Das Erste, was passierte, war, dass Gertrude sich von ihr distanzierte.
Unglaublicherweise gingen sie und Alice den ganzen Weg von der Rue de Fleurus durch den nasskalten März, um ihr dies persönlich mitzuteilen.
»Ich möchte meine Leihkarte zurückziehen«, sagte Gertrude.
»Wie bedauerlich«, erwiderte Sylvia mit pochendem Herzen. Das war ein schlechtes Zeichen, wenn auch nicht überraschend. Dennoch stand sie felsenfest zu ihrer Entscheidung, Ulysses zu veröffentlichen. So viele Leute hatten ihr Glückwünsche, Freude und Dank ausgedrückt, von Bob McAlmon und Bryher bis zu Margaret Anderson höchstpersönlich, die Sylvia in einem Brief schrieb: »Ich bin überglücklich zu wissen, dass die beste Buchhandlung außerhalb von New York City dieses wichtige Werk herausbringt. Als Joyce mir von Ihrem Angebot berichtete, haben Jane und ich zu Ihren Ehren eine unserer letzten verbotenen Champagnerflaschen aufgemacht.«
Gertrude würde schon wieder einlenken. Und diese demonstrative Geste, extra zu Shakespeare and Company zu marschieren, um ihre Karte entfernen zu lassen, wo es doch viel leichter gewesen wäre, einfach nicht mehr zu kommen, weckte in Sylvia den Verdacht, dass es mehr ein Trotzanfall war als eine dauerhafte Entscheidung.
»Ich glaube, die American Library wird meinen Bedürfnissen eher gerecht«, sagte Gertrude.
Ach ja, Sylvias neue und einzige Konkurrenz in Paris, die ein Jahr nach ihr im eleganteren 8. Arrondissement, in der Nähe der Champs-Élysées eröffnet hatte. Aber diese Bibliothek wirkte furchtbar nüchtern und besaß ganz offensichtlich nicht den Charme ihres Ladens. Außerdem lag sie für Gertrude viel weiter weg als Shakespeare and Company. Doch ob Trotzanfall oder nicht, die Begegnung hinterließ einen kleinen Eissplitter in Sylvias Herz.
Sie konnte sich jedoch nicht lange damit befassen, da sie einige dringende Aufgaben zu erledigen hatte; vor allem musste sie Joyce’ Seiten zusammenstellen und sie für Maurice Darantiere vorbereiten, denn das Buch sollte im Herbst 1921 erscheinen. Sie hätte nie gedacht, dass dieser Teil des Prozesses so mühsam sein würde, aber die Seiten des Manuskripts waren überall verteilt, und Joyce’ Handschrift war nahezu unleserlich – tatsächlich fragte sie sich, ob er mittlerweile so schlecht sehen konnte, dass ihm das gar nicht bewusst war. Sie verbrachte zahllose Stunden mit seinen handgeschriebenen Entwürfen, verglich sie mit den Abdrucken in The Little Review und The Egoist und fand alle möglichen Abweichungen, die sie erst mit ihm besprechen musste, bevor sie mit der ebenso strapaziösen Aufgabe beginnen konnte, den gesamten Text für Darantiere sauber abzutippen.
