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Das Mittagessen im Hotel Mercator, auf das sich Schmitz eigentlich schon sehr gefreut hatte, musste wohl oder übel ausfallen.

„Immerhin tue ich damit etwas für die schlanke Linie und trage auch noch zur Lösung des Falls bei!“, dachte der Reporter. „Und wer wäre für so edle Zwecke nicht sofort bereit gewesen, ein paar Stunden zu darben?“

George fuhr zum Polizeipräsidium nach Heinsberg. Dabei schlug er den Weg über Kreuzrath nach Birgden ein. Am Ortseingang von Birgden hielt er kurz an, um sich das „Birgdener Betkreuz” genauer anzusehen. Ein Freund aus diesem schmucken Örtchen hatte ihm vor kurzem von dieser alten Andachtsstätte erzählt. Im Jahre 1798 soll hier Kindern am Weißen Sonntag die Gottesmutter erschienen sein. Das Kreuz – umgeben von einer kleinen Kapelle – wurde von zahlreichen Betern, ja oft von Scharen von Wallfahrern besucht. George nahm sich vor, der Bedeutung dieses Kreuzes genauer nachzugehen, dann könnte er später darüber einen Artikel für die Zeitung verfassen. Er zwang sich aber jetzt, seine Gedanken wieder auf das Ziel seiner Fahrt zu richten.

Über Waldenrath erreichte er Heinsberg.

Als er in Krichels Büro eintraf, war der Obduktionsbericht gerade gefaxt worden.

In etwa hatte der Reporter diesen Umstand auch vorausschauend so abgeschätzt.

„Was beinhaltet der Obduktionsbericht?”, fragte er ziemlich forsch.

Sein Gegenüber zögerte.

„Ich möchte nicht jedes Detail haarklein in der Zeitung lesen”, erklärte Krichel dann vorsichtig. „Schließlich wollen wir den Kollegen die Option offen halten, gegebenenfalls aus fahndungstaktischen Gründen einige Fakten noch nicht direkt an die Bevölkerung herauszugeben. Herr Schmitz, Sie verstehen doch sicher, was ich damit meine.”

„Vollkommen”, versicherte George. Und noch etwas anderes hatte er verstanden. Krichel hatte von den Kollegen gesprochen. Nicht von wir oder uns. Das sprach eigentlich dafür, dass nicht die Kripo in Heinsberg den Fall übernehmen würde, sondern die in Aachen.

So, wie es eigentlich angesichts der Umstände des Falles auch zu erwarten gewesen war.

„Die Aachener übernehmen also.” Diese Worte, die da über die Lippen des Reporters kamen, waren keine Frage, sondern eine Feststellung.

Krichel nickte.

„Ja, leider. Ich hätte gerne gezeigt, dass wir auch in der Lage wären, so einen Fall hier von Heinsberg aus zu lösen. Aber das haben andere entschieden.” Er zuckte mit den Schultern. „Da ist wohl nichts zu machen.”

Dass Diensthierarchien so ihre Tücken besaßen, hatte George schon des Öfteren am eigenen Leib erfahren. So konnte er Krichels Ärger über die Entscheidung, die Kripo Aachen den Fall bearbeiten zu lassen, durchaus verstehen. Das war genauso, als wenn der Chef einer Zeitungsredaktion im letzten Moment doch noch einen Artikel aus dem Blatt verbannte oder eine andere Überschrift nahm, die die Bedeutung des Textes auf den Kopf stellte.

Dies alles hatte George schon erlebt und durchlitten. So gesehen war er froh, letztlich als freier Mitarbeiter sein eigener Herr zu sein.

Vorschriften wollte er sich jedenfalls von niemandem machen lassen.

Der Obduktionsbericht lag auf Krichels Schreibtisch – und zwar so, dass Schmitz ihn lesen konnte.

„Sehen Sie ihn sich ruhig an”, sagte Krichel nach einer Weile.

„Kann ich eine Kopie machen?”

„Nein, das wäre dann doch zu viel des Guten. Übrigens steht im Grunde genommen auch nichts darin, was wir nicht erwartet hätten und was Sie nicht schon wüssten. Sie sagten am Telefon, dass Sie auch noch etwas zum Fall beitragen könnten. Ich würde das dann weitergeben, sobald sich die Kollegen über die personelle Zusammensetzung der Mordkommmission geeinigt haben!”

„Augenblick”, murmelte George in diesem Moment, nahm das Fax mit dem Obduktionsbericht und folgte mit den Augen den Zeilen.

Er konnte schnell lesen und hatte den Inhalt sofort erfasst.

