Der Abend des 6. Juni 1936 fühlte sich an wie eine Hochzeit – es war ein Fest, und etwas endete, während etwas Neues begann. Freunde aus allen Zeiten ihres Lebens waren gekommen, für sie, für Shakespeare and Company und für T.S. Eliot, der aus Das öde Land lesen würde: Ezra, Joyce, Carlotta und James, Julie und Michel, Larbaud, Valéry, Schlumberger, Gide, Margaret und Jane, Gertrude und Alice, Beckett, Walter, Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre und sogar Ernest und seine neue Freundin, Martha Gellhorn, eine Journalistin, die er in Spanien kennengelernt und in die er sich offensichtlich schwer verliebt hatte. (Ach, Ernest, dachte Sylvia, wirst du denn nie klüger?)

Es war die fünfte Lesung der ›Freunde‹ und die erste mit einem englischsprachigen Autor, nachdem zuvor Gide, Valéry, Schlumberger und Jean Paulhan gelesen hatten. Jeder einzelne Abend war ein Erfolg gewesen. Um neun Uhr waren alle sechzig Stühle, die sie in den Raum von Shakespeare and Company gequetscht hatten, stets besetzt, und die Gäste lauschten mit einem Glas Wein in der Hand, während der Schriftsteller du soir aus einem noch unveröffentlichten Werk las.

Es war schwer zu sagen, was das eigentliche Ereignis war: die Stunde klangvoll und dramatisch vorgetragener Literatur oder der muntere Empfang danach, bei dem die Zuhörer auf den Autor, die ›Freunde‹ und Odeonia anstießen, während sie die Leckereien kosteten, die Adrienne und Rinette vorbereitet hatten. Oft wandten sich die Gespräche dem Schicksal von Frankreich in einem sich nahezu täglich wandelnden Europa zu, mit einem Krieg in Spanien und einem Diktator in Deutschland, dessen Versprechungen nicht mehr wert waren als Toilettenpapier, wie Gide sich ausdrückte. Doch irgendwie hatten selbst solche ernsten Themen an diesen Abenden etwas Träumerisches an sich, gedämpft durch das dämmrige Licht und die Bücherregale, die schützend zwischen ihnen und der Welt draußen standen.

Eliot, der an dem Morgen aus England gekommen war, erklärte, er habe kein neues Gedicht in Arbeit, da er gerade mit einem Theaterstück fertig sei, und deshalb werde er aus seinem langjährigen Bestseller bei Shakespeare and Company lesen, Das öde Land, das 1922 veröffentlicht worden war, nur wenige Monate nach Ulysses. Sylvia fragte sich, ob Joyce sich genauso deutlich an dieses Jahr erinnerte wie sie. Er saß zusammen mit Nora im Publikum, die Hände im Schoß verschränkt, und seine Miene verriet nichts.

Die Buchhandlung war zum Bersten voll; hinten an den Wänden drängten sich noch Stehende in zwei Reihen wie die Sardinen. Gisèle war mit ihrer Kamera da, wie mittlerweile fast immer bei künstlerischen Veranstaltungen – sie fotografierte berühmte Schriftsteller, Maler und dergleichen, genau wie Adrienne und Sylvia es ihr prophezeit hatten. Sie war dabei, sich einen Namen zu machen – eine weitere Erfolgsgeschichte Odeonias, und Sylvia war stolz darauf, einen Anteil daran zu haben.

Da sie bereits mehrere Lesungen veranstaltet hatte und dies die letzte der Saison war, genoss Sylvia den Abend entspannt und glücklich. Alle Menschen, die ihr etwas bedeuteten, schienen hier versammelt zu sein; die einzigen, die sie gern noch dabeigehabt hätte, waren ihre Eltern und Schwestern. Aber sie war früher am Tag bei ihrer Mutter am Grab gewesen, und sie überlegte, nach Kalifornien zu reisen, um ihren Vater und ihre Schwestern zu besuchen. Gertrude war kürzlich von einer Siegesreise durch die Vereinigten Staaten zurückgekehrt, wo sie vor mehreren hundert Zuhörern Lesungen und Vorträge abgehalten hatte. »Aber es waren nie mehr als fünfhundert«, erklärte sie den Gästen in ihrem Salon mit solch falscher Bescheidenheit, dass Sylvia meinte sie verstohlen schmunzeln zu sehen. Zu hören, wie die abgebrühte Gertrude Stein so begeistert von dem gewaltigen Himmel im Westen, den Wolkenkratzern in New York und den Gewitterwolken über Washington schwärmte, hatte in Sylvia zum ersten Mal seit vielen Jahren die Lust geweckt, das Land ihrer Herkunft wiederzusehen.

