Die Vernehmung Ralf Distlers erbrachte keine neuen Erkenntnisse. Er blieb bei dem, was er den Polizisten bereits eingestanden hatte und bestritt vehement etwas mit dem Tod von Sabine Moos zu tun zu haben.
Dass er nach allem, was ihm widerfahren war, nicht gut auf die Getötete zu sprechen war, konnte zwar nicht hinweggedacht werden, doch ähnliche Motive hätten auch dem Ehemann sowie Anton Gröninger zur Seite gestellt werden können, sodass den Beamten nichts anderes übrig blieb, als Distler nach dem Verhör wieder laufen zu lassen.
Gegen 17:30 Uhr machten sie sich auf den Weg in die Berliner Straße, wo sie das Ehepaar Engelmann antrafen. Rainer Engelmann bat die Kommissare in die Wohnung und nachdem sie sich im Esszimmer am Tisch niedergelassen hatten, sagte Degenhart: „Wir wissen jetzt, wer der anonyme Anrufer war, der Sie beschuldigte. Sein Beweggrund war Rache. Können Sie sich denken, von wem ich spreche?“
Rainer Engelmann wich dem Blick des Hauptkommissars aus, er sah aus wie das personifizierte schlechte Gewissen. Der verständnislose Blick seiner Gattin sprang zwischen dem Beamten und ihm hin und her. „Gibt es vielleicht was, dass ich nicht weiß, dass ich aber wissen sollte?“, stieß sie hervor und jetzt starrte sie nur noch ihren Mann an.
„Es – es war nichts von Bedeutung“, murmelte Rainer Engelmann mit unsicherer Stimme. Unbehaglich zog er die Schultern an, fahrig strich er sich mit Daumen und Zeigefinger über das Kinn. „Sabine bat mich, ihr zu helfen, weil sie sich von einem lästigen Stalker verfolgt und bedroht fühlte.“
Das Gesicht der Frau schien sich zu überschatten, ihr Blick wurde durchdringend, sie fuhr ihren Mann an: „Warum weiß ich davon nichts? Wer war dieser angebliche Stalker? Und wieso bat Sabine ausgerechnet dich um Hilfe?“
„Es ist ohne Bedeutung“, murmelte Rainer Engelmann. „Der Kerl wohnte in Altenstadt in ihrer Nachbarschaft und begann nach ihrer Trennung von Bernhard die Sabine zu bedrängen. Er trieb sich in der Nähe unseres Hauses herum und beobachtete es. Sabine machte mich darauf aufmerksam und berichtete mir, dass er sie regelrecht auf Schritt und Tritt verfolgt. Ich hab dem Burschen dann ein paar Takte erzählt und ihm gedroht, die Polizei zu holen wenn er mit diesem Scheiß nicht aufhört.“
„Haben Sie nicht einiges vergessen?“, knurrte Oberkommissar Kutzer und musterte Rainer Engelmann befremdet.
„Na ja“, druckste Engelmann herum, „der Kerl wurde frech und ich habe ihn ein wenig geschüttelt. Und ich habe ihm angedroht, ihm eine Tracht Prügel zu verabreichen, wenn ich ihn noch einmal in der Nähe unseres Hauses erwische.“
Beschwörend, fast flehend schaute Rainer Engelmann abwechselnd die Kommissare an, als wollte er sie mit seinem Blick hypnotisieren. Es war deutlich, dass es ihm peinlich war, in Gegenwart seiner Gattin über den Vorfall zu sprechen. Hauptkommissar Degenhart fragte sich unwillkürlich, ob der Mann etwas zu verbergen hatte. Und er begann plötzlich einige Dinge nicht mehr auszuschließen. Er ergriff das Wort, indem er sagte: „Von Ralf Distler erhielten wir eine andere Version des Vorfalles geliefert. Danach haben Sie ihm in der Wohnung von Frau Moos aufgelauert, Frau Moos lockte ihn in die Wohnung