Der 4. Juli, der amerikanische Unabhängigkeitstag, folgte zwei Wochen auf den Tod ihrer Mutter und fiel auf einen Montag. Sie hatten das Wochenende davor in Rocfoin verbracht, wo Adriennes durch und durch französische Familie versucht hatte, Sylvia mit amerikanischen Leckereien wie »Apple Pie«, der in Wirklichkeit eine tarte aux pommes mit extra viel Zucker war, und einem Gericht namens »Chicken à la King« zu verwöhnen, das Adriennes Mutter in einer amerikanischen Zeitschrift entdeckt hatte. Es schmeckte tröstlich sahnig und fade, und sie genoss die Witzeleien, die die Gäste – zu denen auch Rinette, Bécat und Fargue zählten – sich über den Tisch hinweg zuwarfen: poulet à la roi, poulet à la Louis, Philippe de Volaille, Charles de Pintade, poulette à la reine, poulette à la Toinette.
Doch die heitere Stimmung war verflogen, als sie nach Paris zurückgekehrt waren. Teddy, der ihren Kummer spürte, folgte ihr wie ein Schatten und sprang auf ihren Schoß, sobald sie sich irgendwohin setzte, und sie merkte, dass es ihre Nerven beruhigte, wenn sie sein warmes, weiches Fell streichelte. Joyce beobachtete sie und Teddy misstrauisch aus dem Winkel seines besseren Auges, verkniff sich aber eine Bemerkung. Am Tag nachdem sie ihm vom Tod ihrer Mutter erzählt hatte – wobei sie ihn schwören ließ, dass er die Einzelheiten mit ins Grab nehmen würde –, hatte er ihr das schönste Gebinde aus Lilien gebracht, das sie je gesehen hatte. Einen Tag später, kurz bevor er mit seiner Familie nach Belgien in den Urlaub aufbrach, hatte er im grünen Sessel Platz genommen und gefragt: »Was unternehmen wir gegen Roth?«
Allein bei der Frage überkam sie unendliche Erschöpfung. »Ich glaube nicht, dass wir noch mehr tun können, als wir bereits getan haben.«
Er sah hinunter auf seine eleganten Hände, seine makellos gepflegten Fingernägel. »Mr Huebsch, der jetzt bei Boni & Liveright ist, hat mir geschrieben, er würde gern Work in Progress veröffentlichen. Im Gegensatz zu Mrs Weaver und Mr Pound scheint ihm das, was er bisher gelesen hat, zu gefallen. Wie Sie wissen, bin ich schon länger der Überzeugung, dass ein amerikanischer Verleger besser in der Lage wäre, gegen Roth vorzugehen, und ich überlege, ob ich Mr Huebsch zusagen soll.«
Alles in ihrem Innern zog sich schmerzhaft zusammen. »Aber wir diskutieren seit über einem Jahr über die Veröffentlichung des Romans bei Shakespeare and Company. Und der Band mit den Essays dazu ist auch bereits in Arbeit.«
»Und ich möchte auch, dass Sie damit weitermachen. Mit den Essays.«
Er sah sie mit solcher Unschuld, solcher Offenheit an.
»Mr Joyce, wie kann Mr Huebsch Ihnen bei der Sache mit Roth helfen, wenn er Ulysses nicht veröffentlicht?«
Die lange Pause, bevor er erwiderte: »Ich habe da so eine Ahnung«, machte Sylvia stutzig. Was verschwieg er ihr? Doch sie war zu ausgelaugt von der Trauer, um nachzuhaken.
Als dann am Morgen des 4. Juli ein Brief von Roth’ giftsprühendem Anwalt in der Post war, der sie beschuldigte, sich großen Geschäften und großen Männern in den Weg zu stellen, bekam sie im Hinterzimmer von Adriennes Laden einen Weinkrampf. »Ich kann nicht mehr«, stieß sie mühsam hervor. »Ich kann einfach nicht mehr.«
Schuldgefühle lasteten wie ein Amboss auf ihrer Brust.
Wenn doch nur.
Wenn sie sich doch nur nicht so sehr darauf konzentriert hätte, auf diesen sinnlosen, endlosen Ringelpiez mit Joyce wegen Roth, wegen seiner Augen und wegen seiner Finanzen, dann hätte sie ihrer Mutter vielleicht helfen können. Vielleicht wären sie dann heute im Musée Rodin. Zusammen.
Sie sah in Adriennes verständnisvolle Augen und dachte: Das also meintest du mit deiner Sorge, ich könnte mehr geben, als gut für mich ist.