Und die Tatsache, dass jedes Satzzeichen, jeder Absatz, jede Zwischenüberschrift in seinem Werk von Bedeutung war, machte das Ganze nicht einfacher. Jede noch so winzige Kleinigkeit musste richtig sein, damit Ulysses als das Meisterwerk geschätzt werden konnte, das es war. »Was für eine Ironie«, sagte sie eines Morgens mit müden Augen zu Adrienne, während sie einen starken Kaffee trank und rauchte. »Gerade die Dinge, die ich an diesem Buch so liebe, treiben mich noch in den Wahnsinn.«
Adrienne lachte. »Du bist stärker als sie, chérie.« Sie schob Sylvia einen Teller mit Toast und selbstgekochter Marmelade hin. »Aber du musst bei Kräften bleiben.«
An manchen Abenden, wenn sie Mitternacht schlagen hörte, ihr vor lauter Konzentration die Augen wehtaten und Adrienne bereits zu Bett gegangen war, fragte Sylvia sich, ob die dreißig Prozent des Gewinns, die sie sich selbst nun zugestanden hatte, genug waren. Doch diese kleinlichen Gedanken schob sie sofort wieder beiseite. Es ging ihr nicht um den Profit; sie musste ihre Kosten decken, aber alles, was sie darüber hinaus verdiente, würde sie sofort wieder in Shakespeare and Company stecken. Es war nicht ihr Ziel, sich zu bereichern, was ihr ein Brief ihres Vaters genau zum rechten Zeitpunkt ins Gedächtnis rief:
Geburtshilfe ist für Gottes Plan genauso wichtig wie die Schöpfung, denn ohne jene mutigen, selbstlosen Seelen, die neuem Leben auf die Welt helfen, könnte niemand gedeihen. Mach weiter, Tochter. Deine Mutter und ich sind sehr stolz auf Dich.
Gerade als sie kurz davor war aufzugeben, kam Cyprian wieder für Filmaufnahmen nach Paris. »Dich schickt der Himmel!«, rief Sylvia und fiel ihrer Schwester im Eingang ihres Ladens um den Hals. Es tat so gut, inmitten all des neuen Chaos in ihrem Leben ein Stück von zu Hause dazuhaben. Ihre Schwester war für sie wie ein Rettungsring in stürmischer See.
Sobald Cyprian ihr Zimmer in einem Hotel am Montparnasse bezogen hatte, trafen sie sich im Loup, wo Sylvia ihr bei einem Zuckerschotensalat von ihren Sorgen erzählte. »Ich habe versucht, den Text selbst abzutippen, um dem Drucker ein zusammenhängendes Manuskript geben zu können, aber ich habe einfach nicht die Zeit dafür. Kannst du mir helfen, Schwesterherz?«
Cyprian, die bester Laune und überglücklich war, wieder in Paris zu sein, noch dazu mit einer spannenden Rolle, nahm Sylvias Hände und sagte: »Mit dem größten Vergnügen. Ich kann nämlich richtig gut tippen, weißt du. In New York musste ich zwischendurch als Sekretärin arbeiten, und glaub mir, niemand hat eine schlimmere Klaue als ein gestresster Buchhalter von der Wall Street.«
Sylvia drückte ihre Hände und strahlte. »Ich bin ja so froh. Danke.«
»Du solltest auch darüber nachdenken, eine Hilfe für den Laden einzustellen, wenn du mir die Bemerkung gestattest. Du siehst völlig erledigt aus. Wann hast du das letzte Mal genug Schlaf gekriegt? Und wo wir schon dabei sind: Wann hast du dir das letzte Mal die Haare gekämmt? Und morgen kaufen wir dir ein neues Kleid.«
»Das kann ich mir nicht leisten, Cyprian. Schon gar nicht, wenn ich jemanden für den Laden einstelle – worüber ich, ehrlich gesagt, auch schon nachgedacht habe.« Das hatte sie in der Tat, und zwar schon seit Wochen. Ein ungünstiger Nebeneffekt der Veröffentlichung von Ulysses war, dass ihr die alltägliche Arbeit im Laden mittlerweile recht prosaisch erschien. Es war aufregend, sich in ein Projekt zu stürzen, für das sie so viel lernen musste: die Besonderheiten des Druckens, wie man bei Buchhandlungen, Sammlern und anderen Schriftstellern darum warb, dass sie vorab Exemplare bestellten, und wie man Zeitungen anschrieb, damit sie über den Fortschritt des Buchs berichteten und damit kostenlos Werbung für sie machten – was sie zu ihrer Überraschung tatsächlich taten! Eine Handvoll Pariser Journalisten interessierte sich für Joyce’ Werk, weil es verboten war; und dass sie den »obszönen« Roman veröffentlichte, fanden sie ebenfalls interessant, weil es das erste Buch von Shakespeare and Company war. Die Geschichte lockte sogar eine amerikanische Journalistin namens Janet Flanner an, die von Paris aus für den New Yorker schrieb.