und Sie haben in sich geschnappt. Sie haben ihn an den Haaren gepackt, seinen Kopf einige Male gegen den Fußboden geschlagen und ihm gedroht, dass Sie ihm die Zähne in den Hals schlagen, wenn ich sich noch einmal in der Umgebung Ihres Hauses herumtreibt. Frau Moos setzte noch einen drauf, indem sie ihm erklärte, dass er ein derart widerlicher Mensch sei, den sie nicht einmal mit einer Zange anfassen würde. Danach haben Sie ihn aus dem Haus gejagt und noch einmal gedroht, ihm die Zähne herauszuschlagen, sollte er sich noch einmal in der Berliner Straße sehen lassen. – So war es doch, Herr Engelmann, oder hat uns Ralf Distler Märchen erzählt?“
„Okay, okay, es stimmt. Es war genauso, wie Sie es eben geschildert haben, Herr Kommissar. Mir hat die Sabine leid getan, denn sie hatte sowieso schon eine Menge Ärger am Hals; Sie wissen schon: die bevorstehende Scheidung, die finanzielle Misere, die Tatsache, dass ihre beiden Kinder bei Bernhard waren ...“
Maria Engelmann kniff die Augen zusammen und schob das Kinn vor, sie wirkte plötzlich resolut und kriegerisch. „Wie weit ist denn dein Mitleid mit ihr gegangen? Jetzt werden mir auch die Blicke klar, die du immer wieder mit ihr gewechselt hast. Und ich weiß jetzt auch, warum du mich überredet hast, Sabine bei uns aufzunehmen. O mein Gott! Ich muss blind gewesen sein. Du hast was mit ihr gehabt und ich dumme Kuh war noch damit einverstanden, dass wir sie bei uns wohnen lassen. Niederträchtiger geht‘s wohl nicht mehr!“
Maria Engelmann funkelte ihren Mann an, und jeder Zug ihres Gesichts drückte Zorn, aber auch Enttäuschung aus.
Rainer Engelmann hob abwehrend die Hände und stammelte: „Du irrst dich, Maria. Ich hab Sabine nur helfen und vor dem Kerl beschützen wollen. Das war ungefähr eine Woche bevor sie verschwunden ist. Du bist, nachdem ich von der Arbeit nach Hause gekommen bin, noch zum Liedl gefahren, um ein paar Lebensmittel zu besorgen. Plötzlich klopfte es an der Wohnzimmertür und Sabine schaute herein. Sie war voll Angst, um nicht zu sagen verzweifelt, und hat mich um Hilfe gebeten. Ich konnte sie ihr einfach nicht verweigern, nachdem sie sowieso schon so arg gebeutelt war.“
„Sie sollten uns die Wahrheit sagen, Herr Engelmann“, mahnte Hauptkommissar Degenhart. „Morgen oder übermorgen werden wir die Ergebnisse der DNA-Analysen erhalten, und ich nehme an, dass Sie in der Zwischenzeit auch Besuch von unserer Kollegen hatten, die Ihnen sowohl die Fingerabdrücke als auch eine Speichelprobe abgenommen haben.“
Rainer Engelmann atmete tief durch, erhob sich mit einem Ruck, ging zum Fenster und starrte nach draußen. Er atmete hart und stoßweise durch die Nase und schien sich nicht entscheiden zu können ob er sprechen oder schweigen sollte.
Seiner Frau aber platzte plötzlich der Kragen und sie schrie hysterisch: „Sag endlich etwas! Gib es endlich zu, dass du etwas mit ihr gehabt hast! Du dreckiges Schwein hast mich mit ihr betrogen und ...“ Maria Engelmann begann plötzlich zu weinen, schlug die Hände vor das Gesicht und ließ ihren Gefühlen freien Lauf. Es war wie ein psychischer Kollaps. Ihr Körper wurde von den Weinkrämpfen regelrecht geschüttelt und die Kommissare wechselten betretene Blicke.