Dem Bericht nach war der Tote Anfang vierzig und wog 75 Kilogramm. Aber um das herauszufinden, hätte es nun wahrlich nicht unbedingt der Hilfe eines Gerichtsmediziners bedurft. Zumindest nicht in diesem Fall.

Als Todesursache war angegeben: Gewaltsame Aspiration eines Fremdkörpers in den oralen Trakt.

Als Tatwaffe wurde eine etwa 23 Zentimeter lange Möhre festgestellt. Die Verletzungen passten exakt zu den Verwundungen, die der Tote speziell im Rachenbereich davongetragen hatte. Durch das kräftige Einführen des Gemüsekörpers brach ein Frontzahn ab, wobei im Zuge des Gewaltaktes leichte Blutungen im Rachenbereich verursacht wurden - so stand es in dem Bericht. George musste innerlich schmunzeln, obwohl die Sache an sich nun wirklich nicht lustig war. Aber die Mischung aus Fachchinesisch und Behördendeutsch war schon von ganz besonderer Qualität.

„Und den Zeitungen sagt man immer einen schlechten Stil nach“, ging es ihm durch den Kopf. „Dagegen hörte sich doch selbst ein Text in einer Boulevardzeitung noch wie Lyrik an!“

Der Obduktionsbericht führte weiter aus:

„Das Opfer konnte durch den Verschluss der unteren Luftwege nicht mehr am Gasaustausch teilnehmen. Infolgedessen kam es zur Mangelversorgung mit Sauerstoff, die letztlich zum Herzstillstand führte.“

„Also wenn ich atme, heißt das korrekt, ich nehme am Gasaustausch teil”, murmelte er.

„So wird das nun mal ausgedrückt”, sagte Krichel.

George las aufmerksam weiter.

„Auffällig bei der Obduktion waren hierbei zyanotische Verfärbungen der Haut im oberen Halsbereich. Zudem befand sich eine hohe Konzentration von nicht abgeatmetem Kohlendioxid im Gewebe und im Blut. Weiterhin wurden Petechien in den Augenbindehäuten festgestellt. Unter den Fingernägeln der rechten Hand befanden sich Hautreste, die darauf schließen lassen, dass dem Täter beim Abwehrkampf mit den Fingernägeln Kratzspuren zugefügt werden konnten. Eine DNA-Analyse sollte diesbezüglich veranlasst werden.“

Besonders der letzte Absatz interessierte ihn natürlich.

„Wann ist mit dem Ergebnis der DNA-Analyse zu rechnen?”, fragte er.

„In ein oder zwei Tagen. Je nachdem, wie viel die Kollegen im Labor zu tun haben. Aber es wäre schon ein ausgesprochener Glücksfall, wenn wir den Täter wegen einer Vorstrafe gespeichert hätten”, winkte Krichel ab.

„Wer übernimmt eigentlich jetzt die Leitung der Aachener Mordkommission?”

„Der Mann heißt Clausen.”

„Kenne ich nicht”, meinte George nachdenklich.

„Kriminalhauptkommissar Kevin Clausen. Er ist neu bei den Kollegen in Aachen, hat aber schon jede Menge Erfahrung.”

„Der Vornahme Kevin sagt mir allerdings, dass er nicht älter als 40 sein kann.”

„Wieso das?”, wunderte sich Krichel.

„Weil der Name Kevin dadurch populär wurde, dass Kevin Keegan beim HSV spielte – und das muss Ende der Siebziger gewesen sein. Die ältesten Kevins sind also höchstens Ende dreißig.”

Krichel lächelte verhalten.

„Sie haben recht! Übrigens können Sie ihn gleich kennenlernen.” Krichel blickte auf die Uhr. „Er müsste jeden Moment hier vorbeikommen. Wir unterstützen natürlich die Ermittlungen der Kollegen aus Aachen, wo wir nur können.”

Wie auf das Stichwort klopfte es an der Tür. Ein Mann, bekleidet mit Jeans und einem gerade wieder in Mode gekommenen Cord-Jackett, trat ein. Er stellte sich als „Clausen” vor. Mehr war nicht nötig. Er hatte offenbar mit Krichel schon ausgiebig telefoniert.

Georges Alterseinschätzung kam genau hin.

Es gehörte zu seinem speziellen Recherchestil, oft schon aus Kleinigkeiten wichtige Informationen gewinnen zu können. Der Name war ein solches Detail, das schon sehr aussagekräftig sein konnte. Es gab Namen, die kamen nur in bestimmten Jahrgängen vor. Wer „Marvin” oder „Mick-Tyler” hieß, war auf jeden Fall noch unter achtzehn, während „Wilhelm” und „Auguste” vermutlich Bewohner eines Pflegeheims waren.

„Und was ist mit dem Namen Jan?“, überlegte der Reporter.

Clausen unterzog George einer eingehenden Musterung und runzelte dann die Stirn.

„Von Ihnen habe ich doch schon etwas in der Zeitung gelesen.”

„Aber eher in Geilenkirchen als in Aachen.”

„Ich wohne in Geilenkirchen.” Clausen machte eine Pause. „Hören Sie, eigentlich finde ich es nicht besonders gut, wenn die Presse gleich alles breittritt, was es an Ermittlungsergebnissen gibt und ...”

„In diesem Punkt können Sie sich voll und ganz auf mich verlassen”, versicherte George. „Und im Übrigen bin ich in erster Linie hier, um Informationen zu geben, nicht um welche zu bekommen.”

Na ja, ganz korrekt war das nicht. Die Gewichtung zwischen Geben und Nehmen war schon in etwa gleichwertig.

„Aber sei’s drum!“, dachte Schmitz.

„Und, welche Informationen haben Sie?”, wollte Clausen wissen.

„Der Tote hieß Jan mit Vornamen. Er war am Abend zuvor im Haus Hamacher und ist dort von einem rothaarigen Mann so angeredet worden, nachdem sich beide heftig gestritten hatten. Heute Abend treffe ich mich mit einem Teil der Gäste, die ebenfalls zugegen waren. Sie können ja gerne dazukommen, wenn Sie wollen.”

Clausen war ziemlich perplex. „Wie haben Sie das geschafft?”

„Berufsgeheimnis. Das Opfer ist Anfang vierzig. Damals war der Name Jan relativ häufig in Deutschland”, erklärte George. „Aber andererseits könnte es sich auch um einen Niederländer oder flämischen Belgier handeln – denn da kommt dieser Name noch häufiger vor!”

„Wir werden die Kollegen einschalten”, versprach Krichel, während Clausen noch zögerte. George schob Letzteres einfach auf den Umstand, dass der Mann aus Aachen sich noch nicht so gut in die Fakten eingearbeitet hatte. Krichel fuhr an Clausen gewandt fort: „Wäre doch möglich, dass da jemand mit dem Vornamen Jan vermisst wird, zu dem das Foto des Opfers passt!”

„Unbedingt!”, meinte George. „Übrigens, die Herkunft der Möhre ist auch geklärt.” Er referierte kurz die Zeugenaussage, nach der ein Kind dem Bronzegänserich die Möhre in den Schnabel geschoben und dort zurückgelassen hatte.

„Bei der ersten Durchsicht der Fakten dachte ich an eine sorgfältig geplante Inszenierung eines Racheplans oder dergleichen”, gestand Clausen. „Irgendeine gedemütigte Seele, die es dem Opfer - aus welchem Grund auch immer – mal richtig zeigen wollte. Aber wenn das, was Sie erzählt haben, der Wahrheit entspricht, dann war es wohl doch eher eine spontane Tat.”

„Das passt auch besser zum Obduktionsbericht”, meinte George.

„Ein spontan eskalierter Streit also”, sinnierte der Polizeihauptkommissar.

Aber George schüttelte den Kopf. „Irgendetwas ist seltsam. Meiner Ansicht nach widersprechen sich die Merkmale. Einerseits spricht schon der Tatort für eine Spontantat. Schließlich musste der Täter damit rechnen, dass selbst zu dieser späten Stunde jemand aus dem Fenster sieht und ihn bemerkt. Auch der Kampf deutet nicht auf eine lange Planung oder einen lang gehegten Rachegedanken hin, der hier verwirklicht wurde und bei dem das Opfer in aller Öffentlichkeit gedemütigt werden sollte.”

„Sondern?”, fragte Clausen, der missmutig dreinblickend die Arme vor der Brust verschränkte.

Ihm gefiel es ganz offensichtlich nicht, dass hier jemand Schlussfolgerungen zog, der nicht zu den ermittelnden Beamten gehörte. Krichel schien hingegen damit überhaupt keine Probleme zu haben. Interessiert beugte er sich nach vorne.

„Ich würde aus dem Bauch heraus sagen: Die Tat selber geschah spontan und wahrscheinlich wirklich aus einem Streit heraus. Aber was danach geschah, erfolgte eiskalt und hatte nichts mit Emotionen zu tun. Das Opfer wurde gründlichst durchsucht, wir wissen bis jetzt nicht, wie es hieß, wer es war und vor allem was der Mann hier in Gangelt wollte, weil sein Mörder alle Spuren beseitigt hat.”

In diesem Augenblick klingelte das Telefon auf Krichels Schreibtisch.

Der Kriminalhauptkommissar nahm den Hörer ab und meldete sich. Dann sagte er zweimal kurz hintereinander „Ja” und schließlich noch einmal „Okay”, bevor er auflegte und seinen Blick hob. Zwei Augenpaare starrten ihn gespannt an. Er genoss eine Weile das Gefühl, mehr zu wissen als seine beiden Besucher. Dann informierte er die beiden:

„Das war das kriminaltechnische Labor. Die Kollegen sind sich sicher, dass das Unterhemd, die Schuhe und die Jeans des Ermordeten aus Belgien stammen. Sie tragen Etiketten einer Kaufhauskette mit Filialen in Lüttich, Antwerpen und Brüssel. Der Rest seiner Kleidung ist nicht zuzuordnen. Internationale Konfektionsware, die genauso gut aus Deutschland stammen könnte.”

„Somit wäre die Idee, die Polizei in Belgien einzuschalten, vielleicht gar nicht so schlecht”, gab George zurück und freute sich insgeheim.

Natürlich kauften auch viele Deutsche in Belgien ein, wie umgekehrt Niederländer und Belgier nach Nordrhein-Westfalen strömten. Seit der Euro die Preise vergleichbar machte und man keine Verluste mehr durch den Geldumtausch hatte, war das gang und gäbe.

Trotzdem waren drei Kleidungsstücke, die mit Sicherheit aus Belgien stammten, vielleicht doch ein Hinweis.

Das Opfer hieß Jan, war Anfang vierzig, vielleicht Belgier oder in Belgien lebend.

Für den ersten Tag war das an Informationsausbeute gar nicht so schlecht, befand George triumphierend. Schließlich hatte er keineswegs vor, nur Informationen zu liefern. Er wollte auch welche bekommen.

Und dieser Tag war ja noch nicht zu Ende.

Georg Schmitz freute sich schon auf den Abend mit den Bürgermeistern, weil er hoffte, dass dabei vielleicht noch das eine oder andere wichtige Detail zutage trat.

Er setzte sich in seinen Wagen und fuhr zurück nach Gangelt.

Für das Mittagessen im Mercator war es jetzt leider schon zu spät. George seufzte.

„Macht nichts, dann mache ich außer Wellness eben noch eine außerplanmäßige Abmagerungskur“, dachte er. Und zwar nach seiner ganz eigenen Methode.

Der Reporter schaltete das Radio an.

Wie immer hörte er „100´5 - Das Hit Radio”. Dieser Sender war einfach der Beste in der westlichsten Region von NRW. Die Lokalnachrichten aus dem Kreis Heinsberg interessierten ihn natürlich genauso wie der regionale Wetterbericht oder die Warnung vor Blitzern. Plötzlich horchte George auf und drehte das Radio etwas lauter.

Eine erste Meldung über den Möhrenmord in Gangelt wurde gebracht. Allerdings gab es nicht mehr als eine eher dürre Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft, die mit dem Hinweis endete, dass in alle Richtungen ermittelt werde und Hinweise der Bevölkerung gerne entgegengenommen würden.

Etwas ausführlicher als über die eigentlichen Ermittlungen, zu denen es wohl auch nicht allzu viel zu sagen gab, wurde über die Absperrmaßnahmen der Sittarder Straße durch die Feuerwehr berichtet, die damit während des Vormittags verbunden waren.

Kurze Zeit später - nach ein paar Musikstücken und als George Gangelt beinahe schon erreicht hatte – folgte noch ein Interview mit einem Sprecher einer Bürgerinitiative, die sich gegen die Lärmbelästigung durch den Fliegerhorst in Geilenkirchen wandte. Dort waren die AWACS-Aufklärer der Nato stationiert und diese Stationierung bildete letztlich so etwas wie einen strukturpolitischen Tropf, an dem die wirtschaftliche Existenz der gesamten Region hing. Denn abgesehen von dem sich sehr positiv entwickelnden Tourismus gab es hier keine Branche, die vergleichbar viele Arbeitsplätze zur Verfügung stellen konnte.

Sollte die AWACS-Flotte aus irgendwelchen Gründen eines Tages mal von Geilenkirchen verlegt werden, so wären die Folgen sicher gravierend.

Und zwar nicht nur für die stationierten Soldaten, ihre Familien und die Zivilangestellten, sondern weit darüber hinaus.

„Wer weiß, ob sich der Aufschwung der Region dann in diesem Maße fortsetzen würde“, überlegte George.