Tja. Es war ein Kampf, den sie nicht gewinnen konnte. Selbst Ernest war dafür, einen Boxkampf aufzugeben, wenn man merkte, dass man gegen den Gegner keine Chance hatte. »Die Kraft hebt man sich besser für einen anderen Tag auf«, sagte er oft.
Sylvia kehrte in das Hinterzimmer ihres eigenen Ladens zurück und verfasste mit einem Stift, der mit jedem Wort leichter wurde, einen Antwortbrief an Roth und seinen Anwalt, in dem sie erklärte, dass sie die Klage fallenließ. Dann schrieb sie an Joyce in Belgien.
Mein lieber Mr Joyce,
ich hoffe, Sie und Ihre Familie sind wohlauf und genießen kühleres Wetter im Norden. Adrienne und ich unternehmen weiter mit dem Citroën Ausflüge rund um Paris. Der eigentliche Grund, weshalb ich Ihnen schreibe, ist jedoch folgender: Es tut mir leid, aber ich bin nicht länger bereit, die persönlichen Angriffe von Roth und seinem Anwalt hinzunehmen, gegen die sich John Quinn geradezu wie ein Racheengel ausnimmt. Sie können diesen Kampf gern weiterführen, wenn Sie wollen, und wenn es dazu notwendig ist, mit einem amerikanischen Verleger einen Vertrag über Work in Progress abzuschließen, dann sei’s drum.
Ich werde derweil wie geplant mit Ulysses VI, Pomes Penyeach und unserem Essayband weitermachen. Ich freue mich auf ein Wiedersehen im September, wenn wir beide gut erholt sind.
Mit den besten Grüßen, auch an Mrs Joyce und die Kinder
Sylvia
Es verging fast ein Monat, bevor sie eine Antwort bekam – ein Monat, der angefüllt war mit der Vorbereitung der Seiten von Pomes und Briefen an andere Schriftsteller und Intellektuelle, die Joyce’ Werke schätzten, wie William Carlos Williams und Eugene Jolas, um sie zu bitten, einen Beitrag für den geplanten Essayband zu verfassen.
Dann kamen die Arztrechnungen. Dr. Borsch schrieb sehr freundlich, dass Joyce seit 1925 keine einzige seiner Rechnungen mehr bezahlt hatte. Entsetzt stellte Sylvia sofort einen Scheck auf das Konto von Shakespeare and Company aus und notierte sich irgendwo, dass die Summe von seinem nächsten Ulysses-Vorschuss abgezogen werden sollte, obwohl sie genau wusste, dass sie ihm die Schulden erlassen würde, wie sie es immer getan hatte. Doch sie konnte nicht umhin, Joyce’ Antwortschreiben durch die trübe Brille dieser Rechnung zu lesen:
Meine liebe Miss Beach,
Mrs Joyce und mir geht es gut, vielen Dank. Lucia hingegen ist so von Melancholie geplagt, dass man sie selbst am Nachmittag kaum aus dem Bett bekommt. Das Einzige, was sie aufmuntert, sind Tanzvorführungen, zu denen wir sie natürlich gern mitnehmen, obwohl ich, wie Sie wissen, die Oper bevorzuge.
Ihr Brief, in dem Sie mir mitteilen, dass Sie den Kampf gegen Roth aufgeben wollen, hat mich sehr getroffen. Ich fürchte, Ihr tragischer Verlust hat Ihre Wahrnehmung beeinflusst, und ich kann nur hoffen, dass keiner von uns beiden dies später bedauert. Ich werde auf jeden Fall das Schwert wieder aufnehmen, und ich hoffe sehr, dass es nicht notwendig sein wird, einen Vertrag mit einem amerikanischen Verleger abzuschließen, da diese Herren keineswegs auf meiner Seite waren, als ich noch der unbekannte Autor einer verbotenen »Obszönität« war und Sie mich gerettet haben. Ich hoffe, ich vergesse nicht zu rasch, bei wem ich in der Schuld stehe.
Anbei eine Liste mit Anmerkungen zu der französischen Übersetzung und einigen Gedanken zu Pomes, außerdem ein paar Rechnungen, die ich vor meiner Abreise zu bezahlen vergaß – könnten Sie sie bitte aus meinem Guthaben bei Ihnen begleichen? Vielen Dank, und bitte entschuldigen Sie.
