11

Als Amerikaner hatte ich immer angenommen, der englische Feiertag namens Boxing Day habe etwas mit Faustkampf zu tun.

»Tatsächlich, old bean«, belehrte mich Roger Pym-Smithers, »geht es hier um christliche Nächstenliebe. In den alten Zeiten wurde in den Kirchen ein Weihnachtskasten aufgestellt, die Christmas Box. Die Gläubigen warfen dann Münzen hinein und dieses Geld, auch ›Box Money‹ genannt, wurde am 26. Dezember an die Bedürftigen verteilt. Daher der Name Boxing Day.«

Normalerweise waren Penelope und ich am zweiten Weihnachtsfeiertag mit den Mädchen in Philadelphia, wo wir Pens Eltern und meine Mutter oder meinen Vater und seine zweite Frau besuchten. Aber dieses Mal hatten wir uns entschieden, die ganze Weihnachtszeit in Arden zu verbringen. Als ich Roger am letzten Tag des Semesters auf dem Campus traf, erzählte ich ihm, wir würden die Feiertage zu Hause verbringen, und er meinte, wir »müssten einfach« am Boxing Day zum Abendessen zu ihnen kommen.

»Es handelt sich um eine Tradition bei uns«, erklärte er in diesem hochgestochenen britischen Akzent eines Eton-Zöglings. »Es ist mein bescheidener Versuch, mich auf meine Wurzeln zu besinnen, wie Kwanzi es ausdrückt. Nicht, dass ich zu diesem Zweck Almosen an die Armen verteile, ich bitte dich. Ich bereite einfach nur einen Fasan zu und backe ein paar mince-pies. Normalerweise sind wir nur zu zweit. Aber wir wären glücklich, wenn du und deine liebenswerte Frau Gemahlin uns die Ehre gäbet.«

Roger Pym-Smithers hatte die Gabe, alles, was aus seinem Mund kam, sogar eine Einladung zum Abendessen, ironisch und hämisch klingen zu lassen. Er grinste anzüglich, zog seine schmalen, schräg nach oben stehenden Augenbrauen zusammen, wodurch sich die Haare an den Spitzen so bogen wie Teufelshörner. Ich fand Rogers Gesellschaft immer amüsant, und es war lange her, dass ich Kwanzi Authentica Parker gesehen hatte, also stimmte ich sofort zu. Natürlich hätte ich vorher meine Frau fragen sollen.

»Um Punkt 22 Uhr gehe ich«, sagte Penelope, als wir uns am zweiten Weihnachtsfeiertag gegen 19 Uhr auf den Weg zum Haus von Roger und Kwanzi machten. »Ich erkläre dir meine Exitstrategie jetzt schon, damit du mir nicht in die Quere kommst, wenn es so weit ist.« Pen saß am Steuer des Volvo und gab mir zu verstehen, dass sie den Wagen mitnehmen würde, wenn sie losfuhr, um Ashley und Amber bei Mrs. Henderson abzuholen. »Wenn du noch länger mit Monsieur le Connaisseur abhängen willst, kannst du das gerne tun. Aber dann musst du zu Fuß nach Hause gehen. So weit ist es ja nicht.«

»Jawohl, Liebling«, sagte ich.

Wir hatten nur einmal zuvor bei Roger und Kwanzi zu Abend gegessen, vor zwei Jahren, kurz nachdem wir nach Arden gezogen waren, und Pen hatte es nicht so genossen. »Ich mag Kwanzi«, sagte sie hinterher. »Und ich habe nichts gegen Roger. Aber die beiden haben irgendwas Klaustrophobisches an sich, als würden sie schon viel zu lange in diesem muffigen Haus aufeinanderhocken. Ich meine, sie sind sehr gastfreundlich. Man hat nur ständig das Gefühl, das Abendessen bei Ihnen könnte ganz plötzlich zu Wer hat Angst vor Virginia Woolf? ausarten.«

Meine Frau fand es auch gar nicht lustig, dass ich mich an diesem Abend im Herbst 1989 heillos betrank. Roger hatte sich einen umfangreichen Weinkeller eingerichtet und darauf bestanden, dass wir einige Kostbarkeiten aus seiner Sammlung probierten. Er und Kwanzi konnten eine Menge wegstecken. Und ich bemühte mich tapfer mitzuhalten, Flasche für Flasche. Penelope war an diesem Abend nicht als Fahrerin verpflichtet, aber darauf lief es hinaus, nachdem sie ihren volltrunkenen Ehemann auf den Beifahrersitz manövriert hatte.

»Versuch, um Mitternacht zu Hause zu sein«, sagte sie zwei Jahre später, als wir zum Boxing Day Dinner fuhren.

»Ich werde mein Bestes tun, Liebes«, sagte ich. »Aber du weißt ja, wie schwer es ist, Rogers englischem Charme zu widerstehen.«

»Igitt!« Pen erschauerte.

* * *

Woran konnte ich mich also noch erinnern in Bezug auf diesen Abend am 26. Dezember 1991?

Ich weiß noch, wie mir der Gedanke kam, dass Kwanzi und Roger wirklich ein merkwürdiges Paar waren – die spirituelle Soul Sister aus Jersey und der exzentrische aristokratische Brite mit dem Bindestrich-Nachnamen – und wie perfekt sie sich doch ergänzten. Sie lebten in einem Tudor-Haus, das von außen recht hübsch aussah, innen aber chaotisch, unaufgeräumt und lieblos eingerichtet war. Trotzdem schienen Kwanzi und Roger sich in ihrem mit zahllosen Bücherstapeln vollgepackten Haus wohlzufühlen, auch wenn ihr Heim den provisorischen Charme eines Studentenwohnheims ausstrahlte. Das unterschwellig Unheimliche im Zusammenleben von Roger und Kwanzi, das meine Frau bemerkt zu haben glaubte, konnte ich nicht nachempfinden. In meinen Augen hatten sie eine lockere, harmonische Beziehung, wie sie für viele Paare typisch ist, die schon lange zusammenleben und sich immer noch gern haben. Trotzdem mutete etwas an ihnen traurig an. Lag es daran, dass sie keine Kinder hatten? Kwanzi hatte mir einmal erklärt, dass sie und Roger sich bewusst gegen Kinder entschieden hätten. »Wir waren so sehr verliebt«, hatte sie mir mal bei einem Mittagessen in der Mensa erklärt, »und genossen unseren Lebensstil, dass wir uns ein Kind nicht vorstellen konnten.« Sie zuckte mit den Schultern. »Und jetzt ist es zu spät.«

