Eines kalten Morgens im zeitigen Frühjahr 1928, als sie und Adrienne beim Frühstück saßen und ihren nächsten Sonntagsausflug mit dem Citroën planten, durchzuckte Sylvia beim ersten Schluck Kaffee plötzlich ein stechender Schmerz, der von der Schläfe bis zum Kinn ausstrahlte. Sie hatte schon seit ein paar Wochen kleinere Stiche in Stirn und Wange verspürt, die sie nicht weiter beachtet hatte, doch das hier war etwas vollkommen anderes – und auch anders als ihre Migräneanfälle.

»Du kannst heute nicht arbeiten«, sagte Adrienne.

»Aber Myrsine ist nicht da.«

»Schon wieder? Was ist denn mit dem Mädchen los? Sie ist dauernd unterwegs.«

Sylvia fragte sich dasselbe, die Hand an die Wange gelegt. Ihr war aufgefallen, dass Myrsine sich in letzter Zeit öfters freigenommen hatte, aber sie war so beschäftigt gewesen, dass sie nicht weiter darüber nachgedacht hatte.

»Was ist mit Julie?«, fragte Adrienne. »Wenigstens so lange, dass du zum Arzt gehen kannst.«

»Gute Idee«, brachte sie mühsam und undeutlich hervor. Amélie würde sich freuen, mit Larbauds Zinnsoldaten zu spielen. Sylvia bewahrte sie normalerweise in einer Vitrine auf, um sie vor neugierigen, ungeschickten Kinderhänden zu schützen, aber Amélie war vorsichtig und behutsam.

»Ich hole sie. Und du machst dir eine Wärmflasche für dein Gesicht.« Nach einem kleinen Kuss auf die andere Wange lief Adrienne los.

Eine knappe Stunde später, als sie im Wartezimmer der Klinik saß, kam Sylvia sich lächerlich vor. Ihr Gesicht fühlte sich wieder völlig normal an. Versuchsweise lächelte sie der älteren Frau zu, die ihr gegenübersaß – und nichts passierte. Kein Schmerz. Sie wollte gerade aufstehen und gehen, als eine Krankenschwester ihren Namen rief.

Eine Ärztin, die sie noch nie gesehen hatte, ungefähr in ihrem Alter, mit langem, von Grau durchzogenem schwarzen Haar, das sie zu einem altmodischen Knoten hochgesteckt hatte, stellte ihr eine ganze Menge Fragen zu dem Schmerz und teilte ihr dann mit, sie habe eine so genannte Gesichtsneuralgie.

»Das ist sehr selten«, sagte die Ärztin mit einem kleinen, bedauernden Lächeln.

»Im Gegensatz zu meiner Migräne«, erwiderte Sylvia in einem seltenen Anfall von Selbstmitleid. Das Letzte, was sie gebrauchen konnte, war ein weiteres Leiden.

»Migräne?«, wiederholte die Ärztin und wirkte mit einem Mal fast aufgekratzt. »Ich habe einen Kollegen, mit dem ich sehr gut befreundet bin, und er hat schon viele Patienten erfolgreich behandelt.« Sie schrieb einen Namen und eine Telefonnummer auf ein Blatt Papier. »Bitte rufen Sie ihn an. Er hat wahre Wunder bewirkt.«

Sylvia nahm den Zettel. »Danke. Und was ist mit dieser Gesichts…?«

»Neuralgie. Leider ist die nicht heilbar. Aber die Anfälle sind meist sehr kurz, wie der, den Sie heute Morgen gehabt haben. Mit der Zeit können Sie allerdings häufiger vorkommen. Aber Sie sind noch jung, und ich hoffe, die Krankheit schreitet nur langsam vorwärts. Und vielleicht hilft die Migräne-Kur auch bei der Neuralgie.«

Wieder draußen in der kalten, feuchten Luft, zündete Sylvia sich eine Zigarette an und spürte, wie der Rauch ihre Brust wärmte. Sie wusste, was dieser Arzt sagen würde: Rauchen Sie weniger, dann werden auch die Migräneanfälle weniger. Diesen Rat hatte sie schon von Dr. Borsch bekommen – einem Augenarzt! –, und sogar gratis.

Mit jeder anderen Form von »Kur« könnte sie sicher leben: lange, kraftvolle Spaziergänge, reichlich frisches Obst und Gemüse, selbst früheres Zubettgehen und weniger abendliches Lesen, um die Augenmuskeln zu entspannen. Zu alldem wäre sie bereit, und sie hatte auch schon gemerkt, wie gut ihr das tat, denn es ging ihr nie besser als nach einem ausgedehnten Aufenthalt in Les Déserts oder Rocfoin, wo sie viel an der frischen Luft war, weniger las und mehr schlief. Dank Adrienne aß sie das ganze Jahr über gut, obwohl der Winter immer eine Zeit der gehaltvollen Soßen und herzhaften Schmorbraten war, die ihr, wie sie bemerkt hatte, nicht so gut bekamen wie die leichteren Sommergerichte. Doch ab Oktober war es unmöglich, frische Tomaten, Rauke und Zucchini zu bekommen. Ende Februar gab es nur noch schrumpelige Möhren, Rote Bete und Rüben aus der Kellermiete, und die letzten Gläser mit eingemachten Früchten, deren klebrig süßer Saft alles Nahrhafte herausgesogen zu haben schien. Um diese Jahreszeit blieb selbst einer hervorragenden Köchin wie Adrienne nichts anderes übrig, als alles in Butter und Salz zu ertränken.

