Mit einem wehmütigen Blick auf sein defektes Rad ließ sich George mit dem MultiBus zurück nach Gangelt bringen. Sein Fahrradausflug war zwar nicht ganz so gelaufen, wie er ihn sich erträumt hatte, aber dafür hatte er etwas Wichtiges für die Ermittlungen in den beiden Mordfällen erfahren. Offenbar ging bei der ausgebrannten Stallung etwas vor sich, wovon er sonst vielleicht gar nicht oder erst viel zu spät erfahren hätte.
George gab das Fahrrad eiligst beim Portier zurück und fuhr dann mit dem Wagen Richtung Waldfeucht. Erst im Auto fiel ihm auf, dass er sich noch nicht mal umgezogen hatte. Aber egal, es gab Wichtigeres und das duldete keinen Aufschub. Die ausgebrannte Stallung hatte er schnell erreicht. George erinnerte sich noch gut daran, als er das letzte Mal hier gewesen war. Es hatte sich fast nichts verändert. Und das alles, weil eine Versicherung ihre Zahlung so lange auf Eis gelegt hatte, bis sie vermutlich in letzter Instanz doch dazu verurteilt wurde. Und welche Tricks sich die Versicherung danach ausdenken würde, konnte man noch gar nicht abschätzen.
Mehrere Einsatzfahrzeuge standen auf der Wiese herum, die offenbar lange nicht gemäht worden war. Auch das Dienstfahrzeug von Brigadier Nina Kosten erkannte George.
Sie unterhielt sich gerade mit zwei Polizisten aus dem Selfkant, die George ebenfalls gut bekannt waren. Der eine war der dunkelblonde, mit Naturlocken gesegnete 51-jährige Polizeioberkommissar Wolfgang Simon vom Bezirksdienst Waldfeucht. Er strich seinen Bart glatt, während er einerseits seiner niederländischen Kollegin zuhörte, andererseits aber bereits durch Georges Erscheinen abgelenkt wurde. Der Dritte im Bunde war sein 59-jähriger Kollege Peter Jung.
„Unsere Kollegin hat uns bereits vorgewarnt, dass mit Ihnen wohl auch noch zu rechnen sei”, brummte Jung ihm entgegen.
„Damit hatte sie allerdings Recht”, nickte George. Er wandte sich an Brigadier Kosten. „Was ist denn mit den Nummernschildern?”
„Fragen Sie Herrn Krichel, der ist in der Stallung”, antwortete Simon anstelle seiner niederländischen Kollegin. Brigadier Kosten lächelte trotzdem charmant. „Ich habe gehört, dass Sie von allen nur George genannt werden.”
„Das ist korrekt. Von mir aus können Sie mich auch so nennen”, strahlte George die junge Dame an.
„Bei uns duzt man sich häufiger als bei euch. Oder Ihnen? Wie auch immer. Die Schilder passen”, sagte sie dann.
„Und die Fahrgestellnummer entspricht einer Halterabfrage bei den Kollegen in Belgien”, ergänzte Jung.
„Was einige Fragen aufwirft”, murmelte George.
Zum Beispiel die, was der Mörder von Jan van Pollak in den Niederlanden gesucht hatte. Dass er van Pollaks Wagen verschwinden lassen musste, lag auf der Hand. Er hatte sich ja auch sonst bemüht, jegliche Spuren zu beseitigen, um damit schon die Identifizierung des Mordopfers zu erschweren. Aber George konnte sich einfach nicht vorstellen, dass der Mörder nur deswegen über die Grenze gefahren war, um die Schilder auf eine Weise zu entsorgen, die möglichst viel Verwirrung stiftete.
Fragen über Fragen. George schüttelte den Kopf und sah zum Stall hinüber.
Es gab kein Tor in der Stallung. Alles, was davon übrig geblieben war, waren ein paar verkohlte Holzstücke, die etwas abseits zur Seite geräumt worden waren.
Der Toyota, von dem die belgischen Kennzeichen stammten, die Brigadier Kosten mitgebracht hatte, war passgenau in die Ruine hineingeparkt worden.
Kriminalhauptkommissar Krichel von der Kripo Heinsberg begrüßte George flüchtig. Er war nicht allein. Zwei Kollegen waren eifrig mit der Spurensicherung beschäftigt.
Der Kofferraum des japanischen Wagens stand offen.
George warf einen Blick hinein.
Da war außer einem Spaten auch noch ein handelsüblicher Metalldetektor zu finden.
„Also doch, eine Schatzsuche”, entfuhr es George halblaut.
Metalldetektoren dieser Art wurden mittlerweile ziemlich häufig verkauft, zum Beispiel an Militaria-Sammler. Diese gingen damit vorzugsweise über die Schlachtfelder des Zweiten Weltkriegs, in der Hoffnung, Orden- und Ehrenzeichen, SS-Dolche oder Ähnliches zu finden, was sich vielleicht wieder aufpolieren und an die entsprechend interessierte Kundschaft verscherbeln ließ.