Soweit ich mich erinnere, waren die Unterhaltungen während dieses Boxing Day Dinners angenehm und lebendig. Wir sprachen über die Sowjetunion, die einen Tag zuvor von Michail Gorbatschow aufgelöst worden war. Wir sprachen über den vieldiskutierten Film JFK von Oliver Stone, obwohl keiner von uns ihn bis dahin gesehen hatte. Und von dort war es nur ein kleiner Schritt hin zum Lieblingsthema von Kwanzi und Roger: die Sechziger. Oder, genauer gesagt: »Die sechziger Jahre und wie unglaublich großartig es damals war und wie tragisch es ist, dass du noch zu jung warst, um dabei zu sein.« Wir aßen den Fasan – der gut war, wenn auch ein bisschen streng für meinen Gaumen – und die geschmacklosen, gummiartigen mince pies. Wir diskutierten über Essen und Reisen, und ich erinnere mich noch, wie erleichtert ich war, nicht über das Afrikamerika-Institut und sonstige Uni-Angelegenheiten sprechen zu müssen. Und wir tranken: eine Flasche Beaujolais, einen Burgunder, einen Bordeaux, und dann kamen Tropfen aus Rogers Lieblingsregion an die Reihe: Côtes du Rhône.

»Ah, die Nase, die Nase!«, schwärmte Roger, beugte sich vor und steckte seinen rosaroten Rüssel weit ins Glas hinein. Er atmete tief ein, dann hob er den Kopf wieder. Seine Augen waren geschlossen, ein Lächeln umspielte seine Lippen. Ganz klar, er war entzückt. »Das Bouquet steigt aus dem Glas«, sagte er, die Augen immer noch geschlossen, während seine Nasenflügel bebten. »Ah, ein Gigondas! Dieser robuste Duft reichhaltiger Tannine. Oh là là, was für Aromen …« Seine Nase kräuselte sich. »… pfeffrig … kräuterig … opulent und ungestüm …« Er öffnete langsam seine triefenden Augen. »Geräucherte Wurst … Leder.« Er nahm einen tiefen, gierigen Schluck. Seine geröteten Wangen beulten sich aus, während er den Wein im Mund hin und her gleiten ließ. Ich sah, wie seine Kehle sich wölbte, als er ihn hinunterschluckte. »Und dieses Bukett: vollmundig, üppig … zäh.«

»Zäh?«, sagte ich. »Eine zähe Flüssigkeit?«

Roger schnüffelte an seinem Glasrand. »Wo wir gerade dabei sind, da steigt sogar ein leichtes Röstaroma wie von Erdnuss in die Nase.«

»Ich mag aber keine gerösteten Erdnüsse in der Nase haben!«, rief ich aus und brach in unkontrolliertes Kichern aus, begeistert von meiner albernen, kindischen Bemerkung. Ich war schon sehr betrunken und fand seine Assoziationen wahnsinnig komisch. Ich konnte mich gar nicht mehr einkriegen. Je mehr ich es versuchte, umso schlimmer wurde mein Lachanfall.

»Willst du mich etwa anpissen, old bean?«, rief Roger gutgelaunt. »Willst du mich anpissen?«

Kwanzi lächelte. »Das ist nur so eine britische Formulierung. Er meint: Willst du dich über mich lustig machen?«, erklärte sie.

Ich konnte immer noch nicht aufhören zu lachen.

»Nur weiter so«, stimmte Roger in mein Lachen ein.«Piss mich an. Har-har-HAR!«

Penelope warf mir einen angewiderten Blick zu und schaute auf ihre Armbanduhr. »Vielen Dank für den wunderbaren Abend«, sagte sie. »Aber ich muss jetzt los und die Mädchen abholen.«

»Du willst doch nicht etwa schon gehen«, protestierte Roger. »Wir haben noch nicht mal den Châteauneuf-du-Pape probiert!«

Penelope hatte sowieso keinen Tropfen Alkohol angerührt. »Clay kann ja noch bleiben und weiter probieren, aber ich muss leider los.«

Roger, Kwanzi und ich standen in der Haustür des Tudor-Hauses und winkten Penelope zum Abschied zu, als sie den Volvo rückwärts aus der Einfahrt manövrierte. Aus dem letzten Blick, den meine Frau mir zuwarf, konnte ich lesen, dass ich verdammt noch mal gut daran täte, bis Mitternacht daheim zu sein. Als wir wieder im Haus waren, erklärte Kwanzi, sie habe Kopfschmerzen, und ging nach oben ins Schlafzimmer. Roger und ich setzten uns in sein Arbeitszimmer. Ich fühlte mich ziemlich wacklig, als ich mich auf den weichen Sessel aus violettem Samt fallen ließ.

