. Aber Kwanzi hatte mir richtig Angst eingejagt und mich eiskalt erwischt mit ihrer rätselhaften Bemerkung über das, was ich letzte Weihnachten »zu Roger gesagt« hatte. Was zum Teufel hatte sie damit gemeint? Ich war mit Penelope bei ihnen zum Abendessen gewesen. Roger hatte eine Flasche Wein nach der anderen geöffnet. Kwanzi war irgendwann müde gewesen und zu Bett gegangen. Pen war nach Hause verschwunden. Ich aber blieb noch und trank weiter mit Roger und redete über … was? Ich hatte ihm bestimmt nicht von meinem kleinen Techtelmechtel mit Jenny erzählt. So betrunken war ich nun auch wieder nicht gewesen! Trotzdem hatte Kwanzi misstrauisch etwas angedeutet. Hatte ihr Ehemann, der sich gern als Amateurdetektiv betätigte, etwa den Verdacht geäußert, ich könnte Jenny umgebracht haben?
»Diese Stadt ist ein Friedhof«, sagte Patsy, als wir an den zugenagelten ehemaligen Textilfabriken und verlassenen Wohnblöcken von Impediment vorbeikamen. »Dabei war es mal eine prosperierende Gemeinde. Es gab eine weiße und eine schwarze Seite der Stadt. Auf beiden Seiten gab es wohlhabende und arme Leute. Jetzt gibt es nur noch eine Seite und die ist schwarz und arm.«
Patsy redete weiter, auch als eine verzerrte Stimme im Polizeifunk ertönte, und sie hörte nicht auf zu lamentieren, als Larry nach dem Hörer griff und die Fragen der undeutlichen Stimme beantwortete. Ich hörte weder Patsy noch Larry noch der unverständlichen Stimme zu, sondern starrte aus dem Fenster auf die Main Street von Impediment. Was einmal eine belebte Geschäftsstraße gewesen war, war nun verlassen bis auf einige Gruppen obdachloser Schwarzer, die hier und da herumstanden. Die Banken, Warenhäuser, Coffeeshops und Drugstores waren alle geschlossen, aufgegeben worden. Ein paar Bars, ein Pornokino, ein Pfandhaus, ein Lokal zur Barauszahlung von Schecks und ein Alkoholladen waren die einzigen, die geöffnet hatten. Ich hörte, wie Larry irgendwas über die »Mandrake Towers« murmelte, bevor er den Hörer auflegte.
Larry bog von der Main Street ab. Ich spürte, wie er Gas gab und wir mit erhöhter Geschwindigkeit eine breite Straße mit verfallenen Reihenhäusern entlangrasten, hier und da lag Sperrmüll im wuchernden Gestrüpp der Vorgärten.
»Stimmen Sie mir zu?«, drang Patsys Stimme aus den Tiefen des Beifahrersitzes laut und ungeduldig zu mir.
»Wie bitte?«
»Clay, ich habe das Gefühl, Sie hören mir überhaupt nicht zu. Wenn ich noch die Schwester DeFestina von früher wäre, hätte ich Ihnen mit dem Lineal eins auf die Finger gegeben – direkt auf die Knöchel, damit Sie spüren, wenn das Holz auf den Knochen knallt.«
»Huch! Tut mir leid.«
»Ich sprach gerade über Kriminalromane«, sagte Patsy.
»Okay.«
Wir fuhren an einem graffitibeschmierten Willkommensschild der Mandrake Towers vorbei. Wir rollten in eine Betonwelt, ein Labyrinth aus schmutzig-rosafarbenen Wohnblöcken, alle sechs Stockwerke hoch und mit langgestreckten schmalen Fensterreihen.
»Nach meiner Theorie wären die meisten Kriminalromane viel besser, wenn sie aus der Perspektive des Kriminellen und nicht aus der Perspektive des Ermittlers geschrieben wären. Verstehen Sie, was ich meine? Es ist viel schwieriger, mit einem Mord davonzukommen, als einen Mörder zu überführen. Die Vertuschungsversuche der Täter sind viel spannender als die Aufdeckung des Verbrechens. Stimmen Sie mir zu?«
»Ähm, keine Ahnung«, sagte ich lahm.
