Gabriele Westiner schlief tief und traumlos. Doch sie vernahm Geräusche, zuerst ganz fern, aber sie wehten immer vehementer an ihr Gehör und wenn sie zunächst nur verworren und undefinierbar waren, so konnte sie sie jetzt unterscheiden. Sie vernahm Wimmern, Winseln, Heulen, Knirschen und hemmungsloses, klägliches Weinen. Die unterschiedlichen Laute drangen immer lauter auf sie ein und sie hatte irgendwann das Gefühl, dass ihr der Kopf zerplatzen müsse.
Zu sehen war nichts. Lediglich die Dunkelheit, diese mit dem Blick nicht zu durchdringende Finsternis, die sie einhüllte, begann sich zu lichten und am Ende war es nur noch ein zwielichtiges Grau, das sich von einem Horizont zum anderen spanne.
Die jämmerlichen Geräusche sickerten von allen Seiten heran und schienen über ihr zusammenzuschlagen wie vernichtende Brandungswellen, und plötzlich erhob sich eine grollende Stimme, die alles andere übertönte: „Du bist Hekate Antala, die Beherrscherin der Nacht, die Begegnerin, die in den Nächten den ihr Begegnenden Verderben bringt. Und du bist die Auserwählte. Du wirst in deinem Haar Schlangen tragen und heulende Hunde werden dich umgeben. Und du wirst Mutter sein - die Mutter desjenigen, der eines Tages die Welt beherrschen wird, nach dem Chaos, wenn das Universum in sich zusammenfällt und die Toten auferstanden sind. Denn er ist der Messias, der Retter und Friedensbringer in der Zeit nach der Apokalypse.“
Die letzten Worte verhallten wie fernes Donnergrollen. Gabriele lauschte ihnen hinterher, versuchte das Gehörte zu verarbeiten, und der Name Hekate brannte sich in ihr Bewusstsein ein wie mit glühenden Zangen. Und nicht nur der Name.
Das Wimmern, Stöhnen, Jammern und Klagen um sie herum schwoll an, flaute wieder ab wie ein Sturm, der seine elementare Kraft verliert, um erneut anzuschwellen wie ein höllischer Choral.
„Wer bist du?“ rief Gabriele und ihre Stimme versank im Lärm. „Warum zeigst du dich mir nicht? Mein Name ist Gabriele. Ich bin nicht Hekate.“
Der infernalische Lärm verebbte, die grollende Stimme antwortete: „Sie lebt in dir fort. Und du bist die Auserwählte. Du wirst einen Sohn gebären - du wirst die Mutter des Retters und Friedenbringers. Es ist Vorsehung, es ist dein Schicksal. Du wirst seine Mutter.“
Die Stimme hatte zuletzt an Lautstärke zugenommen und schien plötzlich von allen Seiten zu erschallen, die Worte drangen auf Gabriele ein, sie wurden von geisterhaften Echos vervielfältigt und verzerrt, bis sie schließlich mit gespenstischem Geraune verklangen.
Und das Gewirr aus den unterschiedlichsten kreatürlichen Lauten nahm wieder an Vehemenz zu. Es war, als meldeten sich die alten, längst verklungenen Stimmen dieser unheimlichen Gegend, die kaum etwas gemein hatte mit der Welt der Lebenden, wie sie Gabriele kannte. Die unendliche Weite, die sich im grauen Zwielicht vor Gabrieles Blick erstreckte, blieb leer. Die junge Frau erwartete den Greis, aber sie wartete vergeblich.
Seltsamerweise empfand sie keine Angst.
Und dann versank auch das Bild wieder, die Geräusche wurden leiser und leiser, als entfernten sie sich, waren bald nur noch ganz fern als gleichbleibendes, monotones Summen zu vernehmen, um schließlich zu enden.
Als Gabriele erwachte, dämmerte der Tag. Sie hörte die Vögel, die mit jubilierendem Gezwitscher den Sonnenaufgang ankündigten, und sie schleuderte die Bettdecke von sich, richtete sich auf, schwang die Beine aus dem Bett und fühlte sich wie gerädert.
Nun saß sie auf der Bettkante und starrte auf einen unbestimmten Punkt an der Wand. Herbert schnarchte leise und monoton. Normalerweise hätte sie dies gestört, aber sie war gedanklich derart mit ihrem Traum beschäftigt, dass es nicht einmal den Rand ihres Bewusstseins erreichte.