»Freut mich, dass du noch bleiben kannst, old bean«, sagte Roger, während er eine weitere Weinflasche entkorkte. »Ich wollte mich sowieso mal mit dir unterhalten. Seit geraumer Zeit schon.« Er starrte mich aus seinen triefenden grauen Augen an. »Es geht um Reggie Brogus.«

* * *

Fast zwei Monate später, am Abend des 19. Februar 1992, dachte ich fieberhaft darüber nach, welchen Verlauf meine betrunkene Unterhaltung mit Roger Pym-Smithers von da an genommen hatte. Ich schaute aus dem Fenster des Streifenwagens, als er durch die Innenstadt mit ihrer Einkaufsmeile fuhr, durch das Farmland, und schließlich die kleine, hübsche Universitätsstadt erreichte, in der ich lebte. Am Steuer saß Officer Daniels, ein schwarzer Polizist ungefähr in meinem Alter. Wir sprachen die ganze Fahrt über nicht miteinander, aber es war kein angespanntes oder gar feindseliges Schweigen. Ich hatte keine Ahnung, was Daniels von mir dachte oder über das, was T-Bird zugestoßen war. Ich wollte es auch gar nicht wissen. Ich hatte genug anderes im Kopf.

Zum Beispiel die Frage nach dem Anwalt. Wenn ich bisher einen gebraucht hatte, hatte ich meinen Vater in Philadelphia angerufen, und er hatte sich an seinen Rechtsberater Frank Tatum gewandt, einen ehemaligen Bürgerrechtsanwalt, der, seit er der Bewegung den Rücken gekehrt hatte, eine lukrative Kanzlei für Belange der schwarzen Mittelschicht betrieb. Aber wie sollte ich meinem Vater oder Frank Tatum meine Situation erklären? Ich musste jemand anderen finden. Trotzdem würde es kaum möglich sein, die katastrophale Wendung, die mein Leben genommen hatte, vor meinen Eltern und dem Rest der Welt zu verheimlichen.

Und in weniger als einer Stunde würde ich meiner Frau alles gestehen. Ich würde damit anfangen, ihr die Sache mit Seeräuber-Jenny zu erklären: »Es war keine echte Affäre, Liebling, nur zwei schnelle Ficks auf ihrem Futon und ein Blowjob in meinem Büro.« Dann, in Sachen Brogus: »Ja, klar, ich habe ihn zum Flughafen gefahren. Wozu sind Freunde denn da?« Und schließlich würde ich ihr von diesem Nachmittag erzählen: »Ja, ich habe die Cops dazu gebracht, einen jungen Schwarzen in den Tod zu treiben. Tut mir leid!« Ich versuchte mir vorzustellen, wie Penelope reagieren würde, aber es gelang mir nicht. Wir bewegten uns hier in unbekannten Gewässern.

Ich lehnte meine Stirn gegen die Scheibe des Streifenwagens. Am liebsten hätte ich geweint, aber das wäre mir vor Officer Daniels peinlich gewesen. Es tat furchtbar weh, mir vorzustellen, wie sehr ich meine Frau verletzen würde. Besser wäre es, sich auf einen anderen Aspekt dieser Katastrophe zu konzentrieren, und da fiel mir Kwanzis rätselhafte Bemerkung vor dem Donut-Laden an diesem Morgen ein: »Ich weiß, was du am zweiten Weihnachtsfeiertag zu Roger gesagt hast.« Ich fing an, mir das gesamte Abendessen vor Augen zu führen. Bis zum Beginn meiner betrunkenen Unterhaltung mit Roger in seinem Arbeitszimmer, nachdem Pen nach Hause und Kwanzi zu Bett gegangen waren, konnte ich mich an keine provokante, entlarvende oder gefährliche Bemerkung erinnern. Aber was zum Teufel hatte ich im Arbeitszimmer zu Roger gesagt?

»Wo soll ich Sie absetzen, Professor?«, fragte Officer Daniels.

Wir näherten uns dem südlichen Bereich des Campus. Zuerst dachte ich, es wäre gut, er würde mich zum nördlichen Campus fahren, zu meinem Büro im Anglistik-Institut. Dort hätte ich meine Aktentasche holen, meine E-Mails checken (nur für den Fall, dass ich eine neue Nachricht von Amerikas meistgesuchtem Verbrecher bekommen hätte) und eine Entschuldigung für die Studenten verfassen können, die ich heute düpiert hatte. Dann hätte ich meinen Honda geholt, der hinter dem Gebäude der Fakultät stand, um nach Hause zu fahren und meine Frau und meine Familie zu zerstören.

Aber als der Streifenwagen am Mathematikgebäude am südlichen Campus vorbeifuhr, hörte ich lauter werdendes Rufen. »Lassen Sie mich bitte hier aussteigen.«

Als ich den Parkplatz hinter dem Gebäude überquerte, vernahm ich verwundert das laute, zornige, selbstbewusste Protestgeschrei hunderter schwarzer Stimmen, die wütend skandierten: »KEINE GERECHTIGKEIT – KEIN FRIEDEN! KEINE GERECHTIGKEIT – KEIN FRIEDEN! KEINE GERECHTIGKEIT – KEIN FRIEDEN!«

Die Kundgebung fand an genau demselben Ort statt wie die Totenwache für Jennifer Wolfshiem am Abend zuvor. Ich ging immer schneller, angezogen von den Rufen. Als ich den Eingangsbereich des Mathematikgebäudes erreichte, sah ich – genau wie vierundzwanzig Stunden zuvor – Pops Mulwray mit seiner grünen Hausmeistermütze und der dazugehörigen Jacke. Nur dass er heute Abend ins Gebäude hineinging statt herauszukommen. Außerdem hatte er eine braune Papiertüte in der Hand, die anscheinend mit Lebensmitteln gefüllt war. Als er die Tür aufstieß, drehte er sich zur Seite und sah, wie ich ihm entgegenkam. Sofort schaute er in die andere Richtung und ging hinein. Als ich an der Tür vorbeiging, hörte ich, wie er sie verriegelte. Ich dachte mir nichts dabei.

