Dr. Achten holte den Museumskatalog mit der Kartenkopie hervor und legte ihn aufgeschlagen vor Dr. Kasel auf den Tisch. „Abschreibfehler sind insofern natürlich nicht ausgeschlossen, weil man nicht immer mit Sicherheit sagen kann, was eine Papier-Unreinheit, was ein Punkt ist und abgesehen davon ...”
„... fehlt da eine Ecke”, stellte Kasel gleich fest.
„Wir hoffen, dass die nicht für die Lösung des Rätsels von entscheidender Bedeutung ist”, meinte George und schaute Dr. Kasel erwartungsvoll an.
„Als Verschlüsselungsmethode vermute ich, dass Mercator eine Alberti-Scheibe verwendet hat”, ergänzte Dr. Achten. „Falls Ihnen das etwas sagt.”
„Natürlich sagt mir das etwas”, erwiderte Andreas Kasel im Brustton der Überzeugung. „Die Alberti-Scheibe ist ja sozusagen so etwas wie der Klassiker der Kryptologie. Eine Reihe von Scheiben mit Buchstaben und Zahlenfolgen werden hierbei gegeneinander verschoben und erst dann, wenn man den Schlüssel kennt, also wie die Scheiben einzustellen sind, lässt sich eine Botschaft entschlüsseln. Für die damalige Zeit war es so gut wie unmöglich, einen derartigen Code zu knacken. Die Scheibe hatte einfach zu viele Einstellungsmöglichkeiten.”
„Ich hoffe, das hat sich im Zeitalter leistungsstarker Computer geändert”, meinte George hoffnungsvoll.
Dr. Kasel lächelte flüchtig. „Wir werden sehen”, gab er zurück. Offenbar wollte er nicht voreilig irgendetwas versprechen, was er dann später vielleicht nicht halten konnte. „Wir arbeiten hier mit einem raffinierten Kryptoanalyse-Programm, das sämtliche Kombinationen auf Plausibilität überprüft und einen Code auf diese Weise zu entschlüsseln versucht. Damit überprüfen wir die Sicherheitssysteme, die unsere Firma und unsere Software schützen.”
„Und Sie denken, wenn Sie nicht mehr in das System hineinkommen, dann schafft es auch kein anderer”, vermutete George.
„So ist es”, nickte der Computerspezialist anerkennend. „Zumindest gibt es dann kaum noch jemanden, der dazu noch in der Lage sein könnte. Knackbar ist letztlich jeder Code – aber wenn der Aufwand so immens hoch ist, dass er nicht mehr im Verhältnis zum erwarteten Ertrag steht, dann lassen die Hacker hoffentlich ihre Finger vom System.”
George grübelte.
Das ganze Gewerbe glich in diesem Bereich wohl etwas dem Wettrennen zwischen Hase und Igel. Die mit der Systemsicherheit befassten Firmen mussten ständig auf neue Herausforderungen in Form von immer raffinierteren Computerattacken reagieren.
„Vielleicht sollten Sie noch bedenken, dass die Sprache, in der die unverschlüsselte Originalbotschaft verfasst wurde, wahrscheinlich Latein war”, stellte Dr. Achten fest.
„Deutsch, Englisch, Französisch, Latein und Persisch wären kein Problem”, erwiderte Dr. Kasel und brachte seine Gäste mit dieser lapidaren Feststellung erneut zum Staunen.
„Werden Sie quasi die Funktionen einer Alberti-Scheibe in Ihrem Rechner simulieren?”, erkundigte sich Dr. Achten.
„Könnte man so sagen. Wobei die Schwierigkeit darin liegt, dass keiner von Ihnen den Schlüssel kennt, der die Scheiben fixiert. Es könnte also etwas länger dauern und auch mehr Rechnerkapazität in Anspruch nehmen, alle in Frage kommenden Möglichkeiten durchzuspielen.”
„Verstehe”, nickte Dr. Achten.
Dr. Kasel nahm alle Unterlagen an sich und meinte dann bedauernd: „Es tut mir leid, dass ich Sie nicht in den Sicherheitsbereich mitnehmen darf. Dort befindet sich unser Großrechner, sozusagen das Herz der CSB-System AG. In erster Linie dient dieser mächtige ASP-Provider-Rechner der Steuerung unserer Kundensysteme – aber nachts gibt es hier schon mal freie Rechnerkapazitäten in kleinerem Umfang. Da müsste es eigentlich möglich sein, mit einem Brut-Force-Angriff die Botschaft zu entschlüsseln.”