Aber zu dieser Sorte von Schatzsuchern hatte Jan van Pollak wohl ganz offensichtlich nicht gehört, auch wenn ihm ein gewisses Interesse für Geschichte nicht abzusprechen war.
Krichel wandte sich an George und hob die Augenbrauen.
„Wissen Sie vielleicht inzwischen mehr als ich?”, erkundigte er sich interessiert.
George nickte bedeutungsvoll. „Möglicherweise steht der Fall im Zusammenhang mit einem Raub, der vor fast 450 Jahren begangen wurde.”
„Das ist dann aber verjährt!”, mischte sich einer der Spurensicherer ein und fand seine Bemerkung wohl sehr witzig. Von Krichel erntete er dafür aber nur einen tadelnden Blick.
George sah nun Krichel an und fragte ihn: „Sagen Sie, ist das jetzt wieder Ihr Fall oder weshalb sind Sie hier zu finden und nicht Ihr Kollege Clausen?”
„Wir sind wieder eingeschaltet worden, um die Kollegen aus Aachen zu unterstützen”, erklärte Krichel mit betont gleichmütiger Stimme.
„Heißt das, der Fall wächst denen über den Kopf?” Der sarkastische Unterton in Georges Stimme war dabei nicht zu überhören.
„Das heißt nur, dass sich die Sache sehr stark ausgeweitet hat und daher eine Amtshilfe nötig wurde. Vielleicht erzählen Sie mir jetzt mal, was Sie herausgefunden haben, Herr Schmitz. Sie wissen doch, ich sehe den Reporter nicht als natürlichen Feind der Polizei an.”
„Das weiß ich”, versicherte ihm George lächelnd. Anschließend fasste er in knappen Worten zusammen, was er – ausgehend von dem starken Interesse, das sowohl Jürgen Wisbert als auch Jan van Pollak an Mercator gezeigt hatten – mit Hilfe von Dr. Achten in Erfahrung bringen konnte.
„Sie glauben also, es geht um diese 5100 Goldgulden, die dem Herzog von Jülich geraubt wurden?”
„Ja. Dieser Schatz – oder die Suche danach – verbindet zwei der Opfer und ist wahrscheinlich der Schlüssel zu der ganzen Sache.”
„Haben Sie eine Theorie?”, fragte der verblüffte Krichel.
„Drei Männer kommen auf irgendeine Weise zusammen und versuchen, diesen Schatz zu finden. Sie müssen den Code auf der Karte entschlüsselt haben, die Mercator von dieser Gegend zeichnete. Vielleicht gab es dann Probleme beim Teilen. Oder jemand wollte aus dem Projekt aussteigen oder drohte sogar damit, es zu verraten. Nun, ich gebe zu, dass das Puzzle noch ziemlich löchrig ist, aber vielleicht wird ja noch ein richtiges Bild daraus, wenn wir den Code entschlüsselt haben.”
„Das bekommen Sie hin?”, meinte Krichel fragend und schaute den Reporter dabei schon fast ein wenig ehrfürchtig an.
„Ich werde es Sie wissen lassen, wenn es soweit ist. Keine Angst, ich habe nicht vor, mir einen Schatz illegal unter den Nagel zu reißen.”
„Na, dann bin ich ja beruhigt.” Krichel lächelte mild. „Sie haben einen guten Riecher, Herr Schmitz.”
George grinste.
„Das erkennen Sie erst jetzt?”
„Wir haben jedenfalls inzwischen ein Dossier der belgischen Polizei über Jan van Pollak. Und was da drinsteht, passt ebenso zu Ihrer Theorie wie der Spaten und der Metalldetektor.”
„So?”, fragte nun George überrascht.
„Van Pollak hat in Münster Kunstgeschichte studiert und war als Verfasser von Expertisen tätig. Er wird von der belgischen Polizei in Zusammenhang mit der sogenannten Kunst-Mafia gebracht, die wohl sehr viel mehr für seine gutachterlichen Tätigkeiten gezahlt hat als irgendwelche Museen oder Privatleute. Es reichte bei ihm nie zu einer Verhaftung, aber er wird auf der anderen Seite der Grenze als jemand angesehen, der zum Dunstkreis dieser gefährlichen Leute gehört. Davon abgesehen ist er übrigens deutscher Staatsbürger, auch wenn er in Belgien lebte.”
George nickte langsam. „Er hat - pardon hatte - also Kontakte zur Kunst-Mafia?”
„Das ist sicher.”
„Wer immer die 5100 Goldgulden des herzöglichen Adjutanten ausgräbt, braucht diese Kontakte auch. Vorausgesetzt er hat nicht vor, mit dem Land NRW oder dem Eigentümer des Grundstücks zu teilen, sondern verfolgt die Absicht, diese Goldstücke an sehr viel besser zahlende Abnehmer zu verkaufen.”
450 Jahre machten aus einem gewöhnlichen Zahlungsmittel wie den Goldgulden ein Kunst- und Kulturobjekt erster Güte, vergleichbar mit archäologischen Schätzen aus Ägypten oder dem Reich der Khmer.