Aber das Rauchen aufgeben? Das fühlte sich an wie das Ende von etwas, ganz gleich wie durstig es sie machte und wie sehr es ihre Zähne und Finger verfärbte.

Ohnehin war schwer feststellbar, welche von ihren Problemen vom Rauchen, vom Essen oder vom Alter kamen. Im vergangenen Sommer war ihr aufgefallen, wie viele Gespräche unter ihren Freunden sich plötzlich um Krankheiten und Schmerzen drehten. Früher hatte sich nur Joyce endlos über seine Augen beklagt. Doch seit einer Weile machte Mrs Joyce sich Sorgen über ihren Zyklus, Larbaud beschwerte sich über seine Gelenke, Bob über seinen Rücken und Fargue über seine Lunge. Selbst der kraftstrotzende und noch relativ junge Ernest hatte ein verbundenes Bein nach einem Fahrradunfall.

»Wir sind alle ganz schön angeschlagen«, sagte Sylvia nach einem besonders larmoyanten Abendessen, bei dem alle zu viel getrunken hatten, um ihre jeweiligen Leiden zu betäuben. Sie drehte sich zu Adrienne. »Glaubst du, wir werden alt?«

»Unsinn«, erwiderte diese. »Das kommt vom Wein, wenn du mich fragst.« Dann beugte sie sich näher zu Sylvia und flüsterte ihr zu: »Und selbst wenn – ich habe nicht vor, mich vom Alter von irgendwas abhalten zu lassen.«

In der Nacht liebten sie sich, aber Sylvia hatte das Gefühl, gar nicht in ihrem Körper zu sein und nur zuzusehen. Seit dem Tod ihrer Mutter fehlte etwas in ihrem Innern, und das merkte sie am deutlichsten, wenn sie eigentlich große Nähe empfinden sollte.

Tagsüber bei Shakespeare and Company konnte sie sich in der Arbeit vergraben und das, was sie bedrückte, vergessen. Sie hoffte, diese innere Distanz wäre nur eine vorübergehende Erscheinung, wie ihre Migräne oder die Gesichtsneuralgie, doch als sie sich trotz reichlich Schlaf immer wieder erschöpft fühlte, sah sie ein, dass sie etwas ändern musste. Mit schierer Willenskraft reduzierte sie die Zigaretten um die Hälfte und machte jeden Abend zwischen Ladenschluss und einem Essen mit Freunden zu Hause oder einer Party anderswo einen langen Spaziergang durch den Jardin du Luxembourg.

Nach und nach ging es ihr besser, zumindest was ihre Arme und Beine und ihre Lunge betraf, doch im Herbst, als die frisch eingeschriebenen Studenten und die ersten kalten Winde durch die Straßen strömten, spürte Sylvia jedes einzelne ihrer einundvierzig Jahre. Selbst die Doktoranden sahen unglaublich jung aus. Es schien ihr unmöglich, dass sie selbst auch einmal zweiundzwanzig gewesen war, mit so glatten Wangen und klaren Augen. Und mit Schrecken erkannte sie in ihrer eigenen Erschöpfung ein Echo der Klagen ihrer Mutter. Für mich ist es zu spät, Sylvia. Ich bin alt, ich habe meine Figur und meine Schönheit verloren. Was, wenn sie Eleanors Haltlosigkeit geerbt hatte? Und wenn ja, war es möglich, ihr zu entkommen?

»Wusstest du, dass Joyce darüber nachdenkt, sich für Work in Progress einen Ghostwriter zu suchen?«, fragte Adrienne in die Dunkelheit. Sylvia war gerade kurz vorm Einschlafen gewesen, doch Adriennes aufgewühlter Tonfall weckte sie wieder auf, und ihr Puls beschleunigte sich vor Sorge, wohin dieses Gespräch führen würde.

»Er hat es erwähnt«, antwortete sie.

