Am nächsten Morgen machte George nach dem Frühstück einen Spaziergang zum neuen Gewerbegebiet zu Lotto Schroeder. Er beabsichtigte Ursula Schroeder, genannt Ulla, zu befragen, die nach Angaben von Frau Wald möglicherweise demselben rasenden Kombi mit schrillem Nebengeräusch über den Weg gelaufen war wie sie.
Und das im wahrsten Sinn des Wortes.
Frau Schroeder hörte sich zunächst Georges knappe Zusammenfassung an. Er referierte dabei nur die nötigsten Fakten und ließ alles weg, was nur auf Vermutungen basierte.
„Ja, es stimmt“, bestätigte Ulla Schroeder. „Dieser Kombi fuhr wirklich wie der Teufel! Aber an mir ist der glücklicherweise nicht so knapp vorbeigerauscht wie es bei Frau Wald der Fall gewesen ist. Die kennen Sie doch sicher, oder nicht?“
„Ich habe mich ausführlich mit ihr unterhalten“, sagte Schmitz. „Deswegen bin ich überhaupt auf Sie gekommen.“
„Dann wissen Sie ja, dass die Frau Wald richtig zur Seite springen musste, damit der Verrückte sie nicht erwischt. Ich hatte da ja mehr Glück, nur mein Hund hat sich furchtbar erschreckt.“
„Na, ich hoffe, der hat sich wieder beruhigen können.“
„Hat er. Aber es hat eine Weile gedauert. Zuerst hat er alle Autos angekläfft und ich musste meine ganze hundepädagogische Erfahrung einsetzen, um zu verhindern, dass daraus eine dauerhafte Angewohnheit wird.“
„Der Wagen soll ein schrilles Geräusch gemacht haben ...“, versuchte der Reporter seine Gesprächspartnerin behutsam auf das Gesprächsfeld zurückzuführen, das ihn im Moment am meisten interessierte.
„Stimmt“, nickte sie. „Ich bin zwar kein Kfz-Mechaniker oder Mechatroniker, wie das neuerdings heißt, aber nach meiner unqualifizierten Laiendiagnose war der Keilriemen ziemlich locker. Ob Ihnen das allerdings jetzt weiterhilft ...“
„Das weiß man vorher nie so genau.“
Sie beugte sich etwas vor und raunte George augenzwinkernd zu. „Im Allgemeinen sind Sie doch gut informiert, Herr Schmitz.“
George hob die Augenbrauen. „Ein rasender Reporter wie ich sollte das schon für sich in Anspruch nehmen“, fand er.
„Gibt es schon irgendeine Spur von dem Kerl, der einen Mann im Brückenpfeiler einbetoniert hat?“
„Wer sagt Ihnen, dass das ein Kerl getan hat?“, fragte Schmitz zurück.
„Na ja ...“
„Aber Sie werden es ganz gewiss vor den meisten anderen erfahren.“
„Wieso?“
„Weil Sie die Zeitung doch ein bisschen eher bekommen als die anderen.“
Als George dann den Laden verlassen wollte, hielt Ulla Schroeders Stimme ihn noch einmal kurz zurück.
„Herr Schmitz?“
George wirbelte herum. Mit der Linken hielt er dabei den Griff der halb geöffneten Tür, durch die ein Schwall überraschend kühler Luft hereinwehte.
„Ja?“
„Mir fällt da noch etwas ein, über den Kombi des Rasers.“
„Sagen Sie bloß, Sie können sich an den Wagentyp erinnern!“
„Nein, das nicht.“
„Schade.“
„Aber an das Nummernschild.“
„Das ist noch besser.“
„Es war gelb. Was drauf stand, daran kann ich mich nicht erinnern. Dazu ging auch alles viel zu schnell. Aber bei der Farbe bin ich mir hundertprozentig sicher: gelb, wie bei den Holländern.“
Als er aus dem Laden trat, überblickte er die riesige Parkfläche, auf der fast genauso viele niederländische Wagen parkten wie deutsche. Die nahe Grenze zu den Niederlanden lockte wohl viele Kaufwillige in das Nachbarland.
Mehrmals versuchte George im Verlauf des Vormittags, Kommissar Krichel an den Apparat zu bekommen. Vergeblich. Nur Krichels Mailbox auf dem Handy war aktiv. Und was Kevin Clausen von der Kripo Aachen anging, so bekam er auch zu dem keinen telefonischen Kontakt. Ein Mitarbeiter sagte ihm, Clausen befinde sich in einer dringenden Konferenz.
„Ich hoffe nur, dass es keine Pressekonferenz ist, dann wäre ich nämlich gerne dabei“, sagte George, aber der Mitarbeiter verstand den Witz nicht und blieb ernst. Über den Obduktionsbericht könne er nichts sagen, so beschied er George trocken. Nicht einmal darüber, ob der Bericht nun schon vorliege oder nicht.
„Entgegenkommen buchstabiert sich aber anders“, murmelte George vor sich hin, nachdem er das Gespräch beendet hatte.
Gegen Mittag fuhr der Reporter zum Gut Drenkhaus. Er musste jetzt Merle und Thomas ein paar unangenehme Fragen stellen, daran führte einfach kein Weg vorbei.
Und sei es nur, damit er die beiden als Verdächtige ausschließen konnte. Aber insgeheim hatte sich sein Verdacht, dass der Tod von Kurt Drenkhaus das Ergebnis eines Familiendramas war, bereits verfestigt.
George parkte seinen Lupo auf dem Hof vor dem Hauptgebäude. Er stieg aus. Hinter dem Stall ragte die Motorhaube eines breiten Wagens hervor. Die Audi-Ringe waren nicht zu übersehen. Eigentlich hatte George im ersten Moment angenommen, dass dies einer der Wagen der Besitzer von Gut Drenkhaus war, aber das gelbe Nummernschild ließ ihn aufmerken.
Ein niederländisches Auto.
Wenn das ein Kombi wäre, wäre das zu schön, um wahr zu sein, dachte der Reporter. Aber der hintere Teil des Wagens war nicht zu sehen.
George klingelte an der Tür – keine Reaktion.
Er klingelte ein zweites Mal und wieder rührte sich nichts.
Das scheint hier ja Tradition zu haben, dachte er und bemerkte im nächsten Moment, dass die Tür offen stand. Das Schloss war ziemlich grob aufgebrochen worden. Um das zu erkennen, musste man nicht mal Ahnung von Kriminaltechnik oder erkennungsdienstlichen Methoden haben.
Die Neugier packte den Reporter.
Er stieß die Tür zur Gänze auf und lauschte.
Nichts zu hören.
Dann betrat er vorsichtig die Diele. Stille umfing ihn.
Neugierig bewegte er sich auf das Wohnzimmer zu.
Das Erste, was ihm auffiel, war die Tatsache, dass das Dürer-Bild, mochte es nun echt oder nachgemacht sein, nicht mehr an seinem Platz hing.
Von der Seite sah George plötzlich eine schnelle Bewegung. Mit den Augenwinkeln erfasste er einen Schatten, aber ehe er sich umdrehen konnte, traf ihn ein fürchterlicher Schlag an die Schläfe.
George taumelte zu Boden. Dabei versuchte er den Aufprall mit den Armen abzubremsen. Er sah ein paar weiße Turnschuhe der Marke Puma vor sich. Einer davon schnellte auf ihn zu und traf ihn mit voller Wucht in der Magengrube.
Einen Moment lang wurde es George schwarz vor Augen. Ein zweiter Tritt in seine Weichteile raubte ihm den Atem.
Durch einen roten Nebel aus Schmerz hörte er leichtfüßige Schritte sich entfernen. Wenig später wurde ein Wagen angelassen. Ein schrilles Heulen mischte sich in das Motorengeräusch wie eine Höllensirene.
Der Keilriemen ...
Wenig später war der Wagen davongebraust.
George ächzte.
Er versuchte, sich aufzurappeln. Ein furchtbarer Schmerz durchraste ausgehend von der Magengegend seinen gesamten Körper. Er tastete nach seiner Brille.
In absurden Situationen kamen einem manchmal absurde Gedanken – und in Georges Fall lautete dieser absurde Gedanke: Hoffentlich ist meiner Kamera nichts passiert!
Danach verlor er das Bewusstsein.
*
Anno 1521
Wolfhart Munchheimer ist mein Name und ich war erst Lehrling und dann Geselle beim großen und allüberall gerühmten Maler und Kupferstecher Albrecht Dürer dem Jüngeren aus Nürnberg, dessen Bilder Kaiser Maximilian und so manch anderen Fürsten hoch erfreuten. Bekannter noch als sein Name aber dürfte das Zeichen sein, das auf allen Werken aus seiner Werkstatt zu finden ist und das aus einem A und einem D in ebenso einfacher wie wirkungsvoller Verschränkung gebildet wird und sich dem Auge wie dem Verstande sofort einprägt.
Diese Zeilen schreibe ich, der Wahrheit zu Ehren, die sonst verloren ginge. Eine Wahrheit, die vielen missfallen wird und bei anderen gar Zorn erregen könnte. Doch aller Zorn - außer dem Zorn des Herrgottes - soll mir dabei vollkommen gleichgültig sein.
Ich war mit meinem Herrn, dem großen Albrecht Dürer in der Gegend von Gangelt, einem kleinen Flecken Erde mit einer Burg und eigenem Markt, der merklich bescheidener war als all die Weltstädte, die ich mit meinem Herrn habe bereisen dürfen. Wir waren in Antwerpen und in Brügge gewesen, und selbst diese Städte waren nach den Schilderungen meines Herrn Dürer nichts als Dörfer gegen Venedig. Vielleicht aber kam mir, der ich nun schon einige Jahre das Leben in Nürnberg gewohnt war, wo mein Meister seine Werkstatt unterhielt, eben aus diesem Vergleich jeder Ort so klein und winzig vor, der nicht wenigstens annähernd dieselbe Bedeutung und dieselbe Größe hatte.
Jedenfalls will ich nicht verhehlen, eine gewisse Enttäuschung gespürt zu haben, denn man hatte uns eine Stadt mit Burg und Markt verheißen. Was sich uns aber präsentierte, als wir uns mit dem Wagen dem Orte Gangelt näherten, war eine Burg mit ein paar Häusern.
Das auffälligste und am weitesten ins Land hinein zu sehende Merkmal Gangelts war aber der Kirchturm.
Da ich Maler bin wie mein Meister und von diesem ausgebildet werde, hatte ich gleich den Gedanken, wie wunderbar sich dieser Kirchturm in seiner besonderen Lage dazu eignen würde, die Gesetze der Perspektive und des goldenen Schnittes, an deren Entwicklung mein Meister nicht unwesentlich beteiligt ist, bildnerisch auf die Leinwand zu bannen.