Ein neues Abenteuer. Was für ein wunderbarer Gedanke.

Gern hätte sie weiter mit all ihren Gästen über dies und das geplaudert, aber es war neun Uhr und Zeit zu beginnen. Jean Schlumberger trat auf die improvisierte Bühne und schlug mit einem Löffel gegen sein Weinglas, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

Nachdem Jean Eliot vorgestellt und das Publikum enthusiastisch Beifall geklatscht hatte, wurde es im Raum vollkommen still. Sylvia verspürte kribbelnde Aufregung, obwohl sie sein Gedicht Hunderte von Malen gelesen hatte. Sie hatte es sogar ins Französische übersetzt.

Eliot räusperte sich und stammelte: »Meine Güte, ihr seid meine Freunde, da erwarte ich weniger Respekt«, und alle lachten.

Dann wurde es wieder still.

Wie ein Pastor am Ostersonntag schlug Eliot feierlich und voller Freude die Erstausgabe seines Gedichts auf, von der Sylvia sich bei ihren Verkäufen nicht hatte trennen können, und begann. »Für Ezra Pound, Il Miglior Fabbro

Wieder erklangen Beifallsrufe. Ezra stand auf und verneigte sich, und Eliot lächelte breit und sagte: »Da ist er ja«, dann fuhr er fort.

Mischt Erinnerung mit Lust. Das ist die Crux, nicht wahr?, dachte Sylvia. Wie konnte er das als so junger Mann schon wissen? 1922 waren wir alle noch so jung.

Sie schloss die Augen und ließ Eliots Worte über sich hinwegströmen, und es war, als hörte sie sie zum ersten Mal. Selbst nach vierzehn Jahren erschienen sie ihr überraschend neu und frisch und lebendig. Als er zum Ende kam,

herrschte einen Moment Stille, dann brach stürmischer Beifall aus. Sie öffnete die Augen, und alle sprangen auf, jubelten, klatschten, pfiffen und stampften mit den Füßen, einschließlich ihrer selbst, obwohl sie Eliot von ihrem Platz inmitten der Menge nicht einmal sehen konnte. Doch dann öffnete sich vor ihr plötzlich eine Gasse, und Eliot streckte ihr die Arme entgegen und winkte sie mit strahlenden Augen zu sich auf das kleine Podium. Ein wenig benommen – innerlich war sie immer noch halb in dem Gedicht, in der schattenvollen alten Welt, die er heraufbeschworen hatte – ging sie auf Eliot zu, der den Arm um ihre Schultern legte und sie zum Publikum drehte, woraufhin der Beifall noch stürmischer wurde.

Voll Unbehagen und wie betäubt vom rhythmischen Klatschen, brachte Sylvia es nicht fertig, irgendjemandem vor ihr in die Augen zu sehen. Verlegen, aber auch zutiefst dankbar lächelte sie und klatschte ihrerseits ihren Freunden zu.

»Auf Sylvia!«, rief Ernest, hob sein Glas und pfiff.

»Auf Shakespeare and Company!«, brüllte ein anderer, worauf noch mehr Pfiffe folgten.

»Auf euch«, antwortete sie.

In Erinnerung an die Eröffnungsfeier von Shakespeare and Company, als Cyprian und Adrienne sie dazu gebracht hatten, eine Rede zu halten, schwor Sylvia sich, es diesmal nicht zu tun, obwohl sie ebenso von Stolz und Freude erfüllt war wie damals. Dieser Abend sprach für sich selbst.

Als der Beifall schließlich verebbte und alle ihre Gläser und Teller auffüllten, kehrte der Geräuschpegel im Raum zu einem gleichmäßigen Gemurmel zurück, und Sylvia fühlte sich wieder wohl. Sie genoss es, sich von einem Gespräch zum anderen treiben zu lassen, und nach etwa einer Stunde stand sie Joyce gegenüber. Nur Joyce. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt allein inmitten eines Raums voller Menschen miteinander gesprochen hatten.