»Schade, dass du so ein kleines Vögelchen bist, sonst könntest du dir was von meinen Kleidern leihen«, sagte Cyprian.
Sylvia lächelte. »Ich habe immer noch deine roten Schuhe von der Eröffnung des Ladens.«
»Hast du sie seither noch mal getragen?«
»Einmal. Zu einer Show im Chat Noir.«
Cyprian schüttelte den Kopf. »Du bist unmöglich. Wenn dein Laden weltberühmt wird, musst du mir erlauben, dir passende Kleider auszusuchen.«
»Warum? Damit du dich nicht für deine große Schwester schämen musst, wenn sie für Vanity Fair fotografiert wird?«
»Genau.«
»Wenn du es schaffst, Ulysses ordentlich abzutippen, gehen wir zusammen zu Printemps.«
Cyprian lachte keckernd. »Einverstanden.«
Doch schon kurz nachdem sie mit dem Tippen begonnen hatte, stürmte sie völlig aufgelöst in den Laden, ein paar zerknüllte Seiten in der Hand.
»Ich kann das nicht«, jammerte sie.
Obwohl Sylvia nicht die geringste Lust hatte, ihre melodramatische Schwester zu trösten, rief sie sich ins Gedächtnis, dass Cyprian ihr einen Gefallen tat, also nahm sie sie in die Arme und gurrte: »Mein armes Schwesterchen, was kann ich tun?«
»Du kannst deinem falschen Jesus ausrichten, dass es kein Wunder ist, dass er blind wird. Ich werde auch blind, und ich kann nicht mehr.«
Der angespannte Ton ihrer Schwester verhieß nichts Gutes, und einen Moment lang bekam Sylvia kaum Luft. Selbst ihre Schwester konnte ihr nicht helfen. Wer bin ich, dass ich James Joyce veröffentlichen will? Sie kam sich vor wie eine Amateurin. Restlos überfordert.
Verzweifelt versuchte sie, Cyprian zum Weitermachen zu überreden. »Es tut mir leid, dass es so schwierig ist … Soll ich dir mehr bezahlen? … Stell dir vor, wie du vor den Künstlern in den Cafés angeben kannst … Dein Name wird im berühmtesten Buch der Welt stehen!«
Doch Cyprian ließ sich nicht darauf ein. »Ich muss schlafen, Sylvia. Ich bin dafür in aller Herrgottsfrühe aufgestanden, und sieh dir an, was ich für Ringe unter den Augen habe! Ich bin Schauspielerin, Himmel noch mal. Ich muss gut aussehen.«
Sylvia kannte diese Bockigkeit und wusste, dass der Kampf verloren war.
Nachdem Cyprian gegangen war, sank Sylvia auf ihren Schreibtischstuhl und ließ den Kopf hängen. Sie wünschte, statt ihrer Schwester wäre ihre Mutter in Paris.
»Sylvia?«
Erschrocken blickte sie auf. Sie hatte gedacht, sie und ihre Schwester wären allein im Laden gewesen, aber nun stand Raymonde Linossier vor ihr, die in dem Viertel wohnte und eine ihrer ersten und treuesten Kundinnen war. Als Ärztin, die in der Nähe eine eigene Praxis besaß, war sie etwas Besonderes, und Sylvia bewunderte sie von ganzem Herzen.
»Meine Güte, tut mir leid, dass Sie das alles mit anhören mussten«, murmelte Sylvia.
»Ich verstehe sehr gut, wie schwierig die Beziehung zwischen Schwestern sein kann«, sagte Raymonde lächelnd, und Sylvia hätte am liebsten geweint.
