Der Portier aus dem Hotel sprach in so aufgeregtem, wirrem Französisch, dass Sylvia den Hörer an Adrienne weitergeben musste, weil sie nichts verstand. Die einzigen Fetzen, die klar und deutlich bei ihr ankamen, waren Madame Beach und lettre. Dann wartete sie angespannt, während Adrienne nickte, nach Luft schnappte und mit weit aufgerissenen Augen lauschte. Obwohl Adrienne mit den üblichen bons und mercis antwortete, verriet ihr ernster Ton, dass die Nachricht keine gute sein konnte, und als sie schließlich auflegte, war Sylvia ein Nervenbündel und hatte sich bereits die zweite Zigarette angezündet.
»Chérie«, sagte Adrienne leise, »deine Mutter ist tot. Im Hotel. Sie hat einen langen Brief hinterlassen.«
»Tot? Einen Brief?« Obwohl Sylvia die Worte jetzt verstand, ergaben sie keinen Sinn.
Doch dann begriff sie.
Ein Brief. Ein langer Brief.
»Wie hat sie es getan?«, flüsterte Sylvia, und in ihrem Kopf blitzte ein grauenvolles Bild von ihrer Mutter auf, die an einem Bettlaken von der Decke hing.
»Mit Tabletten.«
Die Hand auf die Brust gepresst, begann Sylvia zu würgen oder zu keuchen oder zu schluchzen; es war nicht zu unterscheiden. Irgendwie bugsierte Adrienne sie zu einer Sitzgelegenheit. Waren sie in der Küche? Oder im Schlafzimmer? Sie wusste es nicht und konnte sich auch später nicht daran erinnern. Ebenso wenig wie an die folgenden Stunden, denn sie waren ein Durcheinander aus zerklüfteten, schwarzen Eindrücken: wie sie mit Adrienne zu dem Hotel lief; ihre Mutter, starr im Bett, und sie, wie sie sich auf Teppich und Bettzeug übergab; wie sie den angebotenen Tee ablehnte und die nötigen Schritte einleitete, damit der Leichnam untersucht und abgeholt werden konnte. Es war Ende Juni, warm und sonnig. Hochzeitssaison.
Noch Wochen – und Jahre – später würde sie von diesen Stunden träumen. Wenn sie nachts zitternd und schweißgebadet aufwachte und die Laken an ihrer feuchten Haut klebten, dachte sie an die Jungen in Serbien, die bei einem lauten Geräusch Schutz suchend in Mülltonnen kletterten. Und sie dachte an Michel, über dessen schlaflose Nächte Julie nicht reden wollte. Nun hatte auch sie eine Wunde, die zu tief saß, um sie herauszuschneiden, so tief, dass sie sie in jedem Knochen, jedem Blutgefäß spürte.
Sie hatte ihre Träume gegen das Leben ihrer Mutter eingetauscht.
Es tut mir so furchtbar leid, Mutter.
Wenn ich doch nur besser aufgepasst hätte.
Wenn ich doch nur auf Cyprians Warnungen gehört hätte.
Wenn ich doch nur mehr Zeit mit dir verbracht hätte.
Wenn ich doch nur mehr Verständnis gezeigt hätte. Mehr Zärtlichkeit.
Wenn ich doch nur mehr Zeit gehabt hätte.
Sie erwog ernsthaft, ihren Schwestern die Wahrheit zu verheimlichen. Selbstmord war eine sehr intime Entscheidung, und der Brief, den ihre Mutter geschrieben hatte, war nur an sie adressiert.
»Und sie hat es hier in Paris getan«, sagte Sylvia früh am nächsten Morgen zu Adrienne. Sie spürte, dass eine Migräne im Anzug war, eine Spannung im Hinterkopf, die innerhalb weniger Stunden zu einer brutalen Faust werden würde, und obwohl sie das Gefühl hatte, sie müsste sich jeden Moment übergeben, trank sie Kaffee und rauchte. »Sie hätte es auch in Kalifornien tun können. Vielleicht wollte sie nicht, dass jemand anders davon wusste.«
»Auf seine Weise ist es ein Kompliment«, meinte Adrienne.