Larry manövrierte den Wagen geschickt durch die Betonschluchten. Ab und zu verließen wir das Labyrinth und fuhren über einen freien Platz, in dessen Mitte ein nackter, knorriger Baum aus einem riesigen Pflanztopf aus Beton ragte, bevor wir in die nächste Schlucht hineinrasten.
»Roger Pym-Smithers ist ganz meiner Meinung«, sagte Patsy. »Ich habe ihn gestern gesprochen. Kennen Sie ihn? Interessanter Mann. In England hat er eine gewisse Reputation als …«
»Da ist er!«, schrie ich. Die Worte waren mir beinahe unfreiwillig über die Lippen gekommen, als ich die schimmernde Jacke des Cleveland Browns Football Teams und die rote Baseball-Mütze mit dem Logo der Cleveland Indians verkehrt herum auf dem Kopf des jungen Mannes sah. T-Bird stand mit einer Gruppe von fünf Jungs neben einem dieser knorrigen Bäume im Pflanztopf auf einer der wenigen freien Flächen. Larry war so schnell gefahren, dass wir beinahe an T-Bird und seinen Kumpels vorbei in die nächste Betonschlucht gerast wären, bevor er durch meinen Schrei alarmiert wurde. Larry schaltete die Sirene ein, machte an der nächsten Ecke eine Kehre und raste zurück zu der Stelle, wo ich T-Bird gesehen hatte.
»Hurra!« Patsys Schrei übertönte die heulende Sirene. »Hey, Clay, das ist genau wie in der Fernsehserie COPS, stimmt’s?«
Plötzlich hörte ich das durchdringende Jaulen einer weiteren Polizeisirene nicht weit entfernt. Als wir über den leeren Platz rasten – T-Bird und seine Kumpels waren schon weggerannt –, fuhr der andere Streifenwagen auf der anderen Seite des knorrigen Baums an uns vorbei in die entgegengesetzte Richtung. Mir schlug das Herz bis zum Hals. Ich spürte ein unbekanntes Gefühl, eine Gewaltbereitschaft, beinahe schon einen Blutrausch, der in mir hochkochte. Als wir kurz davor waren, in die Betonschlucht einzutauchen, sah ich das schimmernde Braun des Polyesterstoffs hinter der zerbrochenen Scheibe einer Eingangstür.
»STOPP!« Noch bevor Larry es geschafft hatte, das Fahrzeug mit quietschenden Reifen zum Stehen zu bringen, hechtete ich schon aus der Tür, rollte über die Betonplatten vor dem Gebäude, richtete mich unbeholfen auf und taumelte durch die demolierte Tür in den dunklen Eingangsbereich. Ich tastete mich an der Wand entlang, suchte nach einem Lichtschalter, als die Wand plötzlich aufzubrechen schien und gelbliches Licht durch den Spalt drang. T-Bird sprang aus dem Schatten in einer Ecke und verschwand im Lichtspalt. Die Aufzugtüren schlossen sich bereits, als diese seltsame Kraft in mir, diese aufbrandende Wut, die ich noch nie gespürt hatte, meinen Körper nach vorn schleuderte. Als ich über die Schwelle rutschte und spürte, wie die beiden Flügel der Aufzugtür sich knapp hinter mir schlossen und über den Stoff meines Parkas glitten, hörte ich die Stimme von Patsy DeFestina hinter mir in der Lobby kreischen: »CLAY – NICHT!«
Dann war alles ein einziges blindwütiges Stürzen, Fallen, Taumeln, Schlagen. T-Bird und ich waren allein in dem nach oben ruckenden Aufzug. Ich stürzte mich auf ihn mit der wuchtigen Angriffslust eines Footballspielers. Wir prallten gegen die glatten, wie Alufolie glänzenden Kabinenwände und klammerten uns aneinander wie zwei Boxer im Clinch. Irgendwann hatte ich meine Arme um T-Birds Körpermitte geschlungen, meine Hände tasteten seine Hüftgegend ab, seinen Brustkorb, auf der Suche nach einer Schusswaffe, ich versuchte instinktiv, ihn zu entwaffnen, falls er bewaffnet sein sollte.