»Vielleicht könnte ich Ihnen helfen«, fuhr Raymonde fort. »Wissen Sie, meinem Vater geht es nicht gut, und ich verbringe viele Stunden bei ihm zu Hause. Ich habe schon jede Menge gelesen, aber ich hätte nichts gegen eine kleine Abwechslung. Vielleicht kann ich ja einige von Joyce’ Seiten abtippen? Es wäre mir eine Ehre.«
Sylvia sah sie mit großen Augen an. »Ich könnte Sie doch niemals bitten …«
»Seien wir nicht snobistisch, Sylvia. Nur weil ich Ärztin bin, heißt das nicht, dass ich nicht tippen kann.«
»Wie Sie mitbekommen haben, ist das eher eine frustrierende Arbeit.«
»Ich bin zäh. Im Medizinstudium war ich eine von zwei Frauen.«
Sylvia strahlte. »Gut, dann zeige ich Ihnen, was zu tun ist.«
Noch eine Florence Nightingale, die Ulysses zu Hilfe eilt.
Der Winter wich dem Frühling, und der Schnee auf den Gehwegen schmolz zu Pfützen, in denen die Tauben badeten. An einem der ersten warmen Tage betrat ein sehr junger, sehr gut aussehender und eindeutig amerikanischer Mann die Buchhandlung. Sein Haar war schwarz wie Schuhwichse, und er trug einen schmalen Oberlippenbart, vermutlich um sein weiches, fast noch jugendliches Gesicht älter wirken zu lassen. Er war kräftig gebaut, aber nicht dick, und erinnerte Sylvia an die sportlichen Jungs ihrer Jugend, die lieber Ball spielten als lasen.
Und wie ein gut erzogener Bursche beim Besuch einer Kirche nahm er seine abgewetzte Tweedmütze ab, als er hereinkam und auf die Regale mit den Büchern und Zeitschriften zusteuerte. An dem Morgen war viel zu tun, und Sylvia beobachtete ihn aus dem Augenwinkel, während sie die Kasse bediente und Bücher, die ihre Stammkunden mitnehmen wollten, in die Leihkarten eintrug.
Erst als sie damit fertig war und sich eine Zigarette anzündete, kam er auf sie zu und fragte: »Sind Sie Sylvia Beach?«
Es war immer wieder ein großartiges Gefühl, wenn so ein junger Amerikaner bereits wusste, wer sie war. Und sie war gespannt, wie dieser Neuankömmling von ihr und ihrem Laden erfahren hatte.
Sie lächelte, legte die Zigarette weg und gab ihm die Hand. »Ja, das bin ich. Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr …?«
»Hemingway«, erwiderte er eifrig. »Ernest Hemingway.«
Der Name sagte ihr nichts, aber sie spürte, dass hinter seinem Auftauchen eine Geschichte steckte.
»Woher kommen Sie, Mr Hemingway?«
»Ernest, bitte. Und ich komme aus Chicago, mit meiner Frau Hadley.«
»Sie müssen sie nächstes Mal mitbringen. Und bitte nennen Sie mich Sylvia. Was hat Sie denn nach Paris und zu Shakespeare and Company gelockt?«
»Man erzählt mir schon seit einem Jahr, dass Paris für Schriftsteller der beste Ort zum Arbeiten ist. Und damit meine ich, der billigste. Deshalb habe ich den Toronto Star überredet, mich als Korrespondenten einzusetzen. Aber ich werde auch an meinen eigenen Geschichten arbeiten. Und vielleicht an einem Roman. Sherwood Anderson hat mir von Ihrer Buchhandlung erzählt – oder vielmehr vorgeschwärmt, aber ich muss sagen, selbst seine Lobeshymnen werden ihr nicht gerecht.« Staunend sah er sich um. »Ich hatte ja keine Ahnung.«
»Es sind bloß Bücher und ein paar Möbel«, sagte Sylvia, obwohl die Bewunderung des jungen Mannes sie freute.