»KEINE GERECHTIGKEIT – KEIN FRIEDEN! KEINE GERECHTIGKEIT – KEIN FRIEDEN!«

Ich hatte noch nie so viele schwarze Arden-Studenten an einem einzigen Ort versammelt gesehen. Sie hielten keine Kerzen in den Händen, sondern hoben die geballten Fäuste in die eiskalte Luft, und ihre Rufe hallten über den quadratischen Innenhof. »KEINE GERECHTIGKEIT – KEIN FRIEDEN! KEINE GERECHTIGKEIT – KEIN FRIEDEN!«

Ein riesiges Banner aus Stoff, zwei Stockwerke hoch, war auf der behelfsmäßigen Bühne ausgebreitet worden, angeleuchtet von breiten, bläulichweißen Scheinwerfern. Auf dem Banner stand: TYRELL WILLIAMS 1972–1992. Daneben prangte ein stark vergrößertes Porträtfoto von T-Bird aus dem Uni-Jahrbuch. Er sah großartig aus mit seinem Talar und dem Akademikerhut mit der herabhängenden Quaste. In diesem Moment spürte ich den gleichen Schmerz in den Knochen wie in dem Augenblick, als ich während der Totenwache die Stimme von Seeräuber-Jennys Vater gehört hatte. Auch Tyrell Williams war Sohn von jemandem gewesen. Jetzt war er seinen Eltern genommen worden, eine Mutter weinte um ihn. Und das war meine Schuld. Wenn es möglich wäre, vor Scham zu sterben, ich wäre in diesem Moment auf der Stelle tot umgefallen.

Kreischendes, rauschendes Feedback war zu hören und übertönte die Rufe der Menge. Erst da bemerkte ich die Personen auf der Bühne. Kwanzi Authentica Parker, mit schwarzem Mantel und Kufi-Mütze, machte sich gerade am Mikrofonständer zu schaffen und verursachte das nervenzerreißende Quietschen. Um sie herum standen fünf oder sechs schwarze Studenten, ihre Kollegen aus dem Afrikamerika-Institut – Xavier Lumbaki und Arthur und Matilda Davenport – und die vier Mädchen, mit denen Seeräuber-Jenny versucht hatte, sich anzufreunden: Euphrasia, Tamika, Yolanda und Shereena. Nur ein Weißer stand im Scheinwerferlicht. Tatsächlich schien er die einzige weiße Person in der fünfhundert Menschen umfassenden Versammlung zu sein. Es war Roger Pym-Smithers mit seinem schwarzen Schlapphut und ebenso schwarzen Mantel, der zu dem passte, den seine Frau trug.

»Ich frage euch noch mal«, schallte Kwanzis heisere Stimme über den Platz. »Warum musste T-Bird sterben?« Mir wurde klar, dass ich offenbar in der Mitte ihrer Rede eingetroffen war. »Ich garantiere euch«, sagte sie, »ihr werdet morgen keine rührseligen Geschichten über den Tod von T-Bird Williams in der Zeitung lesen. Aber das geht in Ordnung, denn jetzt ist nicht die Zeit zu trauern. Jetzt ist die Zeit des Zorns gekommen!«

Die Menge brach in Jubel aus.

Kwanzi lächelte glückselig, ihre Augen leuchteten im Licht der bläulichweißen Scheinwerfer, während der Beifall ihr entgegenbrandete. Sie wartete, bis der Lärm sich gelegt hatte, bevor sie weitersprach: »Wir müssen die Welt wissen lassen, dass T-Bird Williams nicht umsonst gestorben ist! Wir müssen dafür sorgen, dass diejenigen, die für den Tod dieses jungen Mannes verantwortlich sind, es teuer bezahlen!«

Ich stand in der Menge, die mit Fell gesäumte Kapuze über den Kopf gezogen, die Hände in die Taschen meines Parkas geschoben. Die furchtbare Scham, die ich eben noch empfunden hatte, war einer bizarren Form von Verwirrung gewichen. Mir kam der Gedanke, dass die anwesenden Afroamerikaner, wenn sie wüssten, was sich heute Nachmittag in Impediment wirklich zugetragen hatte, mich wahrscheinlich auf der Stelle lynchen würden.

»Ich verspreche euch«, setzte Kwanzi ihren Singsang fort, »ich werde eure Botschaft im ganzen Land verbreiten.« Sie hielt kurz inne, schloss die Augen und fuhr dann stolz fort: »Noch heute Abend werde ich ein Flugzeug nach New York nehmen. Und morgen werde ich live in der landesweit ausgestrahlten Sendung Rise and Shine America! auftreten. Und ich werde Gerechtigkeit verlangen. Gerechtigkeit für Reggie Brogus. Gerechtigkeit für T-Bird Williams. Ihr solltet also morgen früh aufstehen – oder zumindest eure Videorekorder programmieren. Die Sendung läuft um halb sieben Uhr morgens. Schaut sie euch alle an!« Kwanzi machte eine Pause, als würde sie tosenden Beifall erwarten. Es gab aber nur spärlichen Applaus. Kurz sah sie aus, als würde sie von Panik erfasst. »Okay«, sagte sie, »und jetzt möchte ich das Mikrofon jenem Mann übergeben, der zu Recht als der beste Freund der afroamerikanischen Community auf diesem Campus gilt: Roger Pym-Smithers!«

»Wer?«, hörte ich einige Studenten hinter mir sagen.

Roger trat dicht vor den Mikrofonständer, umklammerte den dünnen Metallstab mit beiden Händen und fummelte ängstlich daran herum. »Ich möchte nur sagen, also, ich denke, es ist … Kwanzi hat mich gebeten, hier heute Abend zu sprechen … weil …« Die Menge war jetzt völlig still. Roger blickte nervös hierhin und dorthin. »Als weißes Mitglied dieser Fakultät … habe ich das Gefühl, es muss einmal gesagt werden, dass …« Roger schien an Selbstvertrauen zu gewinnen. Seine Stimme wurde fester, er klang weniger zögernd, auch wenn er immer noch am Mikrofonständer herumfummelte. »Ich denke, es ist skandalös, dass die Leute immer wieder die Schwarzen als Gewalttäter hinstellen. Ich meine, wir – die weißen Männer – wir sind doch in Wahrheit die blutrünstigen Wilden! Nicht ihr! Nicht ihr Schwarzen! Ich meine, da wo ich herkomme, in Europa, haben wir uns tausende Jahre lang gegenseitig abgeschlachtet! Schaut euch nur an, was gerade in Jugoslawien passiert, verdammt noch mal!«

Roger hielt inne. Die Menge antwortete mit absolutem und quälendem Schweigen.

