Raymondes Vater wurde plötzlich und auf geradezu wundersame Weise wieder gesund, was bedeutete, dass Raymonde sich wieder um ihre Patienten kümmern konnte – doch sie sagte Sylvia, sie solle sich keine Sorgen wegen des Manuskripts machen, denn sie habe bereits Ersatz für sie gefunden, und zwar Mrs Harrison, eine Engländerin, die ein paarmal mit Raymonde im Laden gewesen war und die Aufgabe sehr gern übernehmen wollte. Doch Sylvia hatte kaum Zeit auszuatmen, da schlug erneut das Unheil zu. An einem der ersten warmen Maitage kam Mrs Harrison vollkommen aufgelöst in den Laden gestürzt.
»O Sylvia, es tut mir so leid«, sagte sie mit bebender Stimme.
Obwohl Mrs Harrisons Miene nichts Gutes ahnen ließ, erwiderte Sylvia: »Aber nein, ich bin Ihnen sehr dankbar.«
»Wenn ich Ihnen sage, was passiert ist, bestimmt nicht mehr.«
»Ich bin sicher, wir finden eine Lösung, ganz gleich, was es ist.«
Da brach Mrs Harrison in Tränen aus und stammelte: »Ich war fast … fertig … Das Kirke-Kapitel … Es war so gut … aber … ich … ich hab es auf dem Tisch liegen lassen … Das hätte ich nicht … tun dürfen … denn dann ist mein Mann nach Hause gekommen … und … er hat es gelesen, und dann hat er es verbrannt. Beide Ausgaben.« Sie schluchzte laut auf.
»Beide? Ihre getippte Version und Joyce’ Handschrift?«
Mrs Harrison nickte weinend.
»Herrgott noch mal«, schimpfte Sylvia. »Was haben die Männer bloß gegen dieses Buch?«
»Es tut mir so leid, Sylvia.«
»Sie sind nicht diejenige, die sich entschuldigen sollte.«
Da musste Mrs Harrison nur noch mehr weinen. Wenn sie nicht so wütend gewesen wäre, hätte Sylvia vielleicht auch geweint – nicht aus Trauer, sondern aus Frustration. Würde Ulysses denn nie ein Buch werden? Würde ihre Unfähigkeit es endgültig ins Vergessen stoßen?
Joyce hat es noch nicht mal zu Ende geschrieben, dachte sie resigniert. Sie hatten die Veröffentlichung schon vom Herbst in den Winter schieben müssen. Joyce hatte versprochen, bis Mitte Januar fertig zu sein, damit der Roman zu seinem Geburtstag am 2. Februar veröffentlicht werden konnte. Im kommenden Jahr, 1922, würde er vierzig. Dieses Ziel schien ihn anzuspornen, denn er arbeitete so intensiv daran, dass er kaum noch zu Shakespeare and Company kam. Sylvia hoffte, dass seine Augen ihn nicht im Stich ließen; er hatte ihr erzählt, dass er fast jeden Tag nach dem Schreiben nur noch mit kalten Kompressen auf den Augen im Bett lag.
Doch nun schien Ulysses endgültig dem Untergang geweiht.
Als Sylvia Mrs Harrison schließlich überzeugt hatte, zu Raymonde in die Praxis zu gehen, um sich zu beruhigen, und sie selbst verzagt in ihrem Schreibtischstuhl saß und rauchte, kam mit einem Mal Joyce höchstpersönlich herein.
»Ich habe schlechte Nachrichten«, sagte Sylvia, als er seinen Eschenstock an das Regal lehnte und sich in den grünen Sessel setzte. Sie berichtete ihm, was passiert war.
»Nun, dann müssen Sie wohl John Quinn um sein Exemplar bitten.«
Sylvia sah ihn verdutzt an.
John Quinns Exemplar?
Ach ja. Jetzt erinnerte sie sich. Joyce hatte Quinn von Anfang an Abschriften seines Manuskripts geschickt; der Anwalt kaufte sie, als wären es Kunstwerke. Hatte Ezra ihr das nicht vor Monaten erzählt? Sie hatte es vollkommen vergessen. Doch nun, da sie sich daran erinnerte, stellten sich ihr ganz neue Fragen. Joyce hatte also genug Zeit – abgesehen von der Kraft seiner Augen –, um Duplikate von seinen Kapiteln anzufertigen? Wie sehr würden Quinns Seiten von denen abweichen, die Ezra lektoriert hatte und die in der Little Review abgedruckt worden waren? Warum kaufte John Quinn Joyce’ Roman, obwohl er ihn vor Gericht als abstoßend bezeichnet hatte? Aber sie sah keinen Sinn darin, Joyce diese Fragen zu stellen; sie hatte oft den Eindruck, je weniger sie von diesem Prozess wusste, desto besser war es.