Ich wusste, dass mein Meister dieselben Gedanken hatte, denn da er mich ausgebildet hat, habe ich gelernt, zu denken wie er, sodass unsere Gedanken manchmal verschmelzen, und man nicht sagen kann, wer nun als Erster daran dachte!
„Ein solcher Turm ist ein Geschenk des Herrn für den Maler“, stieß Dürer hervor, denn er konnte sich an diesen Geschenken Gottes als Künstler erfreuen. Wer glaubt, dass der Maler etwas hervorbringt, der irrt. Dies sagen nur Leut’, die nicht imstande sind zu sehen. Leut’, die einfältige Augen haben und blind sind, obwohl sie durchaus mit einem Hammer den Nagel auf den Kopf zu treffen vermögen. Aber sie sehen nicht wirklich, was vor ihnen ist. Sie sind unfähig, die Verhältnisse der Dinge zueinander zu erfassen. Das Erste, was ein Maler zu lernen hat, ist nicht der Umgang mit dem Pinsel oder das Mischen der Farben. Zuerst muss er lernen, richtig zu sehen, denn nur dann kann er das Gesehene so auf die Leinwand bannen, dass der Betrachter von Herzen angerührt wird.
Mein Herr und Meister hat diese Fähigkeit so sehr entwickelt wie kaum jemand vor ihm, und da ich bei ihm lernte, lernte ich von ihm das Sehen noch einmal ganz von vorn, so wie ein unverständiges Kind, das keinen Begriff von den Dingen hat, die es umgeben.
––––––––
Ich will nun aber nicht ausschweifig werden, auch wenn die Angelegenheiten, darüber ich hier schreibe, gewiss nicht nebensächlich sind. Sondern ich will fortfahren, die Wahrheit zu berichten, die sonst verloren ginge. Die Schrift überlebt den Abgrund der Zeiten, der uns von den Nachgeborenen trennt.
Und vielleicht wird irgendwann einmal jemand diese Zeilen finden, sodass er weiß, was wirklich geschehen ist und was nur der Lüge und der beschönigenden Darstellung jener entspringt, die ein Interesse daran haben, mehr zu verbergen als zu enthüllen.
So kamen wir denn in den Ort Gangelt und logierten in einem einfachen Gasthause, in dessen Gebälk es sehr viele Wanzen gab, das aber ansonsten recht angenehm war, angenehmer jedenfalls, als wir es später im erhaben-kaiserlichen Aachen treffen sollten, wo wir in einer Stube, nur einen Steinwurf vom Dom entfernt nächtigten. Doch in Aachen hatte die Pest gewütet und deshalb war alles dort sehr heruntergekommen, denn diejenigen, die es hätten pflegen sollen, waren in großer Anzahl auf den Knochenäckern verscharrt worden.
Doch zurück zu den Verhältnissen im Gasthof zu Gangelt.
Das Fleisch war stark gewürzt und Dürers Gattin Agnes argwöhnte, ob dies vielleicht nicht an mangelndem kulinarischen Können des Wirtes lag, sondern vielmehr seiner Geschäftstüchtigkeit geschuldet sei, indem er altes, verdorbenes Fleisch auf diese Weise doch noch an den Mann brachte.
So verzichtete Frau Agnes denn auch darauf, die zugeteilte Portion selbst zu essen, und gab sie ihrer Magd. „Da du dir sonst auch gerne nimmst, was mein ist, so nimm auch das hier! Aber beklage dich nicht, wenn du dich daran verschluckst oder dir übel wird!“, sagte sie dazu.
Diese Worte konnte man nur auf eine Art verstehen und alle am Tisch taten es auch wohl, aber zogen es vor zu schweigen, um den Unfrieden nicht noch weiter zu mehren.
Nun muss man dazu wissen, dass Agnes ihren Mann verdächtigte, nächtens der Magd beizuwohnen und ein gar liederliches Verhältnis mit ihr zu pflegen. Es hatte darum auch schon Streit gegeben, dass er die Magd entlassen sollte, aber Albrecht hatte eingewandt, dass es nicht leicht sei, eine Magd zu finden, die vertrauenswürdig wäre, sich nicht am Geld vergreifen würde und zudem bereit sei, die beschwerlichen Reisen trotz geringen Entgelts mitzumachen.
Doch will ich darüber an dieser Stelle nicht mehr erzählen – nur noch, dass die Magd sich über die zusätzliche Portion Fleisch sehr freute.
„Es ist besser, eine Frau sieht drall und gesund aus, denn knochig und hungersüchtig, wie arme Sünderinnen, die sich das Geld auf der Straße verdienen müssen, schon nach ihrem fünfundzwanzigsten Lebensjahr keinen Zahn mehr im Mund haben und so faltig aussehen, dass man denken könnte, sie seien hundertjährig“, erinnere ich mich an die Erwiderung der Magd. Dass die im Vergleich zur Magd eher hagere Gestalt von Frau Agnes hier gemeint war, ohne es wirklich auszusprechen, ist wohl jedem klar gewesen, der dies hörte. Dass es die Magd überhaupt wagte, sich diese Frechheit gegenüber ihrer Herrin herauszunehmen, mag Agnes in der Annahme bestätigt haben, dass diese in gewisser Hinsicht längst ihre Stelle bei Meister Albrecht eingenommen hatte.