„Sie könnten dazu beitragen, zwei Morde aufzuklären und die Lage eines millionenschweren Schatzes zu finden”, motivierte ihn der Reporter noch.
„Klingt nach etwas Abwechslung von den Sicherheitstests für den Rechner irgendeiner Großbank.”
„Aha! Normalerweise helfen Sie wohl eher, das Auffinden von Schätzen zu verhindern”, stellte George lächelnd fest.
Kasel hob die Augenbrauen. „Wenn Sie den illegalen Zugriff auf die Konten von Bankkunden als das Finden eines Schatzes durch einen Hacker bezeichnen wollen, dann haben Sie vollkommen recht.”
Dr. Achten blickte derweil immer wieder zwischen dem Zettel mit dem reinen Zeichencode und der Karte im Museumskatalog hin und her. Auf seiner Stirn hatte sich eine tiefe Furche gebildet.
George sah ihm einige Augenblicke einfach nur zu, während Dr. Kasel sich mit dem Zahlencode beschäftigte.
Es sah fast so aus, als würde gerade irgendeine Erkenntnis in Dr. Achtens Kopf Gestalt annehmen. Er kratzte sich leicht am Kinn.
„Ist noch irgendetwas, Herr Doktor?”, fragte George.
„Der Schlüssel”, murmelte er. „Das geht mir einfach nicht aus dem Sinn!”
„Was meinen Sie damit?”
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass Gerhard Mercator den Schlüssel zur Einstellung der Alberti-Scheibe nicht irgendwo auf der Karte fixiert hat. Ja, ich bin sogar überzeugt davon und es würde auch absolut den Gepflogenheiten der Zeit entsprechen.”
„Da sind wir wieder bei der fehlenden Ecke”, mischte sich Dr. Kasel ein.
Aber Dr. Achten schüttelte energisch den Kopf.
„Ich glaube, das wäre schon fast etwas zu einfach. Nein, ich denke, dass der Schlüssel hier irgendwo auf dem Papier sein könnte und wir sehen ihn einfach nicht.” Er zuckte die Schultern.
„Damit würden Sie natürlich Dr. Kasel die Entschlüsselung erheblich erleichtern”, stellte George sachlich fest.
Dr. Achten schüttelte den Kopf und fuhr sich dann nervös mit der Hand über das Gesicht. Er wirkte sehr angespannt. „Es hat keinen Sinn, ich komme einfach nicht darauf, obwohl ich das Gefühl habe, dass es eigentlich ganz offensichtlich sein müsste.”
„Also doch eine Nachtschicht”, seufzte Dr. Kasel.
„Sie müssen sich zu nichts verpflichtet fühlen, Dr. Kasel”, beeilte sich George zu erklären.
„Tue ich auch nicht. Die Sache beginnt mich zu interessieren.”
„Das freut mich zu hören.”
„Warten Sie erst einmal ab, ob bei der Suche auch etwas herauskommt, Herr Schmitz!”, meinte Dr. Kasel und wollte sich schon von den beiden verabschieden.
„Eine Frage noch”, ließ George nicht locker.
„Bitte!”
„Kennen Sie zufällig die Firma eines gewissen Pieter van de Kerkhoff aus Schinveld?”
„Meinen Sie VAN DE KERKHOFF DIGITAL SECURITY & COMPUTER SYSTEMS?”
„Genau. Gewissermaßen Ihre Konkurrenz.”
Dr. Kasel lachte. „Nein, Konkurrenz ist das nicht, auch wenn es dieselbe Branche ist. Aber das ist einfach ein kleiner Fünfmann-Betrieb. Außerdem ist er jetzt sowieso am Ende.”
„Weshalb?”
„Es gab Vorwürfe, dass van de Kerkhoff mit dem organisierten Verbrechen in Beziehung steht. Ob das irgendjemand gestreut hat, der es nicht gut mit ihm meinte oder tatsächlich etwas dran war, weiß ich nicht. Es gab jedenfalls kein Gerichtsverfahren, aber die Kunden von van de Kerkhoff haben natürlich scharenweise Reißaus genommen.”