»Was zur Hölle ist los mit dir, Nigga!«, schrie T-Bird mit schriller Stimme und rammte seinen Körper gegen meinen, schleuderte mich gegen die dünne, nachgebende Kabinenwand. »Bist du irre? Du verrückte Scheiß-Schwuchtel!«
»Du hast sie getötet«, rief ich, blind taumelnd, den Kopf in der verdrehten Kapuze, die Kunststoffhaare des Fellbesatzes kitzelnd in Nase und Mund, während ich seinen Brustkorb umklammerte und dumpf brüllte: »Du hast sie umgebracht!«
Ich bin durchgedreht, aber ich kann noch denken. Ich weiß, dass T-Bird keine Waffe bei sich trägt. Und an der Art, wie er auf mich einschlägt, erkenne ich, dass ich mindestens so stark bin wie er. Der Aufzug hält ruckartig an. Ich spüre eine Hand in meinem Gesicht unter der Kapuze. Ein Fingernagel kratzt über die Oberfläche meines Augapfels. Ich falle zu Boden, höre, wie die Aufzugtüren sich öffnen. Ich reiße mir den hinderlichen Parka vom Leib, stolpere aus der Kabine und sehe T-Bird am oberen Ende einer schwarzen Metalltreppe, wo er sich gegen eine Eisentür stemmt. Ich taumle die Treppe hoch, die Tür schwingt auf und T-Bird ist verschwunden. Ein heller Sonnenstrahl durchdringt die dunkelgraue Wolkenmasse, wirft sein Licht durch die Türöffnung am Ende der Treppe und blendet mich. Ich taumle aufs Dach. Mein linkes Auge brennt. Ich schleiche Schritt für Schritt über das Dach, blicke mich suchend um, blinzelnd und mit einem tränenden verletzten Auge, kann T-Bird aber nirgendwo entdecken.
Dann schaue ich nach unten und sehe seine rote Baseball-Mütze vor meinen Füßen, mit dem aufgenähten grinsenden Gesicht eines Native American – dem Maskottchen der Indians. Larry mit dem Rübengesicht stürmt aufs Dach, den Revolver im Anschlag. Patsy ist dicht hinter ihm, die Pistole in ihren winzigen Händen wirkt riesig. »Auf den Boden, Clay!«, schreit sie. Ich bewege mich nicht. Zwei weitere Cops stürmen unbeholfen über das Dach, ebenfalls mit Schusswaffen in den Händen, wenden sich mal hier hin, mal da hin. »Clay, auf den Boden!«, kreischt Patsy erneut.
Jetzt sehe ich T-Bird, der nicht weit von mir am Rand des Dachs entlangrennt. Er hat keine Kopfbedeckung mehr und man kann das Zickzackmuster seiner geflochtenen Cornrows erkennen. Ich frage mich, wo er wohl hinwill.
»Halt!«
Ich drehe mich um und sehe, wie Larry seine Pistole direkt auf T-Bird richtet.
»Er ist unbewaffnet!«, schreie ich.
»Halt!«, ruft Larry wieder.
Ich höre einen einzigen Knall, wie von einem Knallfrosch. T-Bird hält inne. Er ist eindeutig nicht getroffen, aber er bleibt stehen, ein bisschen zu abrupt, und dreht sich zu dem Schützen um – der ganz offensichtlich sein Ziel verfehlt hat –, unsicher auf einem Fuß balancierend, direkt am Rand des Dachs.
»Er ist unbewaffnet!«, schreie ich erneut.