„Fragt sich, was Jürgen Wisbert dabei einbrachte”, meinte George und grübelte. „Beide kannten sich gut, wie ich von Wisberts Ex-Freundin erfahren habe.”
„Freundschaft ist ein Aspekt”, erklärte Krichel. „Aber ich weiß nicht, ob van Pollak jemand war, der mit einem guten Freund teilen würde, wenn es nicht unbedingt sein müsste. Was in dem Dossier aus Belgien steht, lässt ihn als einen ziemlich windigen Typen dastehen.”
„Vielleicht gibt es noch einen anderen Grund, weshalb Wisbert dabei war.”
„Ich bin gespannt!”
„Wisberts Job bei der NATO”, sagte George. „Er hatte Zugang zu den modernsten Ortungssystemen und nahm auch an Testflügen für neue Systeme teil. Mir ist bekannt, dass Archäologen heute schon sehr häufig mit Hilfe von Systemen arbeiten, die der Luftaufklärung ähneln, bevor sie anfangen zu graben. Im Notfall muss natürlich Google Earth reichen, aber ich wette, dass eine Spezialaufnahme aus einigen hundert Metern Höhe viel aufschlussreicher ist.”
„Sie meinen doch nicht etwa, Wisbert sollte herausfinden, wo der Schatz vergraben liegt?”
Erneut staunte der Kommissar nicht schlecht über den Reporter.
„Wäre doch denkbar”, meinte dieser nur.
Die Konsequenz aus dieser Überlegung war George durchaus bewusst. „Sie hatten eine Karte, vermutlich auch nur die Kopie einer Kopie aus einem Museumskatalog – so wie Dr. Achten”, erklärte George. „Vielleicht aber sogar ein Original. Oder zumindest eine vollständige Kopie, denn bei der, die in dem Museumkatalog von Dr. Achten abgebildet war, fehlte eine Ecke, von der wir nicht wissen, ob sie wichtig ist.”
„Klingt alles sehr kompliziert!”, stöhnte nun Kommissar Krichel.
„Überhaupt nicht, Herr Krichel!”, widersprach George sofort. „Irgendwer glaubte, den Schlüssel des Codes erkannt zu haben und der Mercator-Stein muss dabei eine wichtige Rolle spielen. Aber der ist nicht dort, wo er sein sollte, also funktioniert das Ganze nicht mehr. Und der oder die Schatzsucher wissen auch nicht, ob Mercator tatsächlich richtig gemessen hatte und man einfach nur mit einem GPS-System überprüfen muss, wo sich der 51. Breitengrad und der 6. Längengrad tatsächlich treffen.”
Krichel stimmte ihm zu: „Das macht Sinn. Anstatt den halben Selfkant rund um den Mercator-Stein umzugraben, hat sich Jürgen Wisbert einfach während seiner Arbeitszeit etwas umgesehen.”
„Und dann gibt’s da noch den dritten Mann, der die beiden umgebracht hat.”
„Richtig! Es fehlt eigentlich nur noch jemand, der Verbindungen zur Hehlerszene der Kunst-Antiquitätenmafia hat”, meinte Krichel.
„Dann ist das unser Mann,” bestätigte George. „Der Typ mit dem Knebelbart und vermutliche Fahrer eines Mavericks! Haben Sie schon eine Liste von verdächtigen Maverick-Fahrern aus Aachen vorliegen?”
„Das wollte Herr Clausen persönlich übernehmen”, erklärte Krichel und sah dabei etwas betreten zu Boden.
„Dachte ich es mir doch”, murmelte George und fügte in Gedanken hinzu: „Gut, dass ich mich in dieser Hinsicht nicht auf die Hilfe der Polizei verlassen habe!“
Er blickte auf die Uhr. In anderthalb Stunden konnte er frühestens mit einer Mitteilung seines Bekannten rechnen.
„Aber eigentlich braucht diese Dreier-Bande noch jemanden”, stellte George dann plötzlich fest und brachte damit den Kommissar erneut zum Schwitzen.
Krichel sah ihn an: „Und wen?”
„Der Code ist sicher nicht leicht zu entschlüsseln. Man braucht vielleicht nicht gleich ein ganzes Institut von Mathematikern, wie die Briten, als sie im Zweiten Weltkrieg die deutsche ENIGMA-Maschine knackten. Aber ein Computerspezialist wäre schon nicht schlecht, denke ich jedenfalls.”
„Könnte Wisbert diese Rolle nicht übernommen haben? In Geilenkirchen gibt es auch ein paar Großrechner”, erwiderte Krichel, schließlich wollte er sich das Heft nicht ganz aus der Hand nehmen lassen.
„Fragt sich nur, ob die Sicherheitsmaßnahmen der NATO deren unautorisierte Benutzung verhindert hätten”, meinte George. „Das ist schließlich etwas anderes, als einfach nur auf den Bildschirm zu schauen, ob da irgendwelche verdächtigen Auffälligkeiten zum Beispiel im Infrarotbild zu erkennen sind, die vielleicht nahelegen, dass da gegraben wurde.”