Kwanzi schob ihren Mann rasch vom Mikrofon weg. »Gut gesprochen!«, rief sie aus und klatschte lebhaft. »Hört, hört! Sehr gut gesprochen!« Einige Studenten ließen sich zu halbherzigem Applaus verleiten. »Wirklich sehr gut gesprochen«, jubelte Kwanzi. Roger lächelte und winkte schüchtern ins Publikum.

Ich drehte mich um und bahnte mir meinen Weg durch die Menge. Hinter mir hörte ich Kwanzis laute Stimme: »Und nun möchte ich, dass wir alle zusammen den alten Protestsong anstimmen. Das Lied, das wir damals in den Sechzigern gesungen haben, lange vor eurer Geburt. Aber der Text wird euch bekannt vorkommen. Singt mit mir. Eins … zwei … drei …«

Als ich die Menge hinter mir gelassen hatte und auf dem Weg zum anderen Teil des Campus war, wo sich der Fachbereich für Anglistik befand, hörte ich, wie fünfhundert schwarze Stimmen »We Shall Overcome« anstimmten, und war zutiefst gerührt. Und mein Herz war, wie Kwanzis, in die Sechziger zurückversetzt. Aber in Gedanken war ich wieder bei diesem verflixten zweiten Weihnachtsfeiertag.

* * *

»Es ist ein Putsch in Vorbereitung«, sagte Roger Pym-Smithers, und es gelang ihm, gleichzeitig ahnungsvoll und sarkastisch zu klingen. »Jedenfalls gibt es gewisse Gerüchte.«

Ich schnupperte sehr ausgiebig an meinem Glas mit dem Châteauneuf-du-Pape. »Mhmmmm«, sagte ich. »Schwarze Johannisbeere … brennendes Herbstlaub … ein üppiger Hauch von Fußpilz.«

»Ich meine es ernst«, sagte Roger, klang aber nur halb ernst. »Du bist doch mit Reggie Brogus befreundet, stimmt’s?«

Ich sank noch tiefer in den gemütlichen Samtsessel. Rogers Arbeitszimmer verströmte die gleiche staubige Atmosphäre wie die übrige Wohnung, hatte aber wegen der altmodischen Möbel eher einen großväterlichen Charakter. Ich merkte, wie meine angenehme Trunkenheit sich langsam in eine unangenehme verwandelte. »Weißt du, old bean«, sagte ich zu Roger. »Ich habe im vergangenen Semester so viele Gespräche über Reggie Brogus geführt, dass ich wirklich keine Lust mehr habe, über ihn zu reden.«

»Ganz recht! So geht es uns allen. Aber wir müssen über ihn reden. Weil er sich uns aufzwingt! Das ist ja Teil der Strategie dieses verschlagenen Genies! Das hat ihn in den Sechzigern zu einem charismatischen Anführer gemacht und heute zu einer drohenden Gefahr.«

»Ich glaube, da überschätzt du ihn.«

»Nun, zweifellos kennst du ihn besser als ich.« Roger grinste mich anzüglich an, seine Augenbrauen hoben sich teuflisch. »Du kennst ihn besser als jeder andere auf diesem Campus.«

Jetzt war ich gereizt. »Roger, ich hab ein paar Mal mit dem Typen zu Mittag gegessen und ihn seit Anfang November kaum mehr gesehen.«

»Dann hat er dir gegenüber nichts davon erwähnt, dass er seine Gastprofessur um ein Jahr verlängern will? Dass Jerry Shamberg ihm eine Verlängerung angeboten hat – und eine Gehaltserhöhung?«

Beinahe hätte ich mich an meinem Wein verschluckt. »Gehaltserhöhung!«

»Wenn er Fachbereichsleiter wird, ist das ganz normal.«

»Du glaubst doch nicht wirklich, dass …«

»So wird es kolportiert, Clay. Ich dachte, du könntest uns vielleicht Licht ins Dunkel bringen.«

»Reggie Brogus soll Leiter des Afrikamerika-Instituts werden?«

»American Negro Studies«, sagte Roger gedehnt und ahnungsvoll-sarkastisch: »Brogus will das Institut offenbar auch umbenennen.«

»Davon weiß ich nichts.«

»Wirklich nicht?« Roger klang, als würde er mir nicht glauben, aber ich sagte die Wahrheit. Warum hätte ich lügen sollen? »Tja, es wird jedenfalls einiges umstrukturiert werden«, sagte er. »Die Davenports werden sich zum Ende des kommenden Semesters zur Ruhe setzen, und Xavier Lumbaki kehrt nach Paris zurück. Wenn Brogus nicht weitermacht, wäre Kwanzi die einzige Professorin in diesem Programm. In diesem Fall kann ich mir nicht vorstellen, dass Dekan Shamberg aus dem Afram-Institut einen vollwertigen Fachbereich machen wird. Aber wenn er das Programm doch weiterlaufen lässt, dann bedeutet das, ganz egal ob Brogus bleibt oder nicht oder wer sonst als Dozent verpflichtet wird, dass Kwanzi Authentica Parker es verdammt noch mal verdient hat, die Leitung zu übernehmen! Es ist ihre Abteilung!«

Roger hatte jeden ironischen Unterton verloren. Ich sah, wie sich der Himbeerton auf seinen Wangen intensivierte. »Du hast ja recht«, sagte ich.