Hekate Antala!
Beherrscherin der Nacht!
Begegnerin!
Messias!
Die Worte brüllten wie klirrendes Eisen durch ihren Verstand, und sie spürte das fast schmerzliche Unbehagen und die lähmende Beklemmung, die wie Fieberschauer durch ihre Blutbahnen pulsierten und die jähe Angst, die wie ein hysterischer Schrei in ihr aufstieg, nährten.
Plötzlich riss hinter ihr das Schnarchen ab und Herberts schlaftrunkene Stimme erklang: „Was ist los? Ist es schon wieder Zeit, aufzustehen? O verdammt, ich hab das Gefühl, eben erst eingeschlafen zu sein.“
„Es ist 4 Uhr vorbei“, versetzte Gabriele nach einem Blick auf den Radiowecker. „Du kannst dich noch einmal umdrehen.“
„Was ist mit dir? Warum sitzt du auf der Bettkante? Kannst du nicht schlafen?“
„Hast du schon einmal den Namen Hekate gehört? Hekate Antala.“
„Du hast den Namen einmal erwähnt, zumindest klang er so ähnlich. Du hast ihn im Zusammenhang mit deinem Albtraum ausgesprochen. Was ist damit?“ Herberts Stimme hob sich etwas. „Hast du etwa wieder geträumt?“ Er stemmte sich auf die Ellenbogen hoch und starrte auf Gabrieles schmalen Rücken, auf dem eine Flut leicht gewellter Haare lag, die die Farbe von reifem Weizen hatten.
Sekundenlang dachte sie darüber nach, ob sie die Frage bejahen sollte, doch dann entschloss sie sich, ihm nichts von dem traumatischen Erlebnis von eben zu erzählen, sondern sagte lediglich: „Ich hab nicht schlafen können und mir sind viele Gedanken durch den Kopf gezogen. Und plötzlich fiel mir der genaue Wortlaut des Namens wieder ein, den der Alte in dem Traum erwähnt hatte.“
Herbert brummte irgendetwas vor sich hin, Gabriele aber stand auf und ging in die Küche, nahm eine angebrochene Tüte Orangensaft aus dem Kühlschrank, schenkte sich ein Glas voll und trank es in kleinen Schlucken leer.
Sie glaubte plötzlich nicht mehr an einen Traum und fragte sich, was um sie herum vor sich ging. In der vorherigen Nacht erhielt sie die Warnung, soeben eine Prophezeiung. Beides musste miteinander verknüpft werden. Hatte sie eine Vision? Jedes Mal war die Rede davon, dass sie einen Sohn gebären werde, und Herbert sollte nicht der Erzeuger sein.
Fragen begannen auf die junge Frau, die plötzlich voller Ängste und Zweifel war, einzustürmen. Sie setzte sich an den Computer, fuhr ihn hoch und suchte nach Eintragungen bezüglich des Namens Hekate. Sehr schnell wurde sie fündig und las:
Hekate, eine ursprünglich aus Kleinasien (Karien) stammende Göttin der griechischen Mythologie ... Sie ist eine chthonische Gottheit und Herrin alles nächtlichen Unwesens, auch des Zaubers. Auf eine gespenstische Funktion weist ihr Beiname Antala (Begegnerin) hin; auf ihrer nächtlichen Jagd konnte sie den ihr Begegnenden Verderben bringen. Sie hat Schlangen im Haar, trägt eine Fackel und ist von heulenden Hunden umgeben ...
Die Stimme hatte all die Besonderheiten erwähnt, die diese Göttin oder Dämonin aufzuweisen hatte; sie bringt denen, die ihr begegnen, Verderben, sie hat Schlangen im Haar und ist von heulenden Hunden umgeben.
Es konnte sich also nicht um eine Projektion ihres Unterbewusstseins handeln - denn sie hatte in ihrem ganzen bisherigen Leben nie etwas von Hekate und deren besonderen Merkmalen gehört.
Und ausgerechnet in ihr sollte diese Gottheit weiterexistieren. Handelte es sich um Reinkarnation, oder war sie lediglich ein Gastkörper, oder ...
Ihr wurde es schwindlig. Das alles überstieg ihr Begriffsvermögen.