Sehr herzliche Grüße, auch an Mademoiselle Monnier,
James Joyce
Seine Liste war drei Seiten lang. Im ersten Moment hätte sie sie am liebsten zusammengeknüllt und in den Papierkorb geworfen, doch dann blickte sie auf all die Bücher und Bilder an den Wänden ihres Ladens und auf den Stapel leuchtend blauer Ulysses-Exemplare, die sich immer noch so gut verkauften und ihre Buchhandlung nicht nur in alle möglichen Zeitungen von Paris und New York gebracht hatte, sondern auch in die Vanity Fair und den New Yorker und die Saturday Evening Post. Die Leute aus den Reisebussen, die Cyprian so verächtlich abgetan hatte und die ihr selbst gar nicht so unangenehm waren, reisten nicht nur hierher, um das Paris aus Fiesta zu sehen – dem Roman, der Ernest endlich auf eine Ebene mit Scott gehoben hatte –, sondern auch ihren Laden. Außerdem kamen ja nicht nur Touristen zu ihr, sondern auch echte Schriftsteller.
Es war schwer, weiter wütend auf den Mann zu sein, der all das in ihr Leben gebracht hatte.
Sie zeigte Myrsine die Liste, und sie teilten die Aufgaben untereinander auf und machten einen Plan, der es ihnen beiden dennoch ermöglichen würde, im August Urlaub zu machen. Während die heißen Tage sich dahinzogen und sie sich auf die Ferien zuarbeiteten, ereilten Sylvia zwei weitere Migräneanfälle und einige schwierige Korrespondenz von ihrer Familie. Als Erstes kam der Brief von Cyprian, die sich in Palm Springs erholte, nachdem bei ihr eine Asthmaerkrankung diagnostiziert worden war:
Ich wünschte, ich könnte sagen, dass es mich überrascht, aber es scheint mir das natürliche Ergebnis von Mutters Melancholie in den letzten Jahren zu sein. Ich hoffe, sie hat nun endlich Frieden gefunden. Für Dich gilt das sicher nicht, und es tut mir leid, dass Du Dich allein um alles kümmern musstest. Allerdings finde ich es schon eigenartig, dass sie es in Paris getan hat und nicht hier, in ihrem Zuhause …
Hollys Brief war offener und nicht so unterschwellig feindselig:
Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll. Ich vermisse sie jeden Tag und jede Stunde. Das mit dem Geschäft war nicht meine Idee und auch nicht meine Leidenschaft, aber dank Mutter hat es Spaß gemacht. Sie war eine großartige Gastgeberin, und sie hatte so ein großes Herz für schöne Dinge und nette Menschen. Der Laden war wie eine endlose Dinnerparty mit ihr am Tischende (außer wenn sie gerade dafür einkaufte). Ohne sie ist er mir nur eine lästige Pflicht.
Auf der anderen Seite wird Freddy immer hartnäckiger. Ich hatte mich eigentlich schon an die Vorstellung gewöhnt, eine alte Jungfer zu werden – wenn auch keine keusche –, aber nun, da Mutter nicht mehr da ist, finde ich die Idee, den Laden zuzumachen, zu heiraten und herumzureisen, ziemlich verlockend. Ich liebe ihn. Es macht uns Freude, zu tanzen und durch die Orangenhaine zu spazieren. Ich bin sicher schon zu alt, um noch Kinder zu bekommen, und das ist mir auch ganz recht so. Ich frage mich, ob eine späte Ehe nicht sogar glücklicher sein könnte als eine frühe, in der man nicht nur selbst erwachsen werden muss, sondern auch noch kleine Menschen großziehen …
Ihr Vater hingegen schrieb kaum mehr als »Ich vermisse Eure Mutter sehr. Wer sonst würde mich trotz meiner Fehler lieben?«
Zum ersten Mal fragte sich Sylvia, ob Gertrudes Ausdruck »verlorene Generation« auch auf sie zutraf. Sie hatte im Laden oft Debatten über diese Bezeichnung gehört, die Ernest berühmt gemacht hatte, indem er sie als Motto für seinen Roman Fiesta wählte. Schriftsteller wie Touristen waren entweder stolz darauf, als verloren angesehen zu werden, oder beleidigt, weil sie es als Vorwurf empfanden. Die Debatten waren oft hitzig, und sie hielt sich stets heraus.