Er gab ihr eine mit schimmerndem Silberpapier und weißem Satinband verpackte Schachtel. »Bitte nehmen Sie das als gänzlich unzureichenden Dank dafür, dass Sie es Ulysses ermöglicht haben, Amerika und nun auch Großbritannien zu erobern.«

Sylvia spürte, wie ihr die Hitze in Wangen und Ohren stieg, und sie konnte die Hände nicht bewegen, um das Geschenk entgegenzunehmen. »Es ist Ihr Buch, Mr Joyce. Unsere elf Auflagen davon herauszubringen, war Geschenk genug.« Vielleicht ist es das nach all der Zeit tatsächlich.

»Und dies ist seine erste und noch immer wahre Heimat. Stratford-on-Odéon. Ohne diesen Ort wäre er nicht, was er ist.«

Ja. Seine Worte bedeuteten ihr so viel, auch jetzt noch. »Stratford ist Ulysses’ wahre Heimat? Bringen Sie da nicht etwas durcheinander?«, scherzte sie, um von ihrer Bewegtheit abzulenken. Ihre Ohren glühten noch immer.

»Ich habe es schon vor Jahren aufgegeben, nach einer Annäherung an Ithaka zu suchen.« Da war wieder diese Traurigkeit, dieses Bedauern.

Sie räusperte sich und sagte, um Leichtigkeit bemüht: »Wie ich höre, sind Glückwünsche fällig. Das Buch hat sich fünfunddreißigtausendmal verkauft, und das innerhalb von nur drei Monaten! Das ist besser als bei Gatsby! Und mehr, als ich von all unseren Auflagen zusammengenommen je verkauft habe.«

»Ja, aber Random House ist nicht Shakespeare and Company.« Er nahm ihre Hand – hatte er das schon je zuvor getan? – und drückte die Schachtel hinein. »In Anbetracht all dessen, was Sie getan haben, kann jedes Geschenk nur jämmerlich unzureichend sein, aber es würde mir viel bedeuten, wenn Sie dieses annähmen.« Er zögerte, auf seinen Eschenstock gestützt, dann sagte er: »Da ist etwas, das ich Sie schon immer fragen wollte.«

»Du meine Güte – nur zu.«

»Warum haben Sie nie ein anderes Buch herausgegeben? Ich weiß, dass Lawrence Sie gebeten hat, Lady Chatterley zu verlegen. Und vielleicht hätten Sie auch Radclyffe Halls Quell der Einsamkeit helfen können.«

Diese Frage hatte sie im Lauf der Jahre schon so oft gehört, und alle Antworten, die sie darauf gegeben hatte – mit Ulysses habe ich schon genug zu tun; der Laden lässt mir keine Zeit dafür; Shakespeare and Company ist ein Ein-Autor-Verlag –, erschienen ihr mit einem Mal oberflächlich und läppisch.

»Ich glaube, weil ich bei Ihrem Buch die Ungerechtigkeit, die es erdulden musste, am stärksten empfunden habe. All die anderen verbotenen Bücher, die Hilfe brauchten, kamen danach. Mir gefiel es, bei dem ersten und einzigartigsten dabei zu sein. Ulysses und Shakespeare and Company.« Beide nicht nur Erste ihrer Art, sondern erstklassig. Wenn sie Joyce diesen Ehrgeiz nicht gestehen konnte, dann niemandem.

»Sie sind in gewisser Weise eins, nicht wahr? Das Buch und der Laden?«

»Ein Diptychon.«

»Ein Duett.«

Sylvia lachte. »Wie altmodisch von uns.«

»Danke, Sylvia. Für alles.«

»Es war mir ein großes Vergnügen, James.«

Er ließ den Blick über die Regale schweifen. »Ich bin sehr froh, dass dieser magische Ort so viele Freunde hat, die ihn beschützen.« Dann wandte er sich um und machte sich auf die Suche nach Nora.

Die Schachtel in ihrer Hand wog so gut wie nichts. Sie hatte keine Ahnung, was sich darin befinden mochte. Schließlich wurde die Neugier zu groß, und sie schlüpfte ins Hinterzimmer, um sie zu öffnen. Im Innern lag ein Scheck von Random House in New York, ausgestellt auf Joyce, den er ihr überschrieben hatte.

Mit diesen Bruchstücken stützte ich meine Trümmer. Wie treffend.

Shantih.

Vielleicht war solch ein Friede doch möglich.