»Das ist ja wunderbar«, erwiderte sie nur, und sobald er wieder gegangen war und sie der aufgelösten Mrs Harrison versichert hatte, dass noch nicht alle Hoffnung verloren war, setzte sie sich hin und schrieb an den Anwalt.
Sehr geehrter Mr Quinn,
ich heiße Sylvia Beach, und ich leite Shakespeare and Company, eine englischsprachige Buchhandlung und Leihbibliothek im 6. Arrondissement von Paris. Zunächst möchte ich Ihnen sehr herzlich für Ihre Bemühungen danken, dem Ulysses unseres lieben Freundes James Joyce in den Vereinigten Staaten – die auch meine Heimat sind, da ich in Maryland geboren und in Princeton, New Jersey, aufgewachsen bin – eine Zukunft zu sichern.
Auch ich bin eine große Bewunderin von James Joyce. Er ist mittlerweile Stammkunde bei Shakespeare and Company, und sein Porträt ist einer meiner Lieblingsromane. Ulysses könnte ihn noch übertreffen, weshalb ich mich erboten habe, ihn zu veröffentlichen, als klar war, dass dies in Amerika nicht möglich sein würde.
Doch ein vollständiges Manuskript zusammenzustellen, gestaltet sich aufgrund der Beschlagnahmungen und Joyce’ komplexem Arbeitsprozess schwierig. Wie ich erfahren habe, sind Sie im Besitz einer vollständigen Kopie des Manuskripts. Ich wäre Ihnen zutiefst verbunden, wenn Sie es mir leihweise zur Verfügung stellen könnten. Ich würde selbstverständlich für die Kosten aufkommen und die Seiten umgehend an Sie zurücksenden, sobald wir mit den Vorbereitungen für den Satz fertig sind.
Ich hoffe, Sie werden, falls Ihre Reisen Sie mal nach Paris führen, bei mir in der Buchhandlung vorbeischauen. Es würde mich sehr freuen, Sie persönlich kennenzulernen.
Mit herzlichem Dank und den besten Wünschen
Sylvia Beach
Ein Monat ging ins Land, doch es kam keine Antwort. Drei weitere Schreibkräfte versuchten sich an den Seiten nach dem fehlenden Kirke-Kapitel, und schließlich konnte sie Monsieur Darantiere den ersten Teil zum Setzen schicken, mit dem Hinweis, dass sich darin noch eine Lücke befand, weil sie auf einen fehlenden Abschnitt aus Amerika wartete. Als Darantiere ihr den ersten Umbruch zur Durchsicht schickte, war sie so aufgeregt, dass ihre Hände zitterten, als sie das Paket öffnete. Sie war eine Verlegerin! Oh, und wie schön die Seiten waren! Das Papier war makellos weiß, die Tinte frisch und schwarz. Sie strich mit der Hand darüber; es fühlte sich kühl und glatt an und machte ein wunderbar beruhigendes Geräusch unter ihren Fingern.
Einen oder zwei Tage später kam Joyce in den Laden, und Sylvia reichte ihm die Seiten mit erwartungsvollem Lächeln. »Sind sie nicht wunderschön?«
Seine Augen waren mittlerweile so wässrig, dass sie sich nicht sicher war, aber sie meinte, Tränen darin zu sehen. »Sieh an, sieh an«, sagte er leise, während er vorsichtig blätterte.
»Sie wollen sie sicher mit nach Hause nehmen, oder? Um sie auf Fehler durchzusehen?«
Er war so gebannt, dass es eine Weile dauerte, bis er antwortete. Schließlich räusperte er sich. »Ja, danke.«
Es war ein warmer Nachmittag, und Sylvia nahm ihre Zigaretten, um draußen vor dem Eingang zu rauchen. Joyce gesellte sich zu ihr, und gemeinsam blickten sie die Rue Dupuytren hinauf und hinunter.
»Heute schon Leopolds gesichtet?«, fragte er.
»Bis jetzt nicht.«
Das war eines ihrer Lieblingsspiele, und sie hatte es schon oft mit Joyce gespielt, sowohl hier wie auch in den Cafés des Viertels, wenn sie draußen auf dem Gehweg gesessen hatten: Welche Passanten sahen aus wie Leopold Bloom, Stephen Dedalus, Gerty MacDowell und andere Figuren aus Ulysses? Da Joyce sie nie auf herkömmliche Weise beschrieb, beruhte ihr Spiel eher auf einem Gefühl, auf dem, was jemand ausstrahlte. Stephens waren in der Regel jung, hungrig und angespannt; Leopolds waren eher mittleren Alters, träger und wohlgenährter, und Gertys waren voller Selbstvertrauen, ohne Scheu, einen Blick zu erwidern oder selbst jemanden zu mustern.