„Aber dieser van de Kerkhoff wäre gegebenenfalls auch in der Lage, den Code der Mercator-Karte herauszubekommen?”
„Nein, wäre er nicht”, erwiderte Kasel bestimmt. „Jedenfalls steht ihm kein Großrechner zur Verfügung. Seine Firma installiert zwar Sicherheitssoftware, aber eigentlich mehr für kleinere Kunden. Mit seinem Equipment würde er wahrscheinlich Jahrzehnte brauchen, bis er den Code knacken könnte!”
„Und wenn er den Schlüssel zur Einstellung der Alberti-Scheibe besäße?”, mischte sich Dr. Achten ein.
„Dann könnte die Botschaft jeder entschlüsseln, der einen normalen PC hat und sich vorher von jemandem ein kleines Programm dazu hat schreiben lassen. Das würde natürlich auch van de Kerkhoff hinbekommen.”
„Dann hoffe ich nicht, dass wir zu spät kommen”, sagte George nachdenklich, „denn wir müssen dann wohl davon ausgehen, dass die Schatzsucher, hinter denen wir her sind, diesen Schlüssel kannten – woher auch immer!”
„Vielleicht, weil sie die Originalkarte hatten”, meinte Dr. Achten. „Oder zumindest eine Original-Kopie und nicht nur eine Reproduktion in einem Museumskatalog, was per se schon mal einige Fehlerquellen inkludiert.” Der Mercator-Spezialist warf kopfschüttelnd noch einen Blick auf die Karte. Dann tippte er mit den Fingern darauf, öffnete etwas die Lippen, sagte aber nichts. Der Schlüssel, so war er offenbar überzeugt, musste in dieser Karte enthalten sein. Aber vielleicht schaffte es ja Dr. Kasel mit seinem Großrechner, das Geheimnis zu lüften.
Später brachte George Dr. Achten wieder nach Hause. Dieser war während der Fahrt sehr schweigsam.
Er schien immer noch darüber nachzugrübeln, was er vielleicht übersehen hatte.
„Verstehen Sie das? Ich habe das Gefühl so nah dran zu sein, Herr Schmitz. So nah!” Und dabei machte er eine Geste, bei der er Daumen und Zeigefinger der rechten Hand bis auf einen winzigen Spalt einander annäherte. „Von Leonardo da Vinci ist bekannt, dass er in seinen Konstruktionsplänen absichtlich Fehler einbaute, um Unbefugten den Nachbau seiner Maschinen unmöglich zu machen”, fuhr Dr. Achten schließlich fort, als sie Gangelt schon fast erreicht hatten.
„Und Sie meinen, dass das auch bei Mercator und seinen Karten der Fall gewesen sein könnte?”, fragte der Reporter interessiert nach.
„Normalerweise hatte Mercator keinen Grund, seine besondere Methode der Flächendarstellung einer Kugeloberfläche, die dann trotzdem navigationstauglich blieb, geheim zu halten. Er besaß nämlich ein vom Kaiser verbrieftes Privileg auf die Anwendung dieser Methode und jeder, der eine derartige Karte haben wollte, musste sie von ihm zeichnen lassen.”
„Ich denke, es war gar nicht zu verhindern, dass er dennoch kopiert wurde!”, mutmaßte George.
„Möglich. Aber nach allem, was ich aus Dokumenten darüber weiß, hat ihn das nicht sonderlich gestört. Er ist auch nie damit vor Gericht gegangen. Nun war er natürlich aufgrund seiner Erfahrungen mit dem Lutherei-Verdacht in Rupelmonde ohnehin sehr kritisch auf die Gerichtsbarkeit zu sprechen. Wahrscheinlich hätte er schon deswegen nie seine Stimme erhoben, wenn jemand anderer seine Methode angewandt hätte. Aber ganz so leicht, wie es aussieht, ist das auch nicht. Es erscheint uns heute alles sehr selbstverständlich, aber das war es für die damalige Zeit keineswegs.” Er machte eine Pause, schüttelte den Kopf und schwieg dann wieder eine Weile.