»Und Originalseiten von Walt Whitman«, bemerkte er und trat so dicht an die Rahmen heran, dass seine Nase fast das Glas berührte. »Jeder Ort, der unter der Ägide von Shakespeare und Whitman steht, kann nur groß und berühmt werden«, sagte er, ohne den Blick von den handgeschriebenen Worten zu lösen.
»Viele Leute sehen die Verbindung nicht«, bemerkte sie.
Nun wandte er sich doch um und sah sie wach und ernst an. »Ich schon.«
Sylvia fühlte sich diesem Ernest Hemingway aus Chicago instinktiv verbunden. Sie machte ihn mit Bob McAlmon und dem Komponisten George Antheil, einem weiteren amerikanischen Neuankömmling, bekannt, die beide kurz darauf in den Laden kamen, und die Männer freundeten sich sofort an. Es war, als wäre ein fehlendes Puzzleteil gefunden und an seinem Platz eingefügt worden.
Sie stellte Ernest eine Leihkarte aus, obwohl er nicht genug Geld für die Mitgliedsgebühr dabeihatte. »Ich vertraue darauf, dass Sie wiederkommen«, sagte sie.
»Danke.« Er strahlte, als hätte sie ihm zu Weihnachten ein neues Fahrrad geschenkt.
»Und falls Sie noch keine dauerhafte Unterkunft gefunden haben, können Sie den Laden gern so lange wie nötig als Postadresse angeben.«
»Es macht Sylvia Spaß, der amerikanischen Post ein Schnippchen zu schlagen«, sagte Bob augenzwinkernd.
Ernest runzelte die Stirn. »Ja, Sumners Zensurbehörde ist in der Tat nicht gerade schriftstellerfreundlich.«
»Sind Sie mit den Schwierigkeiten unseres Freundes James Joyce vertraut?«
»Natürlich. Ich bin Journalist.«
»Stehen Sie auch auf Sumners schwarzer Liste?«
»Nein«, erwiderte er, und es klang für Sylvia fast ein wenig bedauernd.
»Sie sind noch jung. Das kann alles noch kommen«, sagte Bob überraschend gutmütig; normalerweise ließ er seine Opfer nicht so schnell vom Haken.
»Sagen Sie, waren Sie im Krieg?«, fragte Ernest, um das Thema zu wechseln.
»Ja, beim Air Corps«, antwortete Bob, aber ohne jeden Stolz. »Unser George hier war leider noch zu jung. Er war in New York und hat sich mit genau der Verlegerin zusammengetan, die wegen der Ulysses-Kapitel verurteilt wurde.«
»Margaret Anderson ist eine große Musikliebhaberin«, sagte George ehrfürchtig, und Sylvia fragte sich nicht zum ersten Mal, was zwischen den beiden wohl gewesen war. Sie hatte zwar gehört, dass Margaret ebenso glücklich mit ihrer Co-Herausgeberin Jane Heap verbandelt war wie sie selbst mit Adrienne, aber in dieser Künstlerszene wusste man nie so genau.
»Davon abgesehen«, fuhr George schärfer fort, »war das mit Margaret nach dem Krieg. Während des Kriegs habe ich bei Ernest Bloch studiert.«
»Ich war als Ambulanzfahrer in Italien«, sagte Ernest, ohne auf die Spannung zwischen den beiden einzugehen.
»Muss furchtbar gewesen sein«, sagte Bob.
»Und es hat mich auch nicht davor beschützt, verwundet zu werden. Mörsergranate.« Er deutete auf seinen Fuß.
»Zeigen Sie doch mal«, forderte Bob ihn auf.
Sylvia hatte etliche Kriegswunden gesehen, aber keine verheilten und erst recht nicht in ihrem Laden. Ernests Fuß, Knöchel und Wade waren übersät von kleinen rosafarbenen Narben, wie mit einem makabren Konfetti.
»Es ist ein Wunder, dass Sie nicht hinken«, sagte sie.