»Hast du ihm gesagt, dass das auf keinen Fall geht?«

»Ich habe anklingen lassen, dass ich es für keine gute Idee halte.«

»Es wäre der Gipfel der Unehrlichkeit! Bei der Vorstellung, dass ein Leser, dem Ulysses gefallen hat, seinen neuen Roman kauft und auf diese Weise betrogen wird, dreht sich mir der Magen um.«

»Ich bin ganz deiner Meinung, Adrienne, aber was kann ich denn tun?«

»Nichts natürlich. Er hört ja auf niemanden.«

»Außerdem veröffentliche ich das Werk ja nicht, also steht auch nicht meine Integrität auf dem Spiel.« Das laut auszusprechen war eine Erleichterung. »Wenn der Name von Shakespeare and Company auf dem Buch stünde, würde ich mich energischer dagegen wehren.«

Ein langes Schweigen folgte, und Sylvias Herz pochte so heftig, dass es ihr fast den Brustkorb sprengte. Schließlich sagte Adrienne: »Ich glaube, ohne ihn wäre Shakespeare and Company viel bedeutender.«

»Wie das? Joyce ist doch eine seiner größten Attraktionen.«

»Ich glaube, du würdest dich wundern, Sylvia. Ich wünschte, ich könnte dir das Odeonia zeigen, das ich sehe, ohne ihn.«

Sylvia war übel vor Einsamkeit. Für sie war es Odeonia und Stratford-on-Odéon, nicht das eine oder das andere. »Ich weiß, dass unsere beiden Läden sich ergänzen, Adrienne. Sie sind zwei Hälften eines Ganzen, vor allem für unsere französischen Freunde. Aber für meine amerikanischen Kunden ist Shakespeare eine Insel für sich.« Es war das erste Mal, dass sie es offen aussprach: Ihr Laden war auch etwas Eigenes, abseits von Adriennes. Doch anstatt sie mit Stolz zu erfüllen, gab ihr diese Tatsache das Gefühl, von allem abgeschnitten zu sein.

»Ich verstehe nicht, warum du dich deshalb den Launen dieses … Mannes beugen musst. Du dienst ihm, als wärst du seine Ehefrau. Eröffne das Café über dem Laden! Erfülle dir deinen eigenen Traum, chérie

»Das ist mein Traum«, erwiderte sie mit zitternder Stimme. Ulysses zu verlegen, Joyce zu helfen, Shakespeare and Company zu führen – all das gab ihr das Gefühl, gebraucht zu werden.

»Aber ist es genug?«

»Ja«, antwortete sie. Es war nicht gelogen. Aber es war auch nicht die ganze Wahrheit.

Sylvia ertappte sich dabei, dass sie das Thema Joyce Adrienne gegenüber vermied, obwohl sie ihren klugen Rat gerade jetzt gebraucht hätte. Aber Adrienne gelang es nicht mehr, die Dinge, die ihn betrafen, unvoreingenommen zu betrachten. In ihren Augen hatte er jegliche Integrität verloren.

Obwohl es Sylvia nicht mal im Traum eingefallen wäre, um Diskretion zu bitten, war sie unendlich erleichtert, dass Adrienne die Information vertraulich behandelte. Unter ihren französischen Freunden klagte Adrienne offen über Joyce’ Gier und Eitelkeit, doch seine Unehrlichkeit erwähnte sie nie – wohl aus Rücksicht auf Sylvias Ruf als Verlegerin. Nach einer Dinnerparty, bei der Adrienne so weit gegangen war, ihn als Midas zu bezeichnen, half Larbaud Sylvia beim Abwasch, und während Adrienne sich weiter angeregt mit Fargue und ein paar anderen Gästen unterhielt, fragte er leise: »Wie geht es dir denn in letzter Zeit mit Joyce?«

Das unerwartete Mitgefühl ihres Freundes trieb ihr die Tränen in die Augen. Heftig blinzelnd erwiderte sie: »Ich kann nicht leugnen, dass er meine Geduld auf eine harte Probe stellt.«

Er nickte, während er die schwere Souffléform abtrocknete, in der der köstliche erste Gang von Adriennes Mahl gewesen war. »Was denkst du?«, fragte sie plötzlich drängend. »Ist er jetzt so anders als der Mann, den wir 1921 kennengelernt haben?«

Larbaud überlegte, während er die Souffléform wegstellte und nach einem Stieltopf griff. »Wir haben uns natürlich alle verändert. Und indem wir älter werden, verstärken sich Gedanken und Gewohnheiten. Das passiert mit Adrienne ebenso wie mit Joyce.«

»Und deren Gedanken und Gewohnheiten werden immer gegensätzlicher.«

Er nickte. »Tut mir leid, Sylvia. Das ist sicher nicht einfach für dich.«

»Ich liebe sie beide«, sagte sie mit einem Kloß im Hals. »Ich will mich nicht entscheiden müssen.«

Larbaud stellte den Topf ab und legte ihr sanft die Hand auf den Rücken. »Ich hoffe, so weit wird es nicht kommen.«

»Aber? Da ist doch noch etwas, das du sagen willst.«

»Wenn ich darf … Adrienne liebt dich von ganzem Herzen.«

»Und Joyce nicht.«

»Er liebt dich so, wie es ihm möglich ist. Was natürlich an deinen Gefühlen nichts ändert. Das verstehe ich.«

Sylvia wischte sich die Nase am Ärmel ab und legte den Kopf an Larbauds Schulter. Wenn sie sich doch nur einfachere Dinge wünschen würde.