Hauptkommissar Degenhart erhob sich entschlossen, trat hinter die Frau und legte ihr eine Hand auf die zuckenden Schultern. „Bitte, Frau Engelmann, beruhigen Sie sich. Bis jetzt ist alles nicht erwiesen und vielleicht ...“
„Es ist wahr!“, presste Rainer Engelmann zwischen den Zähnen hervor und während er sprach, drehte er sich um. „Ich war einige Male oben und hab mit der Sabine im Bett gelegen. Es tut mir ausgesprochen leid, das musst du mir glauben, Maria. Aber ...“
„Darauf pfeife ich!“, fauchte die Frau, sprang wie von einer Tarantel gestochen auf und einen Augenblick lang sah es so aus, als wollte sie sich auf ihren Mann stürzen. „Ich lass mich von dir scheiden. Du kannst sagen was du willst, es gibt keine Entschuldigung dafür. Noch in dieser Stunde werde ich das Haus verlassen und mit dir verkehre ich nur noch über einen Rechtsanwalt.“
„Sabine – sie hat ...“
„Sei still!“, fuhr Maria Engelmann wie eine Furie ihren Gatten an, der den kläglichen Versuch unternehmen wollte, die Schuld für seine Seitensprünge der getöteten Sabine Moos zuzuschieben. Die Frau, die das sofort durchschaute, zischte: „Sabine hat! Wenn ich das schon höre! Willst du mir jetzt erzählen, dass du gar nichts dafür kannst, dass sie dich verführt hat wie einen Schulbuben, der nicht wusste, dass es zweierlei Geschlechter gibt. Wieso merke ich erst heute, was für einen miesen Charakter du besitzt? Gemeiner geht es ja schon gar nicht mehr. Die ganze Schuld auf eine Tote abzuwälzen ... Pfui Teufel!“
Rainer Engelmann zog den Kopf zwischen die Schultern, als hätte seine Frau mit einem Stock nach ihm geschlagen. Seine Mundwinkel zuckten, sein Kehlkopf rutschte unablässig hinauf und hinunter, weil er ununterbrochen schluckte, in seinem bleichen Gesicht zeigten sich hektische rote Flecken.
„Mich würde es auch gar nicht mehr wundern“, fuhr Maria Engelmann fort, und sie wirkte plötzlich seltsam ruhig, „wenn sich herausstellen würde, dass du die Sabine umgebracht und bei der Heiligen Staude abgelegt hast.“
„Du spinnst wohl!“, keuchte Rainer Engelmann. „Mein Gott, ich hab einen Fehler gemacht, als ich mich dazu verleiten ließ, mit ihr in die Kiste zu springen. Aber dass du mich jetzt auch verdächtigst, sie umgebracht zu haben, das ist schon ein Hammer. Traust du mir wirklich einen Mord zu?“
„Seit fünf Minuten setze ich die Beweggründe bei dir absolut niedrig an!“, giftete Maria Engelmann. „Du hast mich schamlos betrogen und belogen, und – ja, ich traue dir auch zu, dass du die Sabine umgebracht hast. Hat sie dich etwa erpresst? Hat sie gedroht, mir alles zu erzählen, wenn du nicht tust, was sie von dir verlangt? Oder ...“ Maria Engelmann wandte sich dem Hauptkommissar zu und sagte: „Man hat den Leichnam doch obduziert. Wurde vielleicht festgestellt, dass Sabine schwanger war?“
„Nein“, antwortete Degenhart, „eine Schwangerschaft wurde bei ihr nicht festgestellt.“ Der Hauptkommissar schaute Rainer Engelmann an. „Was sagen Sie dazu, Herr Engelmann? Hat Frau Moos Sie erpresst?“
„Was sollte sie von mir erpressen? Geld vielleicht? Sabine wusste, dass mir die Belastungen auf das Haus sowieso fast die Haare vom Kopf fressen.“
„Vielleicht suchte sie Sicherheit“, versetzte Degenhart. „Möglicherweise ging sie davon aus, dass Sie ihr diese Sicherheit bieten können. Sie besitzen ein schönes Haus, und scheinbar können Sie die Belastung dafür schultern, oder steht Ihre Existenz wegen des Hauses auf der Kippe?“
Jetzt mischte sich wieder Maria Engelmann ein, indem sie hervorstieß: „Sabine hat mir immer wieder vorgeschwärmt, wie schön sie es sich vorstelle, ein eigenes Haus und einen Garten zu besitzen und finanziell abgesichert zu leben. Das alles habe ihr Bernhard nicht bieten können, beklagte sie sich das eine um das andere Mal, und sie deutete auch an, dass sie mich wegen des Lebens, dass ich führen kann, beneide.“
„Sabine Moos hatte sie gewissermaßen in der Hand, Herr Engelmann“, hakte Hauptkommissar Degenhart sofort ein. „Vielleicht hat sie gedroht, für einen Eklat zu sorgen, wenn Sie sich nicht von Ihrer Frau trennen, um deren Platz für sie freizumachen.“
„Nun ja, die Sabine hat schon manchmal von einer gemeinsamen Zukunft gesprochen“, murmelte Rainer Engelmann geknickt. Er war nur noch ein jämmerlicher Haufen Elend. „Aber sie hat mich weder erpresst noch hat sie irgendwelche Drohungen ausgesprochen. Ich hab sie nämlich nicht im Unklaren darüber gelassen, dass ich meine Frau niemals ...“
„Das kannst du dir sparen!“, keifte Maria Engelmann gehässig, ging zur Tür und verließ den Raum. Krachend flog die Tür hinter ihr zu.