Ich sehe den tölpelhaften, fast schon komischen Ausdruck von Überraschung auf T-Birds Gesicht, als er rückwärts taumelt und seine Füße den Kontakt zum Boden verlieren. Seine Arme rudern in der Luft, sein Gesicht verzerrt sich angestrengt, während er über den Dachrand kippt. Die Sohlen seiner grellweißen Turnschuhe sind das Letzte, was ich von ihm sehe, dann ist T-Bird aus meinem Blickfeld verschwunden.
* * *
Mir wurde schlecht. Ich brach noch auf dem Dach zusammen. Ich glaube nicht, dass ich das Bewusstsein verlor. Aber ich fiel schwer zu Boden, als hätte ich einen plötzlichen heftigen Fieberanfall. Mir wurde heiß und kalt zugleich. Genau dieses Gefühl hatte ich auch gehabt, als ich die E-Mail von Brogus in meinem Büro las – diesmal nur viel schlimmer. Ich bekam kaum noch Luft. Patsy DeFestina war nirgendwo zu sehen. Wo war sie? Die Szene vor meinen Augen mit den zahllosen Polizisten auf dem Dach wurde immer unschärfer. Mein linkes Auge tat höllisch weh. Das Nächste, was ich mitbekam, war, dass ich ausgestreckt auf dem Rücksitz eines Streifenwagens lag, mir der Schweiß ausbrach und ich am ganzen Körper zitterte. Draußen jaulten Sirenen und zahlreiche Stimmen waren zu hören. Vor meinem geistigen Auge sah ich T-Bird in diesem tragischen Slapstick-Moment, als er nach hinten kippte: Wie seltsam es war, ihn da vor mir zu sehen, mit verzerrtem Gesicht, mit den Armen rudernd, und dann, eine Sekunde später, sehe ich nichts mehr bis auf den grauen Himmel, wo eben noch sein Körper gewesen ist. Und in meinem Kopf der nicht enden wollende Widerhall der Worte: Du … hast … ihn … umgebracht. Mir wurde übel, ich kotzte auf den Boden des Streifenwagens, und das muss wohl der Moment gewesen sein, als ich das Bewusstsein verlor.
* * *
»Clay, sind Sie wach? Ich bin’s, Patsy. Hey, da sind Sie ja wieder. Da haben Sie sich aber ein ganz schön blutiges Auge geholt. Autsch.«
Ich setzte mich langsam auf. Ich erschrak angesichts der fadenscheinigen Decke, in die ich eingewickelt war. Ich saß auf einem Sofa in einem kleinen, undefinierbaren, schwach erleuchteten Büro. Durch das eine schmale Fenster konnte ich erkennen, dass es draußen schon dunkel war.
»Sie sind in der Polizeistation von Impediment, es ist 18:30 Uhr«, sagte Patsy und beantwortete damit meine ersten beiden Fragen, bevor ich sie gestellt hatte. Sie saß neben dem Sofa auf einem Stuhl, ihre Füße berührten nur knapp den Boden. »Können Sie bitte mal irgendwas sagen?«
»Irgendwas«, krächzte ich. Ich war immer noch nicht ganz bei mir, alles kam mir schleierhaft vor und seltsam abstrakt.