»Du stimmst mir zu?«

»Selbstverständlich.«

Roger strahlte. »Wunderbar!« Zufrieden nahm er einen großen Schluck von seinem Wein. »So, und das bringt mich zum nächsten Gerücht, das die Runde macht: Dass du, Clay, im kommenden Jahr zum Afram-Institut dazustoßen wirst.«

»Hat Dekan Jerry dir das erzählt?«, fragte ich. Roger grinste nur. Ich fragte mich, ob er seine Augenbrauen vielleicht wachste und kämmte, damit sie so hervortraten. »Stimmt aber nicht.«

»Aber wenn es so wäre, wenn du mit Kwanzi und Reggie im nächsten Jahr im Afram-Institut unterrichtest, dann würdest du Kwanzi als Vorsitzenden unterstützen?«

»Als Vorsitzende

»Ach, sei doch nicht so schrecklich amerikanisch! Ich will nur Folgendes wissen: Können wir auf dich zählen, bist du auf Kwanzis Seite?«

»Ja, sicher, klar doch!«, rief ich zornig aus und trank mein Glas in einem Zug leer. Roger beugte sich eilfertig vor, um es nachzufüllen. »Nur eins noch«, sagte ich.

»Eine andere Frage, wenn du erlaubst, old bean. Hast du mal von einem gewissen Trevor Bledsoe III gehört?«

»Klar, ich kenne Trevor.«

Roger sprach von dem Direktor der Africana Studies am Vymar College in Massachusetts. Altersmäßig stand er ungefähr zwischen Reggie und mir, ein geschickt agierender, leutseliger Schwarzer, der immer häufiger in den Kommentarspalten der Zeitungen, in einflussreichen Zeitschriften und in der Huck-Blossom-Show als Experte zum Thema Race auftauchte. Reggie hatte mir mal geraten, mich an Trevor Bledsoe III zu orientieren. Auch wenn Trevor nicht so polternd auftrat und so konservativ argumentierte wie er, hatte Reggie ihn als »Fürsprecher der richtigen Ideen« bezeichnet.

»Du kennst ihn persönlich?«

»Hab ihn ein paar Mal in New York getroffen.«

»Und?«

»Schien mir immer ein netter Kerl zu sein. Vielleicht ein bisschen sehr von sich eingenommen, aber umgänglich.«

»Nun, dieser Kerl, wie du sagst, soll im kommenden Jahr zum Afram-Institut stoßen, und er wird sich zweifellos auf die Seite von Reggie Brogus schlagen! Womöglich werden sie sich den Vorsitz teilen! Es heißt, Shamberg und Brogus hätten Trevor Bledsoe III beide mit Versprechungen in Bezug auf Geld, Status und sonstigen Vergünstigungen nach Arden gelockt. Offenbar ist Trevor inzwischen zu einem Medienliebling aufgestiegen. Letzte Woche traf ich Shamberg zum Mittagessen, und er sagte, dass in New York derzeit alle von Trevor und Reggie, Trevor und Reggie, Trevor und Reggie sprechen. Kwanzi macht es völlig fertig, ständig von den beiden hören zu müssen. Kürzlich sind sie gemeinsam in der Huck-Blossom-Show aufgetreten und Kwanzi kreischte geradezu: ›Da sind die beiden schon wieder zusammen! Was soll das? Sind die ein Liebespaar?‹ Ich dachte mir, dass das vielleicht kein falscher Gedanke ist.«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass Reggie hundert Prozent hetero ist, Roger. Und was Trevor Bledsoe betrifft, er hat eine Frau und zwei Kinder.«

Roger grinste schief. Er schenkte sich ein weiteres Glas Wein ein. »Damals in England, als ich noch ein junger Dozent war, trat ich einem Club bei, einem ziemlich exklusiven. Schon bald bemerkte ich, dass nicht wenige der mitunter sehr distinguierten Mitglieder sich gegenseitig fickten. Es war ein reiner Männerclub natürlich. Nun, eines Abends teilte der Clubvorsitzende mir mit, am kommenden Donnerstag oder so würde das jährliche Bankett stattfinden, bei dem auch Frauen zugelassen seien. Eine Art Ladies’ Night sozusagen. Er ermunterte mich, meine Freundin mitzubringen. Ich sagte, das würde ich tun. Dann fragte ich ihn: ›Was machen denn die homosexuellen Mitglieder an so einem Abend?‹ Und er sagte: ›Na, die bringen ihre Ehefrauen mit, mein Lieber, ihre Ehefrauen.‹ Har-har-har!«

Ich stimmte in sein Lachen ein. »Noch so eine gute alte englische Tradition«, sagte ich.

»Oh, nicht nur englisch, old bean. Ich denke, wir sprechen hier von einem generationsspezifischen Sinn für Sitte und Anstand. Diese älteren, hochangesehenen Herren in meinem Club hatten die grundlegende Verlogenheit des gesellschaftlichen Lebens und des Ehestands erkannt. Sie hatten die Dualität des menschlichen Daseins erkannt und die Notwendigkeit, soziale Masken zu tragen. Meine Generation hat dann versucht, diese Masken herunterzureißen, wir wollten die ganze Verlogenheit beseitigen! Unsere Ideologie war Offenheit. Alles musste aus dem Verborgenen gezerrt werden. Und ich spreche jetzt nicht nur von Homosexualität. Um darüber zu urteilen, fehlt mir die Erfahrung. Ich bin, wie du vorhin formuliert hast, hundert Prozent hetero. Ich spreche hier von jeder Form von Sexualität. Meine Generation wollte, dass alles öffentlich diskutiert wird! Wir haben nicht verstanden, was die Generation vor uns verstanden hat: dass es nützlich ist, manche Dinge im Verborgenen zu belassen.« Roger nippte nachdenklich an seinem Glas Wein und schaute mich dann aus seinen wässrigen Augen an. »Und wie ist das bei deiner Generation, Clay?«

»Was soll mit uns sein?«

»Wie geht deine Generation mit der dem Ehestand immanenten Verlogenheit um? Tragt ihr Masken, trennt ihr das öffentliche vom privaten Leben? Oder breitet ihr alles öffentlich aus – eure sogenannte Untreue?« Roger fing allmählich an zu lallen.