Nun gab es so manchen Streit deswegen unter den Eheleuten, aber schließlich kam ein Mann an den Tisch, der seiner Kleidung nach recht wohlhabend war.
„Seid Ihr der große Albrecht Dürer, auf dessen Bildern ein „A“ und ein „D“ stehen, als wären sie ein Malerwappen?“, fragte der Mann. Zwar war der Name des Meisters bei vielen bekannt, aber keineswegs sein Antlitz. Und da es zu jener Zeit viel Warenhandel mit den Niederlanden gab, waren auch ständig Fuhrleute und Händler in den Gasthöfen der Gegend, wie ich selbst in der Folgezeit erfuhr.
„Der bin ich sehr wohl“, sagte der Meister.
Der Mann stellte sich als Wolfgang Drenkhäuser vor und erzählte, dass er im nahe gelegenen Süsterseel ein Gut besitze, das Drenkhaus geheißen werde, weil auch ein Wirtshaus dazugehöre, in dem man recht ordentlich und zu angemessenen Preisen trinken könne. Das Bier aus der eigenen Brauerei sei das Beste in der Umgebung und werde allüberall hochgelobt. Selbst Händler aus Köln und ein Abgesandter des Bischofs von Münster seien schon gekommen, um es fässerweise wegzuschaffen.
Dann sprach Wolfgang Drenkhäuser: „Unserem Gut ist jedoch ein Nachteil gegeben, der schwer wiegt ...“
„Nun, ich verstehe mich nicht auf die Gutsverwaltung und werde Euch kaum einen Ratschlag geben können“, so gab Meister Albrecht leicht erheitert zurück, was die Stimmung bei Tisch auflockerte. Diese Stimmung war zuvor wie die glimmende Lunte einer Hakenbüchse gewesen, von der man weiß, dass sie binnen zweihundert Herzschlägen losschießen wird, sodass es kein Wunder ist, dass unser alter Kaiser Maximilian die neuen Radschlosspistolen als unritterlich und unchristlich verbieten wollte, weil niemand die Lunte riechen und deshalb niemand gewarnt werden kann vor dem Unglück, das da auf ihn zukommt.
Das Unglück aber, das sich am Tische des Meisters Albrecht zusammenbraute, hatte jeder merken können, und so war ich sehr erleichtert, dass es nicht zum Knall kam, bringt das doch stets nur Verdruss für alle mit sich und ändert doch selten etwas an der Sache selbst.
Es brachen also Heiterkeit und Gelächter aus.
Trotz des Spotts, den Meister Albrecht mit seiner Erwiderung über dem Haupte des Wolfgang Drenkhäuser ausgegossen hatte, blieb dieser recht gefasst und freundlich.
Er fuhr in ernstem Tonfall fort, seine missliche Lage zu schildern – und auch, wie Meister Albrecht ihm dabei helfen könnte, sie zu überwinden.
„Unser Gut und vor allem das Wirts- und Gasthaus hat den Nachteil, dass es in Süsterseel recht abgelegen ist. Nur wenige Leute, die über Gangelt und Millen reisen, finden den Weg dorthin – und obzwar unser Bier allüberall gelobt wird und zu vernünftigem Preis zu haben ist, so sind die meisten doch darauf aus, ihren Durst schnell zu löschen und tun dieses auf ihrer Reise dann bereits hier in Gangelt.“
„Und wie kann Euch ein Kunstmaler wie mein Mann nun helfen?“, fragte Frau Agnes mit einer Stirn, die zwar gerunzelt, aber nicht mehr gar so arg in Falten lag wie zuvor.
„Indem er mir ein Bild malt, das ich dann in der Gaststube aufhängen werde. Wenn sich herumspricht, dass der große Meister Dürer hier ein Bild hinterlassen hat, werden viele von nah und fern kommen, und so sie unser Gut erreichen, wird allein der Weg schon sie über die Maßen durstig gemacht haben. Wer aber einmal unser Bier gekostet hat, wird kein anderes mehr verlangen.“
Meister Albrecht schien von der Idee an sich schon überzeugt zu sein, allerdings weniger von dem Gedanken, sich selbst daran zu beteiligen.
„Eigentlich sind wir nur auf der Durchreise“, sagte er. „Und im Moment, so möget Ihr es mir nachsehen, werde ich von mannigfachen Sorgen geplagt!“
„Mein Mann hatte in Antdorf einen schlimmen Schiffsunfall. Das Segel ist gerissen und das Schiff wurde aufs offene Meer hinausgetrieben. Ich habe fürchterlich geweint und gedacht, ich seh meinen Mann nie wieder. Stundenlang trieb das Schiff aufs offene Meer hinaus. Aber dann hat sich die Besatzung aufgerafft und ist mit Behelfswerkzeug zurückgerudert. Sie haben es tatsächlich geschafft, aus eigener Kraft in den Hafen zurückzurudern. Das hat meinen Mann wohl sehr mitgenommen.“ Frau Agnes hob die Augenbrauen, was ihr zusammen mit der neuerdings modisch ausrasierten Stirne das Gesicht einer Besserwissenden gab. „Jetzt schläft er gar schlecht und hat böse Träume, die von dem schrecklichen Erlebnisse herrühren.“
Angesichts der Schadenfreude des Dürer-Weibes überkam mich klammheimliche Freude darüber, dass ich bisher nicht in den Stand der Ehe getreten war, und ich nahm mir vor, dies auch sehr weidlich zu überlegen, falls ich einmal vor der Entscheidung stünde.