George dachte inzwischen darüber nach, dass er seinen Artikel noch zu Ende schreiben, etwas überarbeiten und dann per Mail an die Redaktion absenden musste. Aber er hatte noch genügend Zeit. Und für einen Artikel über die „Mordbestie vom Selfkant”, wie man den Fall inzwischen in einer überregional bekannten Boulevardzeitung betitelt hatte, würde man in der Redaktion notfalls auch den einen oder anderen Hundertzeiler über das lokale Sportgeschehen aus dem Blatt nehmen und um einen Tag verschieben. Da war sich George hundertprozentig sicher.
Kurz bevor er Dr. Achten zu Hause absetzte, ergriff dieser noch einmal das Wort. „Ich denke, dass es durchaus sein kann, dass Mercator einen Fehler in die Karte eingebaut hat”, überlegte er laut. „Ob dieser Fehler in die Kopie übernommen wurde, ist natürlich nicht sicher. Aber ich werde zu Hause mal nachforschen, ob es irgendwelche kleinen Unterschiede zwischen der Karte mit dem Code und den anderen Darstellungen Mercators von der Gangelter Gegend gibt. Irgendeine kleine Abweichung wäre ja vielleicht schon aufschlussreich.”
„Tun Sie das”, meinte George aufmunternd.
„Dr. Kasels Nummer habe ich ja”, sagte Dr. Achten mehr zu sich selbst als an den Reporter gewandt.
„Ich hoffe, der Arme weiß, worauf er sich eingelassen hat”, sagte George.
„Für mich klang das so, als wäre ihm vollkommen bewusst, dass er die ganze Nacht am Rechner sitzen und die freien Kapazitäten ausnutzen wird”, gab Dr. Achten zurück.
George grinste leicht. „Nur eine Nacht, Herr Dr. Achten? Ich glaube, damit wären wir wohl schon ziemlich gut bedient.” George seufzte. „Manchmal frage ich mich, ob es nicht viel leichter wäre, das Gebiet in einem Drei-Kilometer-Radius um den Mercator-Stein einfach umzugraben.”
„Das wäre auch keine schlechte Idee”, bestätigte Dr. Achten.
Dann verabschiedete er sich, stieg aus und wurde an der Haustür bereits von seiner Frau empfangen.
Als George das Mercator-Hotel in Gangelt erreichte, war es bereits dämmrig.
Er ging auf sein Zimmer, wählte sich über seinen Laptop in einen Hotspot ein und überprüfte seine Mails.
Wann kommt der Artikel?, wollte die Redaktion in Geilenkirchen wissen.
„Geduld, Geduld”, stöhnte George und schrieb den Text zu Ende. Anschließend überarbeitete er alles noch einmal sorgfältig. Auf keinen Fall wollte er Informationen preisgeben, die es später erschweren könnten, den Täter zu fassen.
Dann schickte er den Artikel ab, lehnte sich ächzend zurück und massierte seine verspannte Nackenmuskulatur. Eine fachkundige Massage käme ihm jetzt sehr gelegen. Aber dafür war wohl keine Zeit!
Er lief wie ein Tiger im Käfig in seinem Zimmer herum, ließ sich den gesamten Fall noch einmal durch den Kopf gehen und überlegte, wie er nun vorgehen sollte.
Er beschloss, noch einmal mit Bettina Lange zu sprechen. Schließlich hatten sich vier Männer an der Schatzsuche beteiligt und einer davon war Bettinas Freund Jürgen Wisbert gewesen. Die beiden hatten zusammen gelebt – auch wenn sie sich letztendlich zerstritten hatten. Aber je länger George darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass die junge Frau etwas mehr darüber mitbekommen haben musste, als sie behauptete.
Die Polizei war mit Sicherheit bereits bei ihr gewesen und hatte sie über Jürgen Wisberts schreckliches Ende unter der Saftpresse informiert.
George erwog zunächst, sie anzurufen, um sicherzugehen, dass sie auch zu Hause war. In der Bank war sie jedenfalls bestimmt nicht mehr, denn die hatte längst geschlossen.
George nahm also sein Handy und rief ihre Nummer an.
Es nahm niemand ab.
George ließ es längere Zeit durchklingeln, dann gab er auf. Zumindest mit dem Telefonieren, denn er hatte gerade den Entschluss gefasst, ihr einen unangemeldeten Besuch abzustatten. Vielleicht konnten ja auch die Nachbarn noch ein paar wertvolle Angaben machen.
Also verließ George das Hotel wieder.