Vor meinem trunkenen geistigen Auge sah ich den nackten Körper von Seeräuber-Jenny, wie sie unter mir auf dem Futon im flackernden Kerzenlicht zuckt, ihre weit aufgerissenen Augen und den zu einem perfekten O geformten geöffneten Mund, als sie kommt. Das war erst knapp drei Monate her, erschien mir aber inzwischen wie ein seltsamer, nur noch in Bruchstücken erinnerter Traum.

»Also, wie viele?«, fragte Roger.

»Was?«

»Wie viele? Mit wie vielen Frauen hast du gevögelt?«

»Insgesamt? Weiß ich nicht. Ich müsste erst mal nachdenken und durchzählen.«

»Ich weiß auch nicht genau, wie viele Frauen ich hatte«, sagte Roger. »Bei tausend hab ich aufgehört zu zählen.«

»Wow«, sagte ich leise.

»Natürlich fanden die meisten meiner Eroberungen in den Sechzigern und Siebzigern statt. Damals war alles viel einfacher. Ach, du weiß gar nicht, was dir da entgangen ist, old bean. Du bist einfach zu spät geboren.«

»Du warst ein ziemlich geiler Bock, was, Roger?«

»Nicht nur ich. Meine ganze Generation war so – Böcke, Bitches, alle wie die Karnickel! Du hättest mal Kwanzi in den Siebzigern in London erleben sollen. Ich bin mir sicher, dass sie an viel mehr Orgien teilgenommen hat als ich!« Roger nippte an seinem Wein und hob die Augenbrauen wie ein alter lüsterner Faun. »Wir sind beide ein bisschen ruhiger geworden. Trotzdem engagiere ich mich immer noch ein bisschen nebenher. Wusstest du, dass ich eine Wohnung in New York habe?«

»Nein, wusste ich nicht.«

»Hab ich tatsächlich. Wieso, glaubst du, fliege ich immer wieder dorthin? Ich habe einen regelrechten kleinen Fanclub im Big Apple.«

»Weiß Kwanzi davon?«

»Von der Wohnung? Natürlich weiß sie davon. Davon, dass ich andere Frauen vögele? Das weiß sie und sie weiß es auch wieder nicht. Wir verfolgen in dieser Hinsicht eine Politik des absichtlichen Nichtnachfragens. Wie Kwanzi immer sagt …« Roger wechselte in einen schrillen Tonfall, der mich zusammenzucken ließ: »He, Liebling, du muss’ mir echt nix davon erzähl’n, solang du’n Kondom benutz’! Har-har-HAR!«

Ich grinste angestrengt, konnte aber nicht darüber lachen. Rogers Imitation von Kwanzis Sprache klang überhaupt nicht wie Kwanzi. Nicht nur wegen seines kratzigen Falsetts, wohingegen Kwanzi eine tiefe kehlige Stimme hatte, sondern weil Rogers Imitation etwas von einer grotesken Minstrelshow hatte. Er klang wie Butterfly McQueen als dümmliche Sklavin Prissy in Vom Winde verweht: »Ich weiß nix vom Kriegen von Kindern!« Fand Roger etwa, dass seine Frau so klang?

»Aber was ist mit dir, Clay?« Roger sprach jetzt wieder in seinem üblichen anzüglichen, ironischen Tonfall. »Bestimmt hast du mit deiner Frau auch eine Art … Abmachung getroffen?«

»Nein, so abgehoben sind wir nicht.«

»Na komm, old bean. Ich bin mir sicher, dass auch du ein Geheimnis hast. Vielleicht sogar viele Geheimnisse. Jemand, der so wenig von sich selbst preisgibt, muss jede Menge zu verbergen haben.« Obwohl mein Glas nur halb leer war, füllte Roger es bis zum Rand. Ich protestierte nicht. Es war ein unglaublich guter Wein. »Ich glaube, wir sind uns ähnlich«, sagte Roger und lehnte sich in seinem Sessel zurück. »In dir steckt etwas Gefährliches. Du wirst, genau wie ich, vom Verbotenen angezogen.«

»Ach ja?«

»Aber ja. Ich bin von Natur aus ein Tabubrecher. Hättest du zum Beispiel gedacht, dass neunzig Prozent der Frauen, die ich gevögelt habe, schwarz waren?«

Ich war genauso skeptisch wie überrascht. »Roger, willst du damit sagen, du hättest mit neunhundert schwarzen Frauen geschlafen?«

»Oh, mindestens neunhundert. Tatsächlich habe ich seit 1969 mit keiner weißen Frau mehr geschlafen! Eure Frauen haben was Spezielles, old bean. Und ich spreche hier nicht nur von schwarzen amerikanischen Frauen. Ich habe den afrikanischen Kontinent bereist. Und ich kann kaum noch zählen, wie oft ich in Jamaikaaah war, Maaann!«

Das war einer dieser Momente im Leben, wo man nach einer passenden schlagfertigen Antwort sucht auf eine Aussage, die man vulgär und abstoßend findet, aber derart schockiert ist von dieser Vulgarität und Hässlichkeit, dass einem nichts dazu einfällt. In diesem Moment konnte ich nur sagen: »Aha, schön für dich, Roger.«

»Aber du, Clay. Du fühlst dich doch bestimmt auch vom Verbotenen angezogen. Bestimmt schaust du dir deine im vollen Saft stehenden jungen Studentinnen an und spürst, wie die Versuchung dich überkommt. Vor allem bei den weißen Mädchen. Den Verbotenen.«