Er zuckte die Achseln. »Das ist alles nur oberflächlich. Der Knochen hat nichts abgekriegt.«
Die Türglocke bimmelte, und Adrienne kam herein.
»Monnier!«, rief Bob voller Wärme. »Die Freuden dieses Tages nehmen ja kein Ende.«
»Mon amie«, sagte Sylvia und winkte Adrienne zu sich, »das ist Ernest Hemingway, der gerade aus Chicago in unsere schöne Stadt gekommen ist. Er hat uns seine Kriegsverletzung gezeigt. Und Ernest, das ist Adrienne Monnier, die in der Rue de l’Odéon eine ganz ähnliche Buchhandlung wie diese hat, nur für französische Literatur. Ihr Laden war während des Kriegs die ganze Zeit geöffnet, und er ist der Grund dafür, dass es Shakespeare and Company gibt.«
Er richtete sich auf, und die beiden gaben sich lächelnd die Hand.
»Ich habe schon viel von Ihrer Buchhandlung gehört«, sagte Ernest in ausgezeichnetem Französisch. »Und die wollte ich gleich als Nächstes aufsuchen.«
»Freut mich, das zu hören, Monsieur Hemingway. Heute Nachmittag bin ich gern für Sie da, aber jetzt ist Mittagspause.«
Er lachte. »Mittagspause. Ich liebe Frankreich. Nun, ich hoffe, wir sehen uns dort bald. Und bitte nennen Sie mich Ernest.« Dann setzte er abrupt seine Mütze wieder auf und sagte: »Entschuldigen Sie mich, ich sollte mal nachsehen, ob Hadley etwas braucht. Nächstes Mal bringe ich sie mit, versprochen. Sie ist die beste Leserin, die ich kenne.«
Als er gegangen war, tat Sylvia etwas, was sie sonst nicht einmal in Betracht zog: Sie scheuchte alle aus dem Laden und verkündete, dass sie ausnahmsweise über Mittag schließen würde. Dann gingen sie und Adrienne keusch eingehakt zu ihrem Lieblingsbistro, wo sie sich ganz dekadent ein Steak und eine Karaffe Wein gönnten.
»Weißt du, ich schäme mich ja, es zuzugeben«, sagte Sylvia, »aber in letzter Zeit habe ich mich im Laden ein bisschen gelangweilt und hätte mich viel lieber ganz auf Ulysses konzentriert. Aber der Vormittag heute hat mich daran erinnert, wie viel Spaß die Arbeit im Laden machen kann.«
»Warum solltest du dich schämen? Es gibt Tage, da schaue ich auf die Uhr und könnte schwören, dass seit dem letzten Mal eine Stunde vergangen ist, dabei sind es nur drei Minuten. Das ist ganz normal.«
»Und was tut man dagegen?«
Adrienne zuckte die Achseln. »Man plant aufregendere Momente ein.«
»Aber so was kann man doch nicht planen.«
»So scheint es vielleicht, aber das stimmt nicht. Ernest ist nicht zufällig zu Shakespeare and Company gekommen, sondern wegen all dem, was du amerikanischen Schriftstellern in Paris bietest. Er hat von dir gehört. Und je mehr du bietest, desto mehr interessante Leute wirst du anlocken.«
»Ich hatte schon länger die Idee, über dem Laden ein kleines Café einzurichten. Einen Ort, wo Schriftsteller etwas trinken und in Ruhe arbeiten können, gleich in der Nähe einer Bibliothek.«
Adrienne lächelte. »Klingt großartig. Mach das.«
Aber wo soll ich die Zeit dafür noch hernehmen?
»Ja, irgendwann«, sagte sie, doch beim Gedanken daran verspürte sie nicht nur Freude, sondern auch Erschöpfung. Sie beugte sich über ihren Teller, um Adriennes Reaktion auf ihre zwiespältigen Empfindungen nicht sehen zu müssen.