„So kann er jetzt kaum noch malen, weil ihn Beklemmungen plagen“, fuhr des Meisters Weib fort.
Der Drenkhäuser aber hielt dies für eine List, um den Preis hochzutreiben und ahnte nicht, dass es der Wahrheit entsprach.
Er nahm ein Ledersäckel vom Gürtel und warf ihn auf den Tisch, sodass es klirrte. Ein paar Pfennige sprangen heraus und rollten schon über den Tisch, sodass es gar schwer war, sie rechtzeitig vor dem Fall in die Tiefe noch aufzufangen.
Die Magd aber fing eine Münze und lehnte sich dabei auf eine Weise gegen mich, die höchst angenehm war. Ihr lautes Lachen schrillte durch die ganze Schankstube.
Als aber Meister Albrecht das viele Geld sah, was ihm geboten ward, um ein Bild zu verfertigen, änderte sich alsbald der Ausdruck seines Gesichts.
„Und freie Logis in meinem Gasthause gibt es obendrein!“, erklärte der Drenkhäuser. „Schon, damit ich sagen kann, dass auch der große Albrecht Dürer höchstselbst zufrieden war in der Kammer, die ich für ihn bereithielt!“
„Das ist kein schlechtes Angebot“, meinte Meister Albrecht zögerlich.
Doch seine Frau Agnes – für ihre große Geschäftstüchtigkeit allgemein sehr bekannt – ward von Geldgier gepackt und begann, ihre ganze Feilschkunst zu entfalten, für die sie bei vielen Händlern allüberall berüchtigt war.
Zumindest in dieser Hinsicht gab es keine Frage darüber, dass ihre Dienste denen jeder anderen Person vorzuziehen und besonders gewinnbringend waren.
So verdoppelte der Drenkhäuser schließlich den Preis für die Erstellung des Bildes, und alle am Tisch waren auf das Äußerste zufrieden und erfreut.
Wir brachen also schon kurze Zeit später auf, um zu einem Ort zu gelangen, den die Menschen in diesem Lande Süsterhyln geheißen hatten, wobei ich mir keinen Reim darauf machen konnte, welche Bedeutung dieser Name wohl haben mochte.
Auf dem Gut des Drenkhäusers fanden wir alles vortrefflich und zu unserer Zufriedenheit vor.
*
Als George wieder zu sich kam, fühlte er einen beständigen, dumpfen Schmerz in der Magengegend. Und zwar bei jedem Atemzug, immer, wenn er die Muskeln etwas anspannte. Beinahe wünschte er sich in das dunkle Reich der Bewusstlosigkeit zurück. Er wollte einfach nur, dass der Schmerz aufhörte – und die Geräusche, die so unangenehm durchdringend klangen.
„Herr Schmitz! Aufwachen!“
Der Tonfall war barsch.
War das etwa der Stationsdrachen auf der Intensivstation einer Klinik? George erwartete nun eigentlich einen langgezogenen Piepton, der anzeigte, dass es vorbei war und die Qual ein Ende hätte.
Dann kann ich mich ja in einem späteren Leben an jemanden wie diesen Dr. Dr. Roloffsen wenden, damit ich mein Georg-Schmitz-Wissen reaktivieren kann!, schwirrte es ihm noch durch den Kopf und gleichzeitig fiel ihm ein, wie absurd es war, sich darüber Gedanken zu machen, dass er in einem zukünftigen Leben alle Reporterkontakte, die er in vielen Jahren mühsam aufgebaut hatte, verloren haben würde.
„Vielleicht werde ich dann ja auch gar nicht Zeitungsreporter, sondern übe tatsächlich einen Beruf aus, den man sich in der Kindheit immer vorstellt: Fußballprofi, Lokomotivführer oder Astronaut.“
Weit genug war die Raumfahrt ja vielleicht, wenn er wieder auf die Welt kam, sodass es da genügend freie Stellen gab.
Vorausgesetzt natürlich, an der Theorie von Roloffsen und seinen Mitstreitern auf dem etwas obskuren Seminar im Gangelter Mercator-Hotel war überhaupt etwas dran, woran George durchaus seine Zweifel hatte.
„Herr Schmitz!“, ertönte es wieder an seinem Ohr, wobei das „Herr“ so ausgesprochen wurde, als ob es mit drei „R“ geschrieben würde.
Als nächstes bekam er eine leichte Ohrfeige.
„Aufwachen!“
„Nicht wieder schlagen!“, rief George.
Dann öffnete er endlich die Augen. Alles erschien ihm furchtbar grell. Ein Mann beugte sich über ihn. George erkannte ihn. Es war Dr. Kramer, ein Arzt, der ganz in der Nähe, in Süsterseel, seine Praxis hatte.
Eigentlich war er Kinderarzt, aber einen Bewusstlosen zu reanimieren, gehörte wohl zur medizinischen Grundausbildung. George setzte sich auf. Unter sich fühlte er glattes Parkett. Der Schmerz verlagerte sich jetzt von der Magengegend in den Kopf.
Der dröhnte jetzt nämlich furchtbar.
Außerdem wurde es ihm schwindelig.
„Puh, ich habe wohl ziemlich einen auf die Mütze bekommen“, stöhnte er auf.
Er sah sich um, blinzelte dabei und griff nach seiner Kamera, die ihm noch immer um den Hals hing. Eine kurze Kontrolle löste ein Gefühl der Erleichterung aus. „Gott sei Dank, alles in Ordnung!“ Sogar die letzten Bilder ließen sich auf dem Display anzeigen.
Es war nichts gelöscht.
Außer Dr. Kramer und George waren noch zwei andere Personen im Raum. Der eine war der Polizist Biewendt, bei dem anderen handelte es sich um Kevin Clausen von der Kripo Aachen.
„Können Sie mir mal sagen, was Sie hier eigentlich machen, George?“
„Ich wüsste nicht, dass wir schon per George sind, Herr Clausen“, sagte er bestimmt.
„Kommen Sie, jeder weit und breit nennt Sie doch so. Also, heraus mit der Sprache, was machen Sie hier?“
„Das könnte ich Sie auch fragen!“
„In der Notrufzentrale ist ein anonymer Anruf eingegangen. Der Anrufer hat angegeben, dass auf dem Gut vermutlich gerade eingebrochen werde und da ich in der Nähe war, bin ich nun auch hier.“
„Ach so ...“
„Ich habe ja durchaus nicht zum ersten Mal einen Einbrecher auf frischer Tat ertappt, aber dass ich hier ausgerechnet Sie antreffe, das verwundert mich nun doch sehr, Herr Schmitz - wenn Ihnen das lieber ist.“
„Und jetzt glauben Sie, dass ich hier eingebrochen bin? Herr Clausen, das ist jetzt nicht Ihr Ernst!“, entfuhr es George. Aber bei jemandem wie Clausen hielt er es durchaus auch für möglich, dass er einfach nur bluffte, um sich wichtig zu machen und den Gesprächspartner klein zu halten.
Dass Clausen zu solchen Spielchen neigte, hatte er ja schon bei früheren Begegnungen festgestellt.
Na warte, dachte der Reporter. Ohne mich!
Er versuchte nun aufzustehen und Dr. Kramer half ihm dabei. George fasste sich an den Kopf und schwankte etwas.
„Ist Ihnen schwindelig?“
„Ein bisschen.“
„Übelkeit?“
„Wie man das nach einem Tritt in den Bauch eben erwarten kann.“
„Sie waren eine Weile weggetreten.“
„Lässt sich nicht leugnen.“
„Herr Schmitz, Sie haben eine Gehirnerschütterung – entweder durch einen Schlag oder weil Sie zu Boden gestürzt sind. Auf jeden Fall sollten Sie sich doch eine Weile Bettruhe gönnen.“
George lächelte matt. „Danke, Dr. Kramer. Ich komme schon zurecht. Alles nur halb so schlimm.“ Dann wandte er sich an Clausen und erzählte, was ihm widerfahren war.
Clausen machte ein skeptisches Gesicht.
„So, der große Unbekannte also“, sagte er dann gedehnt und in einem Tonfall, der eigentlich signalisierte, dass er die Story, die Schmitz ihm erzählt hatte, nicht besonders überzeugend fand. „Ja, der gute alte Mister X musste schon für vieles herhalten.“
„Ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt!“, beharrte George und spürte sofort, dass er Clausen damit auf den Leim gegangen war.
„Herr Schmitz, ich schätze es nicht, wenn die Presse ihren gesetzlich vorgegebenen Rahmen verlässt. Es mögen ja gute Gründe dafür existiert haben, hier einzusteigen und nach Beweisen zu suchen, aber in ein Haus einzudringen, damit haben Sie auf jeden Fall Ihre Befugnisse überschritten.“
„Ach, und dann habe ich mir wohl auch noch selbst die Schläge versetzt! So was lernt man natürlich auf jeder Journalistenschule! Verprügle dich selbst, damit du eine gute Ausrede hast, falls dich ein Polizist beim Einbruch erwischt!“
„Jetzt werden Sie nicht albern, Herr Schmitz!“
„Also, wenn hier einer albern ist, dann ganz bestimmt nicht ich!“, widersprach George. „Sie sollten lieber dafür sorgen, dass das Reifenprofil von dem holländischen Wagen gesichert wird, mit dem der Täter vermutlich davongefahren ist.“
„Ich dachte, Sie waren ohnmächtig. Aber Sie konnten den Wagen noch durch die Wand sehen – oder was?“
„Nein, den Wagen habe ich vorher gesehen. Bevor ich das Haus betrat. Und ich nehme an, dass dieser Schläger, der mir eins verpasst hat, damit davongebraust ist. Der Keilriemen quietschte – und genau das haben mir zwei Zeuginnen auch von einem Fahrzeug berichtet, das an dem Morgen, an dem Kurt Drenkhaus einbetoniert worden sein muss, von der Brücke aus kommend an ihnen vorbeigefahren ist!“
„Wer sind denn diese Zeuginnen?“
„Frau Schroeder von Lotto Schroeder und ...“ George verzog das Gesicht und betastete seinen Bauch. „Ich schreibe Ihnen gerne Telefonnummer und Adresse auf, dann können Sie das überprüfen.“
„Wir haben inzwischen Kurt Drenkhaus‘ eigenen Wagen gefunden. Er ist in der Nähe des Tatorts in einem Waldstück abgestellt und mit Zweigen gut versteckt worden. Die Nummernschilder waren abmontiert und natürlich befanden sich auch keine Papiere im Handschuhfach, so hat es erst etwas gedauert, bis wir den Halter identifizieren konnten.“
„Dann hat Herr Drenkhaus diese Baustoffmesse in München nie erreicht“, stellte George sachlich fest. Er setzte sich in einen der Sessel und ächzte hörbar.
„Vielleicht folgen Sie einfach dem Rat von Dr. Kramer und legen sich in den nächsten Tagen ins Bett, wenn Ihnen beim Stehen der Schädel brummt, Herr Schmitz“, entgegnete Clausen.
George blieb jedoch einfach sitzen, lehnte sich zurück und bemühte sich, ganz flach zu atmen.
Er wandte den Blick kurz zu Dr. Kramer. „Vielen Dank für Ihre Hilfe, aber falls Sie nicht gerade ein Aspirin dabei haben, das ich auflösen kann, dann brauche ich Ihre Unterstützung im Moment eigentlich nicht mehr.“
Dr. Kramer machte ein ernstes Gesicht, schaute zu Clausen, der nur mit den Schultern zuckte, woraufhin der Blick des Arztes dann wieder zurückwanderte. „Wie gesagt, Herr Schmitz - was Sie tun, tun Sie auf eigene Gefahr. Nicht, dass wir in Zukunft Ihre Kolumnen nicht mehr in der hiesigen Regionalzeitung lesen können!“
„Keine Sorge, so schnell haut mich nichts um!“, sagte George. „Jedenfalls nicht auf Dauer.“
Dr. Kramer ging zur Tür. „Herr Claussen, wenn Sie mich auch nicht mehr brauchen ...“
„Nein, vielen Dank. Die Verletzungen von Herrn Schmitz wird ohnehin ein Gerichtsmediziner dokumentieren müssen. Darum wird er nicht herumkommen.“
„Gut. Ist ehrlich gesagt auch nicht mein Fachgebiet“, sagte Dr. Kramer und ging hinaus.
„Wo sind eigentlich Thomas und Merle Drenkhaus?“, fragte George.
„Ich weiß es nicht“, entgegnete Clausen. Er wandte sich an Herrn Biewendt. „Oder haben Sie schon was Neues?“
Herr Biewendt schüttelte bedauernd den Kopf. „Leider nicht.“
„Wir versuchen Merle Drenkhaus und ihren Schwager zu erreichen. Inzwischen hat der Fall nämlich eine andere Wendung genommen, als Sie vielleicht gedacht haben ...“, fuhr er fort.
„Und was für eine?“, fragte George
„Ich weiß nicht, ob Sie wirklich der Richtige sind, mit dem ich darüber sprechen sollte, Herr Schmitz.“
„Sie verhindern damit unter Umständen, dass ich etwas Falsches berichte – und das könnte durchaus in Ihrem Interesse liegen!“
Clausen atmete tief durch.
Er kann nicht zugeben, dass er in Wahrheit meine Hilfe gut gebrauchen kann, dachte George.
„Wir haben inzwischen Hinweise darauf, dass Merle Drenkhaus und ihr Schwager Thomas ein Verhältnis hatten.“
George schmunzelte leise in sich hinein, dann fragte er nur:
„Wie sind Sie darauf gekommen?“
„Durch einen anonymen Anruf.“
„Etwa derselbe Anrufer, der von dem Einbruch auf Gut Drenkhaus gesprochen hat? Mit verstellter Stimme wahrscheinlich.“
Clausen schüttelte den Kopf.
„Nein, es war eine Frauenstimme, und sie war überhaupt nicht verstellt. Niederländischer Akzent. Wir haben den Anruf zurückverfolgt. Es handelte sich um ein Prepaid-Handy, dessen Standort tatsächlich in den Niederlanden war. Leider wurde es abgeschaltet, ehe unsere charmante holländische Kollegin, Brigadier Nina Kosten von der Polizeidienststelle in Schinveld, die geortete Position erreichen konnte.“
„Eine Anruferin mit niederländischem Akzent, ein verrückter Kombifahrer – oder eine Kombifahrerin – mit niederländischem Kennzeichen. Diese Spur sollte man doch vielleicht mal etwas intensiver verfolgen“, schlug George vor.
„Keine Sorge, Herr Schmitz, das tun wir schon.“
„Ich teile übrigens Ihren Verdacht, dass Merle und ihr Schwager ein Verhältnis haben.“
„Na, dann sind wir uns in dem Punkt ja mal einig, Herr Schmitz. Jedenfalls stellen wir gerade das Nebengebäude auf den Kopf“, fuhr Clausen fort. „Wir haben einen Durchsuchungsbeschluss.“
George zählte eins und eins zusammen und kam sofort zu einem Ergebnis, das zwar nicht zwei lautete, aber dafür erklärte, weshalb Clausen so vorging.
„Der Obduktionsbericht!“, stellte er fest. „Sie kennen ihn und ich nicht! Leider wollte mir niemand von Ihren Kollegen so richtig Auskunft geben.“
„Laut Obduktionsbefund war die Todesursache ein Stich mit einem spitzen Gegenstand in die Brust. Könnte ein Messer gewesen sein, ein Brieföffner oder ... was weiß ich! Wenn wir die Tatwaffe gefunden haben, werden wir es wissen.“
„Und Sie glauben, diese Tatwaffe im Haus von Thomas Drenkhaus zu finden?“
„Der Stich muss mit großer Kraft ausgeführt worden sein. Und zwar von einem Täter, der mindestens ein Meter achtzig groß war. Deswegen scheidet Frau Drenkhaus zumindest für den Stich als Täterin aus. Ob sie ansonsten etwas mit der Sache zu tun hat, wird sich herausstellen. Ich schätze, ja, denn bisher haben sich alle Angaben, die die Niederländerin am Telefon gemacht hat, als sehr präzise herausgestellt.“
„Wurde Kurt Drenkhaus bei der Brücke getötet oder woanders?“, versuchte George noch eine Frage unterzubringen, die ihm sehr unter den Nägeln brannte.
„Definitiv woanders“, gab Clausen Auskunft. „Der Täter hat ihn zur Brücke gebracht und ihn dann dort in die Verschalung des Pfeilers geworfen.“
„Spuren?“
„Sie wollen es aber genau wissen!“
„Ich werde nichts berichten, was in irgendeiner Weise fahndungstaktische Relevanz hat, Herr Clausen. Das wissen Sie. Und darauf können Sie sich auch verlassen. Aber andererseits möchte ich mir gerne ein möglichst umfassendes Bild machen, was Sie auch verstehen müssten.“
Clausen zögerte. „Geben Sie zu, dass Sie hier ein bisschen weit gegangen sind?“, versuchte er dann das Gesprächsthema auf ein anderes Gebiet zu lenken.
„Die Tür stand offen – und ich bin mit der Familie Drenkhaus bekannt. Ich finde nicht, dass ich zu weit gegangen bin. Und im Übrigen stellt sich ja nun auch durch die geheimnisvolle Anruferin heraus, dass eine wichtige Spur in die Niederlande führt, wozu ich Ihnen zwei Zeuginnen präsentiere! Dafür könnten Sie sich eigentlich auch ein bisschen erkenntlich zeigen.“
Clausen knurrte etwas vor sich hin, was George nicht verstand. Vielleicht war es auch besser so, denn ganz gleich, was der Kripo-Mann da gesagt hatte - es war ganz gewiss nicht freundlich gemeint gewesen.
Schließlich rang sich Clausen dann dazu durch, George doch noch ein paar Informationsbrocken vor die Füße zu werfen. „Wir haben keine DNA-Spuren des Täters gefunden, aber er kann diesen Stich, der Drenkhaus tötete, nicht ausgeführt haben, ohne sich dabei selbst mit Blut zu besudeln. Bestimmte Spuren, die der Gerichtsmediziner gefunden hat, weisen darauf hin, dass die Leiche unter den Armen gepackt und geschleift wurde.“
„Das heißt, es war nur ein Täter“, stellte George klar.
„Oder die Komplizin war nicht besonders hilfsbereit“, meinte Clausen und beschuldigte damit indirekt Merle Drenkhaus.
Schließlich fuhr der Kommissar fort. „Wir haben uns daraufhin den Fundort der Leiche noch einmal angesehen. Aber weitergehende Spuren haben wir natürlich nicht gefunden. Die wurden alle durch die Betonbauer vernichtet, die dann Herrn Drenkhaus ein besonders kaltes Grab bereitet haben.“
Einer der Polizisten kam von draußen herein.
Es war Heinz-Leo Krükel vom Polizeibezirksdienst Gangelt.
„Frau Drenkhaus und ihr Bruder sind zurück“, sagte er.
„Das trifft sich gut“, fand Clausen.
Gleichzeitig klingelte ein Telefon. Es war Clausens Handy. Während der Kommissar aus Aachen zur Tür hinausging, nahm er den Apparat in die Hand, und es hatte fast den Anschein, als würde er Haltung annehmen.
Jedenfalls wirkte seine Körperhaltung plötzlich viel aufrechter, und er blieb mitten in der offenen Tür stehen.
„Ja, Herr Oberstaatsanwalt ... Deller, ich weiß ... ja, ja ...“
George wurde hellhörig.
Clausen ging noch weiter ins Freie.
Den Oberstaatsanwalt Deller kannte George ebenfalls durch die Berichterstattung über andere Kriminalfälle – wobei es sich nicht unbedingt immer um Mord und Totschlag gehandelt hatte. Den Kontakt sollte ich vielleicht wieder auffrischen, nahm sich George vor.
Er hatte allerdings nicht damit gerechnet, dass die ermittelnden Behörden bereits so weit waren, dass der Oberstaatsanwalt in dem ganzen Verfahren überhaupt schon eine Rolle zu spielen hatte. Offenbar hatte er Clausen unterschätzt.
„Jawohl, Herr Deller. Pressekonferenz heute Abend! Bis dahin haben wir mit Sicherheit die nötigen Fakten auf dem Tisch, sodass man der Öffentlichkeit vielleicht sogar schon Verdächtige präsentieren kann ... Nein, ich halte das nicht für übereilt, die Öffentlichkeit ...“ Offenbar unterbrach Deller an dieser Stelle den Kommissar, denn er setzte noch einmal an und sagte ein zweites Mal „Aber die Öffentlichkeit ...“, nur um diesen Halbsatz erneut abzubrechen und dann mit einem sehr viel kleinlauter klingenden „Jawohl, Herr Deller!“ zu schließen. Er seufzte. „Der will‘s aber auch genau wissen“, knurrte er.
Offenbar war die Staatsanwaltschaft zurückhaltender als Clausen, der wohl hoffte, mit einer raschen Ergebnispräsentation in der Öffentlichkeit als großer Held dazustehen. Für George war das ein wichtiger Hinweis.
Auch wenn sich Clausen seiner Sache sehr sicher war, so schien das alles noch längst nicht so wasserdicht zu sein, wie Clausen es wohl gerne gehabt hätte.