»Ich habe auf dem Weg hierher einen trefflichen Leopold gesehen, in einem guten, aber leicht verschlissenen Mantel und mit einer zusammengerollten Zeitung in der Hand, mit der er ständig gegen sein Bein schlug.«
»Sind Ihnen eigentlich noch andere Eschenstöcke in Paris begegnet? Ich warte schon seit einer Weile darauf, dass sie in Mode kommen.«
»Meine liebe Miss Beach, manche Vorlieben sind zu speziell, um vom einfachen Mann übernommen zu werden.«
Sie lachte, dann rief sie: »Schauen Sie! Eine Molly Bloom.«
Joyce folgte ihrem Blick und sah eine hochgewachsene Frau mit gitarrenförmigem Körper, die die Straße herunterkam, eine rote Rose in ihrem langen kastanienbraunen Haar.
»Gütiger Himmel, sie kommt sogar aus der Richtung des Theaters. Vielleicht ist sie auch Opernsängerin?«
»Bestimmt.«
»Ein gutes Omen.« Joyce liebte die Oper. Er war mit Mozart und Rosetti ebenso vertraut wie mit Homer und Tennyson.
»Allerdings«, sagte Sylvia. In dem Moment ging die Frau an ihnen vorbei, ohne sie zu beachten, gefolgt von einer Wolke starken Rosenparfüms.
»Apropos gutes Omen: Adrienne und ich haben bereits zwanzig Antworten auf unsere Anfragen wegen einer Subskription von Ulysses erhalten, und dazu kommen noch zwölf von unseren Stammkunden hier in Paris. Alle freuen sich sehr darauf, das Werk nun endlich im Ganzen lesen zu können, darunter auch William Butler Yeats.« Allein bei dem Gedanken, James Joyce’ Opus an Schriftsteller wie Yeats zu schicken, verspürte Sylvia ein aufgeregtes Kribbeln. »Wenn das so weitergeht, würde es mich nicht wundern, wenn wir gleich nachdrucken müssten.«
Sie hatten sich für die erste Auflage auf eintausend Exemplare geeinigt, einhundert davon signiert und auf feinstem holländischen Papier gedruckt, zum Preis von 350 Francs, weitere einhundertfünfzig auf Vergé d’Arches, zum Preis von 250 Francs, und der Rest würde auf normalem Papier gedruckt und sollte 150 Francs kosten. Alle Ausgaben würden in blau lithografiertem Papier gebunden, und zwar exakt im Ton der griechischen Flagge – das war zumindest der Plan. Sie und Maurice Darantiere hatten bisher noch nicht die richtige Farbe gefunden.
»Hat Shaw Ihnen schon geantwortet?«
»Noch nicht, aber das wird er sicher tun.« Sylvia verstand nicht, warum es Joyce so wichtig war, wie George Bernard Shaw auf ihren Brief mit der Bitte um Subskription reagierte; ursprünglich hatte er gar nicht gewollt, dass sie seinen berühmten Landsmann anschrieben, aber Sylvia hatte darauf bestanden. »Er mag mich nicht«, hatte Joyce sie gewarnt.
»Das wird ihn sicher nicht daran hindern, Ihr Buch zu kaufen.«
»Wollen wir wetten? Wenn er antwortet und freundlich ist oder sogar ein Exemplar bestellt, haben Sie gewonnen, und ich lade Sie ins Maxim’s zum Essen ein. Wenn er nicht antwortet oder auf abfällige Weise, müssen Sie mich zum Essen einladen.«
»Einverstanden.«
Sie gaben sich die Hand, und Joyce grinste. »Ich kann die Schildkrötensuppe schon schmecken.«
Während sie auf Shaws Reaktion warteten, befasste sich Joyce mit dem Umbruch aus Dijon. Wenige Tage später kam er wieder zu Shakespeare and Company, die Seiten bedeckt mit Kritzeleien und ganze Absätze durchgestrichen.
Das einst so glatte, saubere Papier war unter seiner Hand knittrig und grau geworden. Ihr sackte das Herz in die Hose. »Großer Gott, ich hoffe, er kann all die Änderungen noch einbauen.«
»Ganz bestimmt. Ich habe auch beim Porträt noch Änderungen im Umbruch vorgenommen.«
Dennoch hatte Sylvia das Gefühl, sie sollte persönlich mit Maurice sprechen. Er tat ihr schon einen Riesengefallen, indem er den Roman auf eigenes Risiko druckte, ohne jeden Vorschuss.