»Gut. Hören Sie zu. Tyrell Williams hat den Sturz nicht überlebt. Das ist jammerschade, ein schrecklicher Unfall. Larry hat einen Warnschuss abgefeuert – in die Luft –, worauf der Junge Angst bekam und gestolpert ist.«
»Die Lebenserwartung eines Streichholzes«, sagte ich bitter. »Stimmt’s, Patsy?«
»So etwas passiert manchmal.« Jetzt war die stählerne Härte wieder in ihre Stimme zurückgekehrt. »Folgendes müssen Sie wissen: Ich habe Ihren Namen rausgehalten. Die Presse hat bereits Wind von der Sache bekommen. Haben Sie mich verstanden, Clay? Ich habe Ihren Namen rausgehalten. Nur wenige Personen – und keine davon ist Journalist – wissen, dass Sie mit uns auf dem Dach waren. Ich schütze Sie.«
»Was ist, wenn ich meinen Namen nicht raushalten will? Was ist, wenn ich das, was ich gesehen habe, in der Zeitung bringe?«
Patsy starrte mich durch ihre riesige Brille hindurch an. »Dies ist ein freies Land«, sagte sie. »Aber es gibt da noch einiges, was ich Ihnen mitzuteilen habe. Für den Fall, dass Sie tatsächlich einen weiteren Artikel darüber schreiben wollen. In Jennifer Wolfshiems Leiche wurde Sperma gefunden. Und es war nicht das Sperma von Reggie Brogus. Das FBI hat DNA-Proben von Brogus aus den frühen Achtzigern. Sie werden auch von dem verstorbenen Tyrell Proben nehmen, aber ich hab’s im Gefühl, dass das Sperma im Körper der Wolfshiem auch nicht von ihm ist.«
Mir wurde erneut schlecht. Das Bild von Jennys nacktem Körper auf dem Sofa im Büro von Reggie tauchte wieder vor meinem geistigen Auge auf. Ich sah, wie T-Bird über die Dachkante fiel. Jenny und T-Bird. Zwei Neunzehnjährige, beide tot. Und ich war in beide Todesfälle verwickelt. Ich spürte den beißenden Schmerz einer heißen Träne in meinem verletzten Auge.
»Und ich will Ihnen noch was sagen«, fuhr Patsy fort. »Jemand von der Arden University hat mich angerufen heute Nachmittag. Offenbar haben Sie auch einen Schlüssel zu den Räumlichkeiten des Afrikamerika-Instituts, Clay. Und eine Sache will ich Ihnen noch sagen: Es gehen Gerüchte um, Sie hätten Jennifer Wolfshiem gekannt – womöglich sogar im biblischen Sinn. Und dies noch, Clay: Wir haben gerade einen Ausdruck der Anrufliste von Reggie Brogus’ Mobiltelefon bekommen. Den letzten Anruf hat er am Montagmorgen um 2:27 Uhr getätigt. Und raten Sie mal, wo er angerufen hat? Bei Ihnen zu Hause! Er hat ungefähr eineinhalb Minuten mit jemandem dort gesprochen. Ist das nicht merkwürdig?«
Ich war kurz davor zusammenzubrechen, am Ende meiner Kräfte, wollte endlich gestehen. »Patsy«, sagte ich heiser, »ich kann alles erklären.«
»Warten Sie damit noch. Es war ein langer Tag, auch für mich, wissen Sie. Ich habe einen Beamten besorgt, der Sie zurück nach Arden bringt. Ich könnte Sie auf der Stelle festnehmen. Aber ich weiß auch nicht, Clay, aus irgendeinem Grund mag ich Sie. Gehen Sie nach Hause zu ihrer Familie. Ich könnte mir vorstellen, dass Sie Ihrer Frau eine Menge erklären müssen. Vielleicht wollen Sie sich auch mit einem Anwalt beraten. Schlafen Sie sich aus und kommen Sie morgen früh um sieben Uhr zur Polizeistation in Arden. Fragen Sie am Empfang nach mir. Bringen Sie Ihren Anwalt mit, wenn Sie wollen. Sie werden einige Stunden lang befragt werden. Blutprobe, Fingerabdrücke, Haarproben. Wie gesagt, Clay, ich mag Sie. Aber wenn ich herausfinde, dass Sie für das verantwortlich sind, was diesem Mädchen zugestoßen ist, dann werde ich alles daransetzen, dass Sie vor Gericht gestellt, überführt und zum Tode verurteilt werden. Und am Tag Ihrer Hinrichtung werde ich eine Flasche Champagner öffnen. Heute Abend gilt noch die Unschuldsvermutung. Gehen Sie nach Hause zu Ihrer Frau und Ihren Kindern. Aber seien Sie morgen früh Punkt sieben Uhr auf der Polizeistation. Wenn Sie sich nur um eine Minute verspäten, gehe ich los und bringe Sie zur Strecke.«