Uwe Schimon erschien tatsächlich nach etwas mehr als zwanzig Minuten. Die beiden Polizisten nahmen ihn auf dem Korridor in Empfang. Nachdem sie sich gegenseitig vorgestellt hatten, fragte der Jurist: „Weshalb wird meine Mandantin vernommen? Wird Sie irgendeines Vergehens oder gar Verbrechens verdächtigt?“
„Wir ermitteln nach wie vor wegen des - hm, Unglücksfalls, der ihrem Gatten das Leben kostete. Außerdem starb vergangene Nacht der Vater Ihrer Mandantin an einem Herzinfarkt. Unmittelbar vor seinem Ableben rief er ihren Namen. Als wir vorhin mit Frau Ackermann sprachen, räumte sie ein, just in der vergangenen Nacht von ihrem Vater geträumt zu haben.“
„Als der Gatte meiner Mandantin starb, befand sie sich nachweislich in dem Raum, in dem die Hochzeitsfeierlichkeit stattfand“, versetzte Schimon sachlich, fast kühl. „Und in der vergangenen Nacht war sie hier im psychiatrischen Krankenhaus. Unabhängig davon ist kaum anzunehmen, dass sie einen Herzinfarkt auslösen könnte.“ Schimon zeigte ein spöttisches Lächeln, an dem seine blaugrauen Augen, die in einem scharfen Kontrast zu seinen fast schwarzen Haaren standen, allerdings nicht beteiligt waren. Ihr unergründlicher Blick war auf Dieter Schuhbauer gerichtet, und dieser hatte das Gefühl, als würde er unter seine Hirnschale dringen und seine geheimsten Gedanken ergründen.
Der Hauptkommissar verspürte Unbehagen. Und zum zweiten Mal innerhalb einer halben Stunde regte sich etwas in ihm, das er nicht analysieren konnte, das in ihm aber ein wühlendes Gefühl von Furcht erzeugte, die sich nicht unterdrücken ließ. Unwillkürlich fragte er sich, ob er vielleicht schon senil wurde. Denn in all den Jahren bei der Polizei, in denen er Höhen und Tiefen durchmachte, in denen er abgebrüht, hartgesotten und vielleicht sogar respektlos geworden war, hatte er es verlernt, Menschen zu scheuen oder gar zu fürchten. Diese Gabriele Ackermann aber, und auch ihr Rechtsanwalt, riefen in ihm Gefühle wach, die er seit langem nicht mehr kannte, und das gab Anlass, sich Gedanken zu machen. Er sagte etwas heiser:
„Als wir im Krankenhaus mit Ihrer Mandantin sprachen, äußerte sie seltsame Dinge. Sie sprach von einer Erscheinung, die aus dem Nichts kam und ihr den Tod ihres Mannes prophezeite. Die Rede war auch von dem Kind, das sie in sich trägt. Sie erging sich in seltsamen Andeutungen ...“
„So, welcher Art waren denn diese Andeutungen?“ Ein lauernder Ausdruck war in die Augen des Rechtsanwalts getreten.
„Sie sprach davon, dass sie aus dem Rampenlicht der Öffentlichkeit verschwinden solle, damit sie mit der Schwangerschaft kein Aufsehen errege. Immer wieder sprach sie von seinem Kind - nannte aber keinen Namen. Vorhin aber behauptete sie, vom Satan persönlich geschwängert worden zu sein und dass das Kind in ihr der Antichrist sei.“
Die linke Braue Uwe Schimons hob sich, es verlieh seinem Gesicht einen arroganten Ausdruck. „Meine Mandantin war ein wenig überfordert in letzter Zeit“, erklärte er. „Der Hochzeitsstress, der Tod ihres Mannes, ihr Zusammenbruch, die Einweisung in die Nervenklinik, nun starb zu allem Überfluss auch noch ihr Vater. Irgendwann spielt die Psyche nicht mehr mit. Nun ja, Frau Ackermann ist trotz allem nicht als geisteskrank einzustufen. Der einstweiligen Anordnung habe ich widersprochen. Vom Gericht habe ich Rückmeldung erhalten; danach wird noch einmal eine Anhörung stattfinden, ein unparteiischer Arzt wird ein Gutachten erstellen, und dann ...“
Schimon hob die Hände und ließ sie wieder sinken, was wohl zum Ausdruck bringen sollte, dass der Rest offen sei.
„Gehen wir hinein“, schlug Oberkommissar Söllner vor. „Vielleicht hat der Beelzebub, der sie geschwängert hat, einen Namen und eine Adresse auf unserer Welt, die sie uns gegebenenfalls verrät.“
Das höhnische Grinsen, das Schimons Mund in die Breite zog, entging sowohl Söllner auch seinem Kollegen Schuhbauer. Der Oberkommissar klinkte die Tür auf, nacheinander betraten die drei Männer den Raum, Gabriele saß mit hoch aufgerichtetem Oberkörper am Tisch und hatte nur Augen für Uwe Schimon. Der ging sofort zu ihr hin, gab ihr die Hand und sagte: „Machen Sie sich keine Sorgen, Frau Ackermann. Es ist nur eine Routinebefragung. Und ich werde mit Argusaugen darüber wachen, dass Ihnen diese beiden Herren von der Kripo keinen Strick drehen.“
„Was soll das?“, blaffte Schuhbauer. „Hört sich verdammt noch mal nach Unterstellung an.“
„War nicht so gemeint“, erwiderte der Rechtsanwalt, und wieder umspielte das zynische Lächeln seinen Mund. „Entschuldigen Sie.“
Er setzte sich neben Gabriele an den Tisch, und nachdem sich auch die Beamten niedergelassen hatte, begann Dieter Schuhbauer, indem er fordernd sagte: „Nennen Sie uns den Namen des Vaters Ihres Kindes, Frau Ackermann! Nach allem müssen wir davon ausgehen, dass es nicht Herbert Ackermann war.“
„Woher haben Sie diese Weisheit?“, fragte der Rechtsanwalt und enthob damit Gabriele einer Antwort.
„Aus den Andeutungen Ihrer Mandantin. Sie sprach immer nur von ihm und von seinem Kind, nie aber davon, dass der biologische Vater der ihr an seinem Todestag angetraute Herbert Ackermann sei.“
„Was konstruieren Sie daraus?“
„Dass sie Herbert Ackermann mit einem anderen Mann betrogen hat“, antwortete an Stelle des Hauptkommissars der Oberkommissar mit metallisch klingender Stimme. „Und dass sie die Ehe mit Herbert Ackermann gar nicht mehr eingehen wