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Pünktlich um 20 Uhr traf sich George mit einigen Teilnehmern der Versammlung des gestrigen Abends im Restaurant Haus Hamacher, in der Hoffnung, etwas mehr über den geheimnisvollen Rothaarigen zu erfahren.

Diesmal wurde George vom Wirt persönlich begrüßt, ein unübersehbarer, dunkelblonder Hüne von 1,90 m, der auf den Namen Jochen Wüllenweber hörte. Er war Ende dreißig, sprach einen leichten, für die Gegend typischen Dialekt und hatte als „Restaurantchef” in Gangelt natürlich eine zentrale Stellung inne.

Dreißig Angestellte beschäftigte er im Haus Hamacher.

George traf den Wirt draußen vor der Tür an, wo Wüllenweber den letzten Rest einer Zigarette verqualmte.

„Die neuen Anti-Raucher-Gesetze bringen mich ganz schön in Schwierigkeiten, seit ich im eigenen Lokal nicht mehr qualmen darf”, bekannte er.

„Vielleicht ein Grund, es sich abzugewöhnen”, meinte George lächelnd.

Wüllenweber zuckte mit den Schultern.

„Das ist nicht ganz so leicht, wie man sich das vorstellt!” Er deutete auf den Eingang. „Also heute findet das Nachtreffen zur Tourismus-Versammlung statt!” Er grinste und fügte noch hinzu: „Zwecks Mördersuche!”

„Hat sich das also schon herumgesprochen, ja?”

„Natürlich. Ich meine, dass Lokalpolitiker gerne in die Zeitung wollen, ist natürlich klar – und unsere regionalen Würdenträger nicht gerade begeistert davon waren, dass ihr Treffen von der örtlichen Presse ignoriert wurde.”

„Davon kann keine Rede sein!”, unterbrach ihn George.

„Ich sage Ihnen auch nicht, wer von den Damen und Herren sich so geäußert hat. Aber wenn gleich zwei in der Region tätige Reporter etwas Wichtigeres zu tun haben, als diese epochemachende Versammlung mit einem Bericht zu würdigen, dann kann man schon an eine Verschwörungstheorie denken.”

„Habe ich nicht auch das Recht auf Urlaub?”, fragte George in gespielter Empörung.

„Das schon! Aber ich glaube, es wäre einigen lieber gewesen, Sie hätten auf dieses Recht genauso zu Gunsten der Versammlung verzichtet, wie Sie es jetzt wegen dieses Möhrenmordes tun!”

„Aber das ist doch was anderes!”, entgegnete George leicht gereizt.

Wüllenweber lachte. „Ja, das sehen die da drinnen bestimmt genauso, nur mit umgekehrter Priorität!”

Mittlerweile hatte der Restaurantchef seine Zigarette aufgeraucht. Aber ehe sie das Haus betraten, wollte George ihm noch seine Fragen stellen – und zwar möglichst, solange sie allein waren und niemand anders zuhörte.

„Der Tote soll im Haus Hamacher zusammen mit einem rothaarigen Mann gesehen worden sein, mit dem er sich heftig gestritten hat.”

George zeigte Wüllenweber ein Foto des Opfers. „Können Sie dazu irgendetwas sagen?” Der Wirt betrachtete einen Augenblick das Bild und dachte kurz nach.

„Nein, tut mir leid. Ich habe weder den Mann auf dem Foto gesehen, noch ist mir ein Rothaariger in Erinnerung geblieben. Sie müssen wissen: Gestern Abend hatten wir hier dermaßen viel Trubel, dass ich kaum zum Atmen gekommen bin. Nicht mal eine Zigarette zwischendurch war drin.”

„Na ja, trotzdem Danke für Ihre Auskünfte.”

„Gern geschehen. Und sollte ich irgendetwas hören, dann melde ich mich natürlich sofort.”

„In Ordnung.”

Sie gingen jetzt ins Innere des Café-Restaurants. Wüllenweber führte George zu dem Tisch, an dem sich bereits die drei Bürgermeister der Selfkantgemeinden versammelt hatten. Aber sie waren nicht allein gekommen. Durch Mundpropaganda unter den Teilnehmern der Veranstaltung des gestrigen Abends hatten sich noch einige andere Personen eingefunden. George hoffte nur, dass der Hauptgrund dafür nicht Neugier war oder der Drang, in die Zeitung zu kommen, sondern dass die Anwesenden auch wirklich etwas zur Sache beizutragen hatten.

Der Reporter wurde von der Gruppe natürlich sofort erkannt und mit einem lauten „Hallo, Herr Schmitz” erwartungsvoll begrüßt.

Zunächst erkannte George in der Runde einen sportlichen Endvierziger im grauen Anzug und mit entschlossen wirkenden Gesichtszügen, die Tatkraft und Willensstärke verrieten. Das war Bernhard Tholen, der Bürgermeister von Gangelt.

Sein Gesichtsausdruck war ernst.

„Schön, dass Sie die Zeit gefunden haben und Ihren wohlverdienten Urlaub unterbrechen”, sagte er. „Der Selfkant ist eine Region, die sich touristisch neu aufstellt und da sind wir natürlich darauf angewiesen, dass die Öffentlichkeit davon auch entsprechend Kenntnis bekommt.” Dem pflichteten Herbert Corsten und Johannes von Helden, die beiden Bürgermeister der Gemeinden Selfkant und Waldfeucht bei.

„Natürlich”, sagte George. „Deshalb bin ich ja hier.”

„Nun deswegen vielleicht auch – aber in erster Linie doch wegen des Möhrenmordes”, mischte sich nun Gerd Schütz ein. Der Ortsvorsteher hatte den Toten bekanntermaßen am Morgen entdeckt und die Rettungskräfte sowie die Polizei alarmiert. Natürlich war er als Ortsvorsteher auch bei der Versammlung gewesen, hatte sie aber, wie sich später herausstellte, an dem Abend gleich nach der Zusammenkunft wieder verlassen und somit von einem Streit zwischen dem späteren Mordopfer und dem Rothaarigen nichts mitbekommen.

Trotzdem war er jetzt ins Haus Hamacher gekommen, da er natürlich wissen wollte, wie sich der Fall, der mit seiner Entdeckung begonnen hatte, nun weiterentwickelte.

„Die Polizei tappt wohl noch ziemlich im Dunkeln”, meldete sich nun Frau Fernholz, die als eine der drei Selfkant-Gästeführerinnen geschichtlich Interessierten die Sehenswürdigkeiten und historischen Stätten von Gangelt näherbrachte. Als ausgebildete Fremdsprachenkorrespondentin führte sie auch Besichtigungen in französicher Sprache durch. „Oder was ist Ihr Eindruck?”, wandte sich die freundlich wirkende Tourismusspezialistin direkt an George.

Der räusperte sich und meinte: „Nun, ich denke, es wäre ungewöhnlich, wenn die Polizei jetzt schon einen Verdächtigen hätte, den sie festnehmen könnte, wo doch noch nicht einmal alle Spuren ausgewertet sind.”

„Welche denn zum Beispiel?”, mischte sich nun Brigitte Geradts-Wimmers ein, eine gepflegt wirkende Frau mit schulterlangen blonden Haaren. Sie war ebenfalls ausgebildete Fremdsprachenkorrespondentin und arbeitete als Bank- und Diplomkauffrau sowie als Dozentin. Daneben war sie auch als Gästeführerin im Selfkant tätig, was ihr viel Spaß machte. George hatte über sie – ebenso wie über die anderen Gästeführerinnen – schon einmal eine Artikelserie geschrieben und kannte sie daher alle. Ein charmantes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. „Na, kommen Sie, Herr Schmitz, geben Sie sich einen Ruck und verraten Sie uns schon heute ein bisschen von dem, was morgen in der Zeitung stehen wird!”

Dann nippte sie an ihrem Mineralwasser.

„Eine gute Idee!”, lobte Bürgermeister Tholen.

„Wir verraten auch nichts!”, meinte Ortsvorsteher Schütz augenzwinkernd.

Aber George winkte ab. „Ja, ja, das kenne ich. Und morgen liest dann kein Mensch mehr die Zeitung!” Er bestellte sich ein Wasser. Mit Frau Geradts-Wimmers teilte er nämlich die Abneigung gegen Alkohol. Im Übrigen gab es für einen Reporter so etwas wie einen festen Feierabend nicht – und manchmal sogar nicht einmal Urlaub, wie er jetzt hatte feststellen müssen – daher brauchte man einfach ein gewisses Durchhaltevermögen. Und dafür war Alkohol nun mal Gift. „Eigentlich bin ich hier, um etwas zu erfahren und nicht, um selber ausgefragt zu werden!”, beteuerte der Reporter.

„Obwohl wir dafür doch eine Spezialistin unter uns hätten!”, meinte ein dicklicher Herr, bei dem sich George nicht ganz sicher war, um wen es sich handelte. Er hatte ihn irgendwo schon mal gesehen. Vielleicht ein Geschäftsmann aus der Stadt. Der beleibte Mann deutete auf seine Nachbarin: „Na los, Frau Bürsgens, jetzt wollen wir mal sehen, wie Sie den Leuten die Informationen aus der Nase ziehen! Hier scheinen Sie mit Georg Schmitz ja gleich ein geeignetes Testobjekt zu haben – und wir würden alle davon profitieren!”

Gelächter kam auf.

George wusste natürlich sofort, worauf dabei angespielt wurde. Die Endvierzigerin mit natürlicher, sportlicher Ausstrahlung war Kunigunde Bürsgens, eine Gästeführerin aus der Nachbargemeinde Waldfeucht. Wie allgemein bekannt war, betätigte sie sich nebenberuflich seit vielen Jahren als Interviewerin für das Institut für Demoskopie in Allensbach.

„Ich glaube, hier herrschen abenteuerliche Vorstellungen darüber vor, was ich für Allensbach so mache”, sagte sie ebenfalls belustigt.

Für einen Scherz war Kunigunde Bürsgens – genannt Kuni – nämlich immer zu haben und so war es ihr auch nicht unangenehm, dass sich die Allgemeinheit für ein paar Augenblicke auf ihre Kosten amüsierte.

„Herr Schmitz, vielleicht könnten Sie ja das Foto des Toten noch herumgehen lassen”, schlug jetzt Franz Oschmann vor, dessen Stimme das allgemeine Gemurmel sofort durchdrang und direkt Gehör fand. Kein Wunder, er war pensionierter Schulrektor und sein Leben lang darauf angewiesen, sich akustisch durchzusetzen. Davon abgesehen, engagierte sich Oschmann stark für den Naturschutzbund NABU.

„Ja, das wäre in der Tat keine schlechte Idee”, bestätigte Bürgermeister Tholen jetzt entschieden.

Also ließ George Schmitz das Bild in der Runde herumgehen.

Herr Schütz ergriff nun das Wort: „Ich war etwas früher hier als Sie”, sagte er an George gewandt, „und daher habe ich mir die ganze Geschichte mit dem Rothaarigen und dem Streit schon mehrfach anhören müssen!”

„Na, genau genommen haben Sie uns doch alle regelrecht ausgefragt!”, warf Kuni Bürsgens ein.

„Wie auch immer”, fuhr Schütz fort, „mir fällt dazu nur ein, dass ich einen Rothaarigen kenne. Also kennen ist zuviel gesagt, ich sehe ihn öfter. Und zwar morgens, wenn ich sehr früh raus muss. Ein- oder zweimal trug er dann eine Uniform.”

„Was für eine?”, fragte George. „Feuerwehr? Polizei?”

„Bundeswehr.”

„Ah, ja.”

„Also kein Kampfanzug, sondern Ausgehuniform. Aber sie saß schlecht. Der Schlips hing ihm wie ein Strick um den Hals und die Jacke war aufgeknöpft.”

„Rangabzeichen haben Sie nicht zufällig erkennen können?”, hakte George interessiert nach.

„Darauf habe ich nicht geachtet. Aber ich könnte mir denken, dass er vielleicht hier im Fliegerhorst Geilenkirchen-Teveren eine Position hat. Allerdings dürfte es da natürlich nicht nur einen Rothaarigen geben.”

George zuckte mit den Schultern. „Wer weiß, das ist doch schon mal ein Anfang.”

„Da sagen Sie was!”, meldete sich jetzt Bürgermeister Tholen zu Wort und wandte sich dabei an den Ortsvorsteher Schütz. „Vielleicht meinen wir denselben Mann! Ich habe ihn auch ab und zu mal gesehen. Manchmal auch mit einer jungen Frau im Arm. Die war deutlich jünger als er. Anfang zwanzig – höchstens. Lange dunkle Haare, gelockt.”

„Gelocktes dunkles Haar also”, meinte Oschmann halblaut und mehr an sich selbst gewandt.

Er überlegte und sagte dann: „Das könnte die Bettina Lange sein. Die hatte ich mal in der Klasse. Sie grüßt mich immer noch. Dabei ist mir aufgefallen, dass sie offenbar einen rothaarigen Freund hat, der um einiges älter ist als sie. Ich habe die beiden schon mehrmals in Gangelt zusammen gesehen.”

„Wissen Sie zufällig, wo diese Bettina Lange wohnt?”, erkundigte sich George.

„Nein. Aber soweit mir bekannt ist, arbeitet sie in der Bank.”

„Danke, vielleicht bringt uns das ja tatsächlich weiter.”

Erst jetzt fiel George auf, dass Oschmann das Foto des Toten gar nicht weitergereicht hatte.

„Haben Sie den Toten etwa auch irgendwo gesehen?”, erkundigte sich der Reporter nachdenklich.

Oschmann nickte.

„Ja. Ich bin mir sogar ziemlich sicher. Das ist erst ein paar Tage her. Er hatte seinen Wagen am Straßenrand geparkt und trug einen Spaten bei sich, so als hätte er irgendwo etwas vergraben. Ich dachte erst, das ist so einer, der seinen Müll einfach irgendwo ablädt und sich dann davonmacht. Oder jemand, der eine Panne hat! Ich hielt also an, ließ die Scheibe herunter und fragte ihn, ob er Hilfe bräuchte.”

„Und?”, fragte George gespannt und drehte dabei nervös seinen Kugelschreiber auf dem Tisch hin und her. „Brauchte er denn Hilfe?”

„Nein. Mehr hat er auch nicht gesagt. Ich bin dann weitergefahren.”

„Schade”, entfuhr es dem Reporter enttäuscht. „Es wäre natürlich schön, wenn Sie sich das Autokennzeichen gemerkt hätten.”

„Nein, habe ich nicht. Aber es war ein Toyota – und das Nummernschild war”, er zögerte jetzt und überlegte.

„Etwa aus Belgien?”, ergänzte George und schaute Oschmann dabei fragend an.

„Ja.”

„Sieh an, sieh an“, dachte der Reporter.

Da führten also doch schon mal ein paar Spuren zusammen.

Was den Streit zwischen dem Rothaarigen und dem späteren Opfer anging, den George für sich privat jetzt erst einmal einfach den Belgier nannte, konnte keiner der Anwesenden irgend etwas beitragen, was substanziell gewesen wäre.

So verabredete sich George für den nächsten Tag am frühen Nachmittag mit Oschmann, damit der ehemalige Schulleiter ihm den genauen Ort zeigen konnte, wo sich der Toyota-Fahrer aufgehalten hatte.

„Nicht, dass dieser Typ da eine Leiche vergraben hat”, meinte Kuni Bürsgens in die Runde, woraufhin sie von allen betretene Blicke erntete. „Na ja, was weiß ich, was der Hintergrund der ganzen Geschichte ist! Ich meine, wenn jemand auf so seltsame Weise umgebracht wird, dann kann das doch eigentlich nur bedeuten, dass sich da jemand an diesem Mann rächen wollte, oder? Sonst macht man so etwas doch nicht! Eine Leiche quasi an den Pranger stellen, sodass sie regelrecht präsentiert wird!”

Aber in diesem Punkt war George schon einen Schritt weiter.

Die anderen Umstände des Verbrechens sprachen eher für die Tat eines eiskalten Killers – insbesondere die Tatsache, dass er den Toten durchsucht und alles entfernt hatte, was irgendwie auf die Herkunft des Opfers deuten konnte. „Das muss ein Profi gewesen sein”, sinnierte George noch vor sich hin, nachdem er die kleine Runde verlassen hatte und sich auf dem Rückweg zum Hotel befand.