»Du musst ihn richtig fein zum Essen einladen«, riet Adrienne ihr.
»Genau das, was ich brauche – noch mehr Kosten.« Bis das Geld von den Subskriptionen hereinkam, hatte sie keinen Centime übrig.
»Glaub mir, das ist es wert. Maurice liebt gutes Essen und guten Wein. Und ich weiß auch schon das richtige Restaurant dafür.«
»Kommst du mit nach Dijon?«
Adrienne schnalzte und küsste Sylvia zärtlich. »Natürlich.«
Die ganze Zugfahrt über rauchte Sylvia vor Nervosität eine Zigarette nach der anderen. Ihre nikotinverfärbten Finger ekelten sie an, aber sie konnte nicht aufhören. Als sie schließlich vor dem großen, drahtigen Drucker mit dem rabenschwarzen Haar standen, inmitten all der lärmenden Maschinen, fühlte sich ihr Mund so trocken wie Asche an. Er begrüßte Adrienne wie eine alte Freundin, mit Umarmung und vier Wangenküsschen, Sylvia hingegen, die er erst zum zweiten Mal traf, nur mit zweien. Als sie ihm bei ihrer ersten Begegnung vor ein paar Monaten erklärt hatte, dass er ein Buch drucken würde, das in den Vereinigten Staaten verboten worden war, hatte er zu ihrer Erleichterung mit einem schelmischen Funkeln in den Augen erwidert: »Dann wird es ja eine sehr interessante Arbeit. Bon. Ich habe keine Angst vor den amerikanischen Gerichten.«
Nun fragte er: »Welchem Umstand verdanke ich den Besuch meiner beiden liebsten libraires rebelles?«
»Gibt es im Petit Cochon immer noch das beste bœuf bourguignon in ganz Frankreich?«, fragte Adrienne.
»Ja, aber ich finde das coq au vin sogar noch besser.«
»Dann bestellen wir beides.«
Während sie beim Essen saßen, von dem Sylvia kaum einen Bissen hinunterbekam, obwohl es köstlich war, zeigte sie Darantiere schließlich die Seiten.
Er musterte sie mit gerunzelter Stirn. »Es war klug, dass Sie den Bordeaux bestellt haben.«
»Wir wissen, wie aufwendig es ist, so ein Buch zu setzen, und es tut uns furchtbar leid, dass es so viele Änderungen geworden sind«, gurrte Adrienne entschuldigend, und Sylvia war froh über ihre langjährige Freundschaft mit dem Drucker. »Aber Joyce ist schlicht und einfach ein Genie. Und sein Buch wird berühmt werden. Sie werden berühmt werden, als der Mann, der mutig und erfahren genug war, es zu drucken.«
Darantiere ging aufmerksam die Seiten durch, ohne eine Miene zu verziehen. Schließlich legte er sie beiseite und sagte: »Wenn das so weitergeht, wird es teurer.«
»Wie viel teurer?«, fragte Adrienne. Sie und Sylvia hatten bereits über diese Unausweichlichkeit gesprochen und ausgerechnet, wie viel mehr Sylvia sich leisten konnte.
Dem Himmel sei Dank für Adrienne, dachte Sylvia, während ihre Gefährtin geschickt mit dem Drucker feilschte. Es dauerte nicht lange, da hatte sie ihn auf den richtigen Betrag heruntergehandelt, und Sylvias Anspannung ließ endlich nach.
Einige der besten Ablenkungen von Ulysses boten ihr Ernest und Hadley Hemingway, die beide regelmäßig bei Shakespeare and Company vorbeischauten. Eines Tages schleppte Ernest Sylvia und Adrienne zu einem Boxkampf in Ménilmontant. Sylvia war noch nie dort gewesen, und als Adrienne ihr unterwegs in der vollen Metro zuraunte, dass in dem Viertel nur Gesindel lebte, kam Sylvia sich vor wie in einem aufregenden Film mit lauter zwielichtigen Gestalten und verbotenen Taten. Sie drückte Adriennes Arm und flüsterte aufgeregt: »Quel frisson!«
»Tu es terrible«, gab Adrienne leise zurück, aber sie lächelte dabei und schmiegte sich an sie.