Ich war total geschockt, aber zu betrunken, um eine Reaktion zu zeigen. Wieder musste ich an Seeräuber-Jenny denken, an ihre nackten Beine, die mich umklammerten, während sie sich unter mir wild hin und her warf. »Weißt du«, sagte ich, »Deutschland ist in vielerlei Hinsicht das genaue Gegenteil von Amerika. In Deutschland ist alles verboten – bis auf das, was erlaubt ist. In Amerika ist alles erlaubt – bis auf das, was verboten ist.«

Roger beugte sich vor, in seinen Augen leuchtete so etwas wie Anerkennung auf. »Sehr schön gesagt, old bean. Sehr schön gesagt.«

»Hör mal.« Mit einem Mal war ich aufgedreht und angestachelt. »Du willst was über meine Generation wissen? Ich erzähl dir jetzt was von meiner Generation. Wir nehmen unsere Verpflichtungen ernst. Okay? Ich habe mich Penelope verpflichtet. Lebenslang. Und es gibt verdammt noch mal nichts auf der Welt, was das ändern könnte.«

Roger sah jetzt verletzt aus. Er ließ sich in seinen Sessel zurückfallen. »Glaubst du denn, ich fühle mich Kwanzi nicht verpflichtet?«, sagte er heiser. »Old bean, ich bin Kwanzi vollständig und absolut verpflichtet, bis zum gottverdammten Ende unserer Tage!« Roger blinzelte jetzt heftig und ich hatte Angst, er könnte anfangen zu weinen. »Ich liebe sie, Clay«, sagte er krächzend. »Ich würde alles für Kwanzi tun. Ganz egal, wie viele andere Frauen es noch gibt.« Er sprach jetzt stockend, mit einem gequälten Unterton. »Und auch wenn da … nichts Sexuelles mehr ist … zwischen mir und Kwanzi … könnte das ja eines Tages wieder werden … Aber ich würde … alles tun … für sie. Verstehst du?« Eine Träne lief ihm übers Gesicht. »Alles.«

Das wurde mir jetzt doch zu intensiv. Ich stellte mein Weinglas auf dem Fußboden ab. »Tut mir leid, Roger, aber ich muss jetzt gehen. Wenn ich nicht vor Mitternacht zu Hause bin, wird Pen mich …«

Roger hob eine Hand. »Schon gut.«

Als ich im Parka in der Tür des Tudor-Hauses stand, bereit, den weiten Weg nach Hause anzutreten, hielt ich meinem Gastgeber die Hand hin. Anstatt sie zu ergreifen, packte Roger mich an der Schulter und drückte mich an sich. Er gab mir einen Kuss auf jede Wange, wie ein Europäer. »Gute Nacht, old bean«, sagte er. »Und viele Grüße an deine liebreizende Frau.«

Betrunken taumelte ich den Gehweg entlang und hörte, wie Roger hinter mir die Tür schloss. Ich zog meine gefütterten Handschuhe über und wischte mir Rogers Sabber aus dem Gesicht.

* * *

Also was zum Teufel hatte ich an diesem zweiten Weihnachtsfeiertag zu Roger Pym-Smithers »gesagt«? Fast zwei Monate später, als ich über den Campus ging und die Kundgebung für T-Bird Williams hinter mir ließ, hatte ich meine gesamte Unterhaltung mit Roger an diesem Abend in seinem Arbeitszimmer rekapituliert und konnte mich an nichts erinnern, was mich in irgendeiner Weise belastete. Ich erinnerte mich jetzt wieder, dass ich Roger als ziemlich aufdringlich empfunden hatte. Vielleicht hatte ich deshalb diese Unterhaltung aus meinem Gedächtnis gestrichen. Da ich Roger grundsätzlich mochte, wollte ich mich lieber nicht an seine ekligen Bemerkungen erinnern. Wahrscheinlich wollte ich mir auch nicht ausmalen, was in seinem verdorbenen Gehirn vorgegangen sein mochte, als er Penelope angeschaut hatte – eine schöne schwarze Frau.

Die Luft war beißend kalt an diesem Abend und ich spürte das vakuumartige Gefühl, das einem Schneesturm vorausgeht. Ich fand meinen Honda auf dem Parkplatz hinterm Anglistik-Institut. Alle Lichter im Gebäude waren aus. Ich schloss die Eingangstür auf und trat ins Foyer. Ohne weiter darüber nachzudenken warum, entschloss ich mich, das Licht nicht einzuschalten. Ich hatte keine Schwierigkeiten, meinen Weg durch den dunklen Flur zu meinem Büro zu finden. Als ich den Schlüssel im Schloss drehte, fragte ich mich, ob ich eine neue E-Mail von Reggie Brogus vorfinden würde. Ich schob die Tür auf, und während ich nach dem Lichtschalter an der Wand tastete, kam mir der Gedanke, dass sie Reggie wahrscheinlich schon gefasst hatten. Dann ging die Lampe unter der Decke an, und ich blieb wie angewurzelt stehen, konnte mich weder bewegen noch etwas sagen.

Er saß auf dem Stuhl hinter meinem Schreibtisch, den ehrwürdigen walnussbraunen Kopf leicht zur Seite gelegt. Obwohl er jetzt, um 20:30 Uhr, im Dunkeln saß, trug er immer noch seine grüne Sonnenbrille. Sein schwarzer Trenchcoat war bis zum Hals zugeknöpft. Ich spürte sofort, dass da noch jemand hinter mir stand. Ich fühlte, wie ein hartes Stück Metall durch den Stoff des Parkas hindurch gegen mein Rückgrat gedrückt wurde und meinen Verdacht bestätigte.

»Guten Abend, Professor«, sagte der Mann hinter meinem Schreibtisch mit tiefer, vor Freundlichkeit triefender Bassstimme. »Sie werden jetzt mit uns kommen. Fragen Sie nicht, wohin, denn das werde ich Ihnen nicht sagen. Aber was ich Ihnen schon jetzt sagen kann, ist, dass Sie diese Nacht entweder überleben werden … oder auch nicht. Das liegt ganz bei Ihnen.«