Im Foyer wies der Portier ihn geschäftstüchtig auf die Abendkarte hin, aber eigenartigerweise - und für ihn selbst sehr überraschend - hatte er im Moment überhaupt keinen Hunger. Nicht einmal Appetit, denn er war mit den Gedanken jetzt vollkommen bei dem Fall. Er war hochkonzentriert.
George klingelte mehrfach, denn in Frau Langes Wohnung brannte Licht und deshalb war er sich sicher, dass sie auch zu Hause sein musste. Nach geschlagenen fünf Minuten knackte es in der Gegensprechanlage.
„Ja, bitte.”
„Hier ist Georg Schmitz.”
„Ach, Sie schon wieder!”, stöhnte Frau Lange. „Hat man hier nie Ruhe?”
„War die Polizei schon bei Ihnen?”, fuhr der Reporter ungerührt fort.
„Gehen Sie”, meinte die junge Frau in forschem Ton. „Ich bin nicht wirklich in der Verfassung, etwas zu sagen. Und bei Ihnen muss ich ja doppelt vorsichtig sein. Bei der Polizei gibt’s nur ein Protokoll. Bei Ihnen gibt es ein Protokoll, das am nächsten Morgen der ganze Selfkant liest!”
„Nein, nein, so ist das nicht”, beschwichtigte George.
„Gute Nacht”, hörte er nun wieder ihre Stimme.
„Nein! Warten Sie! Ist es Ihnen denn völlig egal, wer Ihren Freund umgebracht hat?”
Einige Augenblicke geschah gar nichts. Es knackte einmal in der Leitung, das war alles.
„Nein, das ist mir nicht egal”, kam es plötzlich aus der Sprechanlage.
George köderte sie: „Lassen Sie uns das nicht hier besprechen. Ich meine die Sache mit dem Schatz und all die Dinge.”
„Schatz?”, fragte die junge Frau gedehnt.
„Darf ich hereinkommen?”, bat George nun in versöhnlicher Art und Weise.
Sie zögerte wieder. „Ja”, sagte sie schließlich.
Ein paar Augenblicke später empfing Bettina Lange George in ihrer Wohnung. Sie wirkte nervös. Anstatt ihres konservativen Bank-Outfits trug sie nun Jeans, Sweatshirt und Turnschuhe. George fiel auf, dass sie ziemlich häufig auf die Uhr schaute.
„Haben Sie noch etwas vor?”
„Nein, ist schon in Ordnung, Herr Schmitz. Kann ich Ihnen etwas anbieten?”
George schüttelte energisch den Kopf. „Nein, danke!”
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Also, was wollen Sie?”
„Ich nehme an, die Polizei war bereits hier und hat Sie über den Tod Ihres Freundes aufgeklärt.”
„Meines Ex-Freundes”, erwiderte sie trotzig.
„Trotzdem hatte ich mir Ihr Entsetzen über das, was Jürgen Wisbert zugestoßen ist, irgendwie heftiger vorgestellt”, begann George. „Ich meine, man hat ihm mit der Saftpresse den Schädel zerquetscht. Das ist eine selten grausame Mordmethode. Allein die Vorstellung dreht einem doch schon den Magen um – und wenn es dann noch einen geliebten Menschen trifft.”
„Einen ehemals geliebten Menschen, Herr Schmitz.”
„Trotzdem nehmen Sie das erstaunlich gefasst!”, beharrte der Reporter auf seinem Standpunkt.
„Was wollen Sie jetzt damit eigentlich sagen? Verdächtigen Sie etwa am Ende mich, dass ich Jürgen das angetan hätte – mal davon abgesehen, dass ich dazu wohl kaum die körperlichen Voraussetzungen mitbringen würde!”
„Nein, daran habe ich auch gar nicht gedacht, Frau Lange.”
Sie schluckte und sah George mit zusammengezogenen Augenbrauen und einem ziemlich genervten Blick an.
„Ich hatte mein Schock-Erlebnis bereits hinter mir, als die Polizei in der Bank auftauchte und mich mit dem Geschehenen konfrontierte. Haben Sie das verstanden? Inzwischen hatte ich Zeit genug, mich wieder zu fassen. Schließlich muss das Leben weitergehen; der Job, und alles andere.”
Sie atmete tief durch.