»Und ein Fluch.«
»In allen Tragödien liegt auch ein Geschenk.«
Suzanne. Es hatte eine Zeit gegeben, da war kein Tag vergangen, an dem Sylvia nicht an Adriennes verlorene erste Liebe gedacht hatte. Doch das war lange her. Sie konnte sich nicht einmal mehr erinnern, wann sie zuletzt an Suzanne gedacht hatte, aber jetzt war sie wieder hier; ihr Geist schwebte im Raum.
»Wie oft denkst du an sie?«, fragte Sylvia.
»Nur noch selten. Und mittlerweile ohne Schmerz.«
Die Faust quetschte ihr Gehirn zusammen, und erneut kamen ihr die Tränen, aber da schoss ihr plötzlich eine Frage durch den Kopf, die sie seit Jahren mit sich herumtrug, und sie sprudelte aus ihr hervor, bevor sie sich bremsen konnte. »Warum hat Suzanne eigentlich geheiratet?«
Adriennes hellblaue Augen verdunkelten sich. »Ihre Eltern glaubten, das Geld seiner Familie könnte ihr helfen, die nötige medizinische Versorgung zu bekommen«, antwortete sie traurig.
»Und so musste sie die letzten Monate ihres Lebens in einer Zweckehe verbringen?« Was für eine Schmach!
»Immerhin war er nett zu ihr. Er hatte sie schon seit Jahren geliebt, und es hat ihn fast umgebracht, dass er sie so schnell wieder verloren hat.«
»Sein ganzes Geld konnte ihr also letzten Endes gar nicht helfen?«
»Es war zu spät. Sie hatte zu lange gezögert.« Adrienne schluckte, und Sylvia ahnte die Schuldgefühle, die sie plagten. »Ich hätte ihr schon Jahre früher raten sollen, ihn zu heiraten. Aber ich war selbstsüchtig.«
»Du bist der am wenigsten selbstsüchtige Mensch, den ich kenne«, widersprach Sylvia.
»Nein, chérie, das bist du.«
Sylvia stieß ein bitteres Lachen aus. »Warum hat sich meine Mutter dann umgebracht?«
»Du hättest nichts tun können, um es zu verhindern.«
Woher willst du das wissen? »Und Suzanne hat dich so geliebt, dass sie nie auf deinen Rat gehört hätte, selbst wenn du es versucht hättest«, erwiderte Sylvia, weil sie überzeugt war, dass es stimmte.
»Das sage ich mir auch immer.«
Kurz bevor sie den Laden aufmachte, schickte Sylvia ein Telegramm an ihre Schwestern und ihren Vater in Kalifornien.
Mutter heute gestorben. Von Trauer erfüllt. Brief folgt. Alles Liebe, Sylvia.
Später, am Ende eines leeren Tages, setzte sie sich zu Hause an den Schreibtisch. »Mutter hat zu viele Tabletten genommen«, schrieb sie und zitierte aus dem Brief, in dem Eleanor Beach darum gebeten hatte, auf dem Friedhof Père Lachaise begraben zu werden, bei Oscar Wilde und Frédéric Chopin und Honoré de Balzac. Den Rest, eine Litanei von Gründen, warum ihre Mutter zu erschöpft, beschämt und traurig war, um weiterzuleben, und die Feststellung, dass nur sie selbst dafür verantwortlich war, ließ Sylvia weg. Um ein Haar wäre Eleanor erneut beim Ladendiebstahl erwischt worden. »Ich schäme mich so«, hatte sie geschrieben. »Meine Liebe zu weltlicher Schönheit ist eine moralische Schwäche, und ich bin Dir so dankbar, dass Du Deinem Vater beim letzten Mal nichts davon erzählt hast, denn ich fürchte, er würde mir niemals verzeihen – nicht so sehr wegen der Tat selbst, sondern wegen der Gründe dahinter, gegen die ich machtlos bin.« Zum Schluss schrieb Sylvia, dass die letzten Sätze ihrer Mutter zeigten, wie sehr sie ihre Familie vermissen würde.
Als ihr eigener beklagenswert unzulänglicher Brief fertig war, schlüpfte Sylvia in die stickige Dunkelheit des Schlafzimmers und schmiegte sich an Adrienne, die sie die ganze Nacht in den Armen hielt.