»Das Boxen ist eine hervorragende Metapher für das Leben«, sagte Ernest, als sie zu viert ihre Plätze einnahmen. Das Publikum war eine faszinierende Mischung aus sorgfältig rasierten Männern im Maßanzug und einfachen Arbeitern mit ihren flachen Mützen. Letztere schienen sich leidenschaftlich zu streiten und deuteten erregt auf den angestrahlten Boxring in der Mitte. Zu Sylvias Überraschung waren auch eine Menge Frauen darunter, viele davon elegant gekleidet und frisiert.
Sylvia fand es ebenso spannend, Ernest dabei zu beobachten, wie er den Kampf verfolgte, wie den Kampf selbst zu verfolgen. Es sah fast so aus, als versuchte der junge Schriftsteller, die Männer im Ring zu führen; er bewegte seine Schultern und Arme und deutete mit den Fäusten Schläge an, das Ganze untermalt von mal gemurmelten, mal gebrüllten Kommentaren: »Nicht die Deckung runternehmen!«, »Fäuste hoch!«, »Ausweichen, du Trottel!«, »Warte! Lass ihn kommen!«.
Adrienne hielt sich bisweilen die Hand vor die Augen, wenn Blut aus Nasen oder Platzwunden quoll, spähte dann aber zwischen ihren Fingern hindurch. »Ach, das sind doch nur Kratzer«, sagte Ernest abschätzig. Zu ihrer Überraschung gefiel Sylvia die kalte Entschlossenheit der Männer mit ihren dick eingepackten Fäusten vor dem Gesicht und die anfeuernden Rufe der Zuschauer rund um den Ring. Wie leichtfüßig diese Boxer waren! Manchmal wirkte es wie ein Tanz im Kabarett.
Hadley schien ebenso mitzufiebern wie ihr Mann. Als sie Adriennes etwas zimperlichere Reaktionen auf das Spektakel bemerkte, sagte sie zu Sylvia: »So war ich bei den ersten Kämpfen, zu denen Tatie mich mitgenommen hat, auch. Jetzt kann ich mich gar nicht mehr losreißen.«
Offenbar hatte Ernest auch Ezra mit seiner Begeisterung angesteckt, denn sie erfuhr, dass die zwei stundenlang in einer nahe gelegenen Sporthalle schwitzten, während der jüngere Schriftsteller dem älteren die Feinheiten des Boxens beibrachte. Plötzlich musste sie an Gertrude Stein denken und daran, wie schade es war, dass sie wegen ihrer Abneigung gegenüber Joyce den ganzen Spaß verpasste, den die Amerikaner bei Shakespeare and Company hatten. Doch dann fiel ihr ein, dass Ernest und viele von den anderen recht häufig bei den Salons in der Rue de Fleurus zu Gast waren. Anscheinend hatte Gertrude Ernest unter ihre Fittiche genommen, und es schien die grande dame nicht sonderlich zu stören, dass er mit diesem Iren befreundet war. Sylvia fragte sich, wie Ernest wohl dazu stand, ein Schützling zu sein – dieser hitzköpfige einstige Ambulanzfahrer, der so erpicht darauf zu sein schien, ältere Schriftsteller über das Boxen, den Journalismus, den Krieg und das Leben aufzuklären.
Doch eines wusste sie, und das erfüllte sie mit freudiger Erregung: Sie würde erfahren, wie all die Dramen ausgingen, denn ihre Buchhandlung war auf dem besten Weg, das Zentrum aller Geheimnisse und Pläne, Hoffnungen und Ängste im Quartier Latin zu werden. Mittlerweile verdiente sie damit sogar ein wenig Geld, das sie ihrer Mutter als Rückzahlung geschickt hatte. Doch die hatte es sofort wieder zurückgeschickt, mit den Worten: »Was ich dir gegeben habe, war kein Kredit, mein Schatz. Es war ein Geschenk. Ich kann es kaum erwarten, Ulysses ganz zu lesen.«
»Shakespeare and Company läuft so gut«, schwärmte Adrienne oft gegenüber ihren Eltern in Rocfoin und jedem anderen, der bereit war zuzuhören.
»Das verdanke ich nur dir und La Maison«, entgegnete Sylvia dann.
»Unsinn.«
Sylvia fragte sich, warum Adriennes unerschütterlicher Glaube an sie so ein unbehagliches Gefühl in ihr auslöste. Auch wenn sie durchaus sah, was sie zum Erfolg von Shakespeare and Company beitrug, war ihr doch sehr deutlich bewusst, wo seine Ursprünge lagen und wie sehr Adrienne sie täglich unterstützte. Was wäre Shakespeare ohne La Maison? Ein halber Traum, ein Zwilling ohne seine Schwester.
Doch solange sie zusammen waren, zählte das alles vielleicht nicht.