„Ihnen ist doch hoffentlich klar“, gab Hauptkommissar Degenhart zu verstehen, „dass Sie ziemlich in der Bredouille stecken. Nach allem, was Sie uns eben erzählt haben, entsteht zwangsläufig die Frage, ob Sie nicht doch etwas mit dem Tod von Frau Moos zu tun haben. Sie sollten sich nicht scheuen, uns endlich reinen Wein einzuschenken. Wie gestaltete sich Ihr Verhältnis mit Sabine Moos?“
Mit weichen Knien ging Rainer Engelmann zu dem Stuhl, auf dem er vorhin schon gesessen hatte, ließ sich so schwer darauf fallen, dass das Möbel ächzte, und starrte mit leerem Blick auf einen unbestimmten Punkt an der Wand. Dann sagte er: „Ich hab Sabine durch ihren Vater kennengelernt. Eines Tages traf ich sie zufällig in der Stadt und ich lud sie auf einen Kaffee ein. Irgendwie sind wir uns bei diesem ersten Beisammensein schon näher gekommen, und so verabredeten wir uns ein weiteres Mal. Als sich Sabine dann von ihrem Mann trennte, brachte ich meine Frau so weit, dass sie einverstanden war, dass wir Sabine bei uns aufnahmen.“
„Waren Frau Moos und Sie zu diesem Zeitpunkt schon einmal intim miteinander gewesen?“, erkundigte sich Oberkommissar Kutzer.
„Ja.“
„Frau Moos zog also bei Ihnen ein und das Schicksal nahm seinen Lauf“, murmelte der Hauptkommissar. „Nach allem, was wir bisher über Sabine Moos in Erfahrung gebracht haben, war sie sicher nicht damit zufrieden, lediglich die Geliebte in Ihrem Haus zu sein.“
„Das ist richtig“, murmelte Rainer Engelmann niedergeschlagen. „Sie forderte von mir, dass ich mich von Maria trenne. Sabine meinte, es ergäben sich keinerlei finanzielle Probleme, da Maria über eigenes Einkommen verfügt und daher keine Unterhaltsforderungen gegen mich geltend machen könne.“
„Wie haben Sie auf dieses Ansinnen reagiert?“
„Ich hab es tunlichst vermieden, mich festzulegen, habe Sabine immer mit ausweichenden Antworten abgespeist und sie von einer Woche auf die andere vertröstet.“
„Hatten Sie überhaupt jemals vor, Ihre Frau zu verlassen, um mit Sabine Moos zusammenzuleben?“
„Ich glaube nicht.“
„Sie glaubten? Sie waren sich also nicht sicher.“
„Sabine war eine begehrenswerte Frau, sie war ...“ Engelmann brach ab und räusperte sich. „Sie war jedoch nur eine Frau fürs Bett. Sie hat mir Dinge geboten, die ich von meiner Frau niemals bekommen habe, die ich von ihr aber auch niemals erwartet hätte.“
„Ich verstehe“, knurrte der Hauptkommissar. „Nachdem Sie sich nicht entscheiden konnten, hat Ihnen wohl Frau Moos gewissermaßen das Messer auf die Brust gesetzt und gedroht, Ihre Frau schonungslos einzuweihen und sie auf diese Weise zu veranlassen, sich von Ihnen zu trennen. Und Sie sahen keinen anderen Ausweg mehr, haben Sabine Moos umgebracht und im Wald an der B 22 abgelegt.“
„Nein!“, keuchte Rainer Engelmann. „Ich habe Sabine kein Haar gekrümmt.“