Ich spaziere gerne am Dassendaler Weg zwischen dem Römerturm und der St. Gerebernus-Kapelle. Manchmal sagen mir Stimmen, ich soll hier hin gehen. Vielleicht suche ich instinktiv die Nähe eines sakralen Gebäudes. Betreten habe ich die Kapelle nie. Auch keine andere Kirche.
Seit Jahren nicht.
Es wäre mir irgendwie unangemessen vorgekommen. Du hast dort nichts zu suchen! , sagt eine Stimme.
Aber eine andere widerspricht: Genau hier bist du richtig. Im Angesicht des Kreuzes. Wo sonst willst du Buße tun?
Ich schließe die Augen.
Kneife sie zu.
Drücke die Handflächen auf die Ohren.
Es ist dunkel.
So dunkel.
Der Chor der Stimmen verstummt nicht.
Ich spüre eine leichte Berührung. Sie wirkt wie ein elektrischer Schlag.
"Ist Ihnen nicht gut?", dringt eine weibliche Stimme in mein Bewusstsein. Ich erkenne sie wieder, öffne die Augen und sehe die quirlige Katharina aus dem Sozialamt. Ihr Gesicht wirkt besorgt.
"Alles in Ordnung."
"Wirklich?"
"Wirklich."
"Ich habe ein Handy dabei. Soll ich einen Arzt rufen?"
"Nein, danke."
Sie sieht mich zweifelnd an. "Na, Sie müssen es ja wissen."
"Eben!"
Geh weg.
Sofort.
"Ich meine, es ist halt so, dass Kurse meistens im Laufe der Zeit kleiner werden", sagt die Leiterin einmal. "Aber wenn man keine Lust mehr hat, könnte man sich eigentlich wenigstens abmelden, finde ich."
Hast du eine Ahnung!, denke ich.
Die Leiterin macht ein ernstes Gesicht.
Drei volle Sekunden Schweigen.
Dann wenden wir uns dem Text einer rothaarigen, sehr hageren und sehr unzufrieden wirkenden jungen Frau zu, die aussieht, als hätte sie in ihrem jungen Leben schon viel mitgemacht. "Ich habe das Problem, wie ich historische Fakten in meinen Krimi einbauen soll", sagt sie. "Ich möchte schließlich nicht aufdringlich oder belehrend klingen, andererseits ... Nun, ich habe einen Kompromiss zwischen spannender Handlung und historischer Genauigkeit versucht."
Wir hören ihr zu.
Nachdem sie zwei Seiten lang über die Gründung der Stadt Sonsbeck im Jahre 8 v. Christus durch den römischen Kaiser Tiberius doziert und Bezüge zur Herrschaft der Grafen von Cleve im zwölften Jahrhundert hergestellt hat, die in Sonsbeck eine Bockwindmühle besaßen, denke ich, dass dieser Kompromiss gründlich daneben gegangen ist. Eigentlich geht es ihr nämlich darum, einen Mord zu beschreiben, der in der Turmwindmühle stattfindet, die zu dem daneben liegenden Hotel gehört.
Als die Rothaarige anschließend noch ellenlange und detailreiche Beschreibungen des fast völlig von Efeu überwuchterten Mauerwerks zum besten gibt, denke ich: Man sollte die Todesstrafe wieder einführen.
Für Langweilerinnen.
Etwas fasziniert mich doch an ihr.
Ihr Gesicht.
Sie ist nicht mein Typ, das hatte ich innerhalb der ersten zwei Sekunden entschieden, in denen ich sie sah.
Trotzdem...
Ihr Gesicht - nein, ihr Gesichtsausdruck! - dieses fleischgewordene Monument aus Qual und Entsagung, muskulös durch das Kauen von Grünkernen und Müsli, gezeichnet durch den Ausdruck permanenter Unzufriedenheit, der sich bereits in Form von charakteristischen Falten verewigt hat, erinnert mich an Mutter.
Sie sah auch so drein.
Wenn sie von der schweren Zeit sprach.
Sie sprach oft davon.
Kein Wunder, dass sie früh Falten bekam.
Das mit den Stimmen fing an, als ich etwa fünf Jahre alt war.
"Dafür brauchen wir keinen Arzt", hatte Mutter damals gesagt. "Das wächst sich aus, wenn du größer wirst."
Es hat nie wieder richtig aufgehört. Sie sind immer da. Das Einzige, was sie vorübergehend übertönen kann, sind die Stimmen anderer.
Die Stimmen meiner Besucherinnen zum Beispiel.
Mutter hat keine von ihnen gemocht - und das, obwohl ich ihr nur das Beste über sie berichtet habe. Keiner von ihnen ist sie persönlich begegnet.
"Was ich gehört habe, reicht mir für ein Urteil", pflegte sie zu sagen.
Ein Urteil.
Das war es.
Ein Urteil ohne Berufung. Ohne Verteidiger. Nur eine einsame Richterin.
"Reg dich nicht so auf", sagte ich.