„Entschuldigen Sie, ich wollte Ihnen keineswegs zu nahe treten und es war auch nicht meine Absicht, auf Ihren Gefühlen herumzutrampeln.”
„Na großartig, dass Ihnen das doch noch einfällt! Wenn das alles war, was Sie mich fragen wollten, würde ich sagen, dass unser Gespräch jetzt beendet ist!”, meinte Bettina Lange patzig.
Doch George ließ sich nicht beirren. „Es ist nur so, dass ich einfach glaube, dass Sie mir nicht alles gesagt haben – und der Polizei wohl auch nicht.”
„Ich weiß nicht, wovon Sie reden!” Nervös drehte die junge Frau dabei immer wieder eine Strähne ihres langen Haares um einen Finger.
„Das wissen Sie sehr genau. Sie wollten mich erst nicht hereinlassen, aber als ich etwas von einem Schatz gesagt habe, da stand Ihre Tür plötzlich sperrangelweit offen – vermutlich, weil Sie wissen wollten, wie viel ich weiß.”
„Ich dachte eigentlich immer, dass man sich als Reporter nur an Tatsachen orientieren darf”, sagte sie spitz. Sie hob ein wenig den Kopf. Ihr Blick fixierte George genau. Den Reporter erinnerte sie in diesem Moment an ein in die Enge getriebenes Tier, das seinen Fluchtweg abgeschnitten glaubt. Außerdem schien es George immer offensichtlicher zu sein, dass sie unter einem enormen Druck stand.
Weshalb, dafür hatte George momentan noch keine Theorie, die auch nur ansatzweise einen Sinn ergab.
Dann holte er mit seiner Geschichte etwas weiter aus: „Vier Männer wollen einen Schatz heben, den vor 450 Jahren der Adjutant des Jülicher Herzogs stahl und in der Nähe von Gangelt vergrub.“ Er schaute sie an und wartete auf eine Reaktion von ihr. Die junge Frau wich seinem Blick aus und schaute sich demonstrativ ihre Fingernägel an.
„Vier Männer! Einer davon war Ihr Freund, der zweite ein gewisser Jan van Pollak. Bei dem Dritten dürfte es sich um den Computerspezialisten und Kryptologen Pieter van de Kerkhoff aus Schinveld in Holland handeln.”
„Was Sie nicht sagen”, erwiderte Bettina Lange mit einem sarkastischen Unterton.
„Es geht um diesen vierten Mann, der wahrscheinlich einen Ford Maverick mit Aachener Kennzeichen fährt, kräftig gebaut ist und einen Knebelbart trägt.”
„Eine interessante Geschichte, die Sie da erzählen“, winkte sie betont gelangweilt ab.
George fuhr fort: „Sie wissen mehr über diesen Mann. Genauso wie Sie auch mehr über van Pollak wussten oder zumindest herausgefunden haben dürften. Meine Güte, Sie waren mit Leutnant Wisbert liiert! Da bekommt man doch sicherlich mit, wenn der Freund daran denkt, einen Schatz zu heben.”
„Ich habe eigentlich im Moment keinen Bedarf an Ihrer Story. Tut mir leid!” Sie blickte zum wiederholten Mal auf die Uhr. „Ehrlich gesagt, fände ich es jetzt am besten, Sie würden gehen.”
„Vor dem Mann mit dem Knebelbart sollten Sie sich in Acht nehmen”, riet George ihr. „Er ist nämlich höchstwahrscheinlich ein Doppelmörder!”
Bettina Lange verzog ein wenig ihr Gesicht. „Was Sie nicht sagen, Herr Schmitz!”
George sah ein, dass es keinen Sinn hatte, ihr weiter zuzusetzen. Da konnte er nur auf Granit beißen.
Er legte ihr eine seiner Visitenkarten auf den Tisch und erhob sich.
„Ich glaube, Sie hatten bereits bei unserem ersten Treffen eine Karte hinterlassen”, sagte sie und ihre Augen funkelten ihn dabei bösartig an.
„Es schadet nicht, wenn Sie eine zweite davon haben.”
„Ach, ja?”
„Rufen Sie mich einfach an, falls Sie es sich doch noch anders überlegen und darüber sprechen wollen.”
„Dann auf jeden Fall nicht mit Ihnen!”, entgegnete sie barsch und hielt ihm auffordernd die Tür auf.