Doch an diesem heißen Juliabend, als die tief stehende Sonne die Rue de l’Odéon in goldenes Licht tauchte und Sylvia mit den Briefen ihrer Schwestern und ihres Vaters allein im Laden saß, weil alle anderen ans Meer gefahren waren, dachte sie: Verloren heißt auch, dass man etwas nicht finden kann. Und ihre Mutter hatte den Weg zurück nicht mehr gefunden, zurück zu ihrem Traum von Paris. Es war nicht nur die Stadt als solche gewesen, sondern Paris als Inbegriff des strahlenden, schönen Lebens, das sie immer hatte führen wollen und das sie dreißig Jahre zuvor für einen kurzen Moment tatsächlich geführt hatte. Sie selbst, Sylvia, hatte ihren Traum gefunden und lebte ihn – aber das verdankte sie zu einem großen Teil dem Geld, den Büchern und der Liebe ihrer Mutter. Ohne Eleanor Beach gäbe es Odeonia nicht.
Kann es ohne sie weitergehen?
Kann es ohne Joyce weitergehen?
Bin ich genug, um diesen Traum am Leben zu halten?
Oder bin ich auch verloren?
Die Fragen machten Sylvia rastlos; sie verspürte den Drang, etwas zu tun. Wäre sie in Les Déserts gewesen, hätte sie draußen Feuerholz gehackt und sich den Rest des Abends dem erschöpften Zwicken in ihren Schultern und Armen hingegeben.
Es war schon recht spät, aber da es noch eine ganze Weile dauern würde, bis sich die Dämmerung herabsenkte, schloss Sylvia den Laden und ging mit flottem Schritt durch die belebten Straßen des Viertels und dann zum Jardin du Luxembourg. Ihre Augen füllten sich mit den leuchtenden Farben der üppig blühenden Petunien, Begonien und Rosen. Zwischen diesen angepflanzten Schönheiten fand sie die Blumenverkäuferin, die sie suchte, eine zahnlose Frau namens Louise, die beide Söhne im Krieg verloren hatte. Adrienne hatte Sylvia schon vor Jahren dorthin geführt und sie angewiesen, Blumen nur bei ihr zu kaufen. Ihr Stand in der Nähe des Palais war klein, aber sie hatte stets die schönsten und haltbarsten Blumen. Eleanors Lieblingsblumen waren rosa Pfingstrosen gewesen, die es normalerweise nur im späten Frühling gab, nicht mitten im Sommer, aber wie durch ein Wunder hatte Louise an diesem Abend einen Strauß davon da. »Sie sind später aufgeblüht, weil sie im Schatten standen«, erklärte sie auf Sylvias überraschte Frage.
Dann winkte Sylvia sich ein Taxi herbei, ein Luxus, den ihre Mutter geliebt hatte, und genoss die kleine Paris-Rundfahrt durch das offene Seitenfenster: an der Sorbonne vorbei, dann auf der Pont de Sully über die Seine, mit Notre-Dame direkt zu ihrer Linken, rund um den Place de la Bastille und weiter Richtung Nordosten bis zum 20. Arrondissement, wo der große Friedhof Père Lachaise mit seinen zahllosen, von Bäumen beschatteten Grabsteinen, Denkmälern und Mausoleen lag. Das Licht war silbrig geworden, als sie aus dem Wagen stieg und durch das Tor in der hohen Steinmauer trat, die den Friedhof umgab. Die Anlage war wie ein Labyrinth, und obwohl sie erst vor wenigen Wochen zur Beerdigung hier gewesen war, fürchtete Sylvia, dass sie das kleine Grab ihrer Mutter nicht finden würde. Doch zum Glück erwies sich ihre Sorge als unbegründet.
In Paris bin ich niemals verloren.
Und das verdanke ich dir, Mutter.
Als sie sich hinunterbeugte und die Pfingstrosen auf die Erde unterhalb des Grabsteins ihrer Mutter legte, spürte sie, wie ihr ein leichter Wind durchs Haar strich und ihr den Nacken kühlte. Sie richtete sich auf, atmete tief durch und fragte sich, warum sie eigentlich hergekommen war. Um ihrer Mutter die Blumen zu bringen natürlich, aber vor allem wollte sie so gern mit ihr reden. Doch es kam ihr seltsam vor, selbst wenn sie nur in Gedanken mit ihr sprach.
Deshalb setzte sie sich neben die Blumen, legte die Hand auf die kühle Erde, aus der bereits Gras spross, und dankte ihrer Mutter noch einmal. Sie blieb noch lange bei ihr, wie sie es zu ihrem Bedauern nicht getan hatte, als ihre Mutter noch lebte, und sah zu, wie der Tag zu Ende ging und der Mond am Himmel aufstieg.