"Wieso soll ich mich nicht aufregen, wenn du dich mit den falschen Frauen triffst? Welche Mutter würde sich da nicht aufregen?"
"Weißt du nicht, dass so etwas einen zweiten Schlaganfall auslösen kann?"
"Ach, Junge!"
Gegenüber vom Sonsbecker Rathaus befindet sich ein Parkplatz.
Dahinter ragt die Silhouette der evangelischen Kirche hervor. Zwei Einsatzwagen der Polizei stehen auf dem Parkplatz. Als ich mit dem Fahrrad in die Herrenstraße einbiege, fallen sie mir wegen der eingeschalteten Blinklichter gleich auf. Irgendetwas muss passiert sein.
Ich fahre auf den Parkplatz. Um die Polizisten hat sich ein Pulk von schaulustigen Passanten gebildet. Uniformierte Beamte teilen Handzettel aus. Das Bild einer jungen Frau ist darauf zu sehen. Darunter die Frage, ob jemand ihr in den letzten Tagen begegnet sei. Ein Beamter kommt auf mich zu, drückt mir auch so einen Zettel in die Hand.
"Was ist passiert?", frage ich.
"Versuchen wir gerade herauszufinden."
"Sie ist doch nicht tot?"
Meine Stimme vibriert.
Warum eigentlich?
Der Beamte sieht mich an. Seine Augen sind dunkelgrau. Genau wie sein Schnauzbart, der so dick ist, dass man von den Lippen nichts sehen kann. Er mustert mich. Ich fange an zu schwitzen. Ich fange immer an zu schwitzen, wenn mich jemand so ansieht. Genau auf diese Weise.
Unmöglich zu sagen, woran das liegt. Ich weiß nur, dass sich dann meistens die Stimmen melden.
Geh weg.
Sofort.
Flieh!
"Sehen Sie sich das Bild genau an", sagt der Polizist. "Vielleicht kennen Sie die junge Frau ja ..."
Ich nicke.
Senke zögernd den Blick.
Bislang habe ich es vermieden, mir das Gesicht anzusehen.
Tu es nicht!
Sieh nicht hin!
"Schreckliche Sache", sage ich.
"Naja, wir wissen ja noch nicht sicher, was wirklich passiert ist", erwidert der Uniformierte.
"Ich glaube, dann würden Sie nicht so eine große Aktion starten."
"Also, was ist? Kennen Sie die Frau?"
"Nein."
Ich muss schlucken.
Er sieht dir deine Lüge an, denke ich. Er sieht dir an, dass du jeden Tag mit ihr sprichst, dass sie an deinem Tisch sitzt, dass ihr zusammenlebt wie ein altes Paar.
Ich höre die Leute reden. Von härteren Strafen und perversen Schweinen, von schlampigen Gutachtern und zu milden Urteilen wegen einer schweren Kindheit. Das ganze Stammtischgequatsche eben. Der Polizist geht weiter.
Geh weg.
Sofort.
Ich steige auf das Fahrrad, zittere dabei.
"Sie wollen wirklich schon gehen?"
Ihr Gesicht wirkt verlegen.
"Ja."
"Aber ..."
Woran liegt es nur? Mutter kann nichts damit zu tun haben. Sie liegt seit ihrem Schlaganfall starr da und wenn ich sie nicht alle paar Stunden umbetten würde, bekäme sie Druckstellen, die sich nach einiger Zeit dunkel verfärben. Manchmal ruft sie nach mir, das hat sie jetzt nicht getan. Der Hass, den sie meinen Besucherinnen entgegenbringt, kann doch nicht durch die Wände ihres Zimmers gedrungen sein wie eine schwarze Giftwolke!
Ich höre Stimmen.
Einen dumpfen, choatischen Chor, der lauter wird, anschwillt.
"Ich muss mich auf den Weg machen. Verstehen Sie mich doch, es ist höchste Zeit ..."
"Ich habe den Tisch gedeckt!"
"Hören Sie, ich will Sie nicht kränken, aber ..."
"Aber?"
"Ich weiß nicht, ob es richtig war, Ihre Einladung anzunehmen ... Was ich sagen will ist ..."
"Sie können mir das nicht antun! Ich habe für Sie gekocht!"
"Das ist sehr nett, aber - "
"Alles ist vorbereitet ... "
Sie runzelt genau in diesem Moment die Stirn.
"Vorbereitet?"
Viele von ihnen haben genau in diesem Moment die Stirn gerunzelt.
Ich kann es unmöglich erklären, aber es ist so.
Ich habe kein gutes Gefühl.
"Es gibt Lachs in Kräuterbutter. Dazu einen guten Wein. Es wird Ihnen schmecken ..."
Ich habe etwas Scheußliches getan.
Naja, das haben die meisten vielleicht irgendwann schon mal in ihrem Leben. Aber das, was ich getan habe, ist von besonderer Scheußlichkeit.
Ich weiß es, aber ich kann es nicht ändern.
Ich empfinde auch keine Schuld.
Es ist so gekommen.
Aus.
Fertig.
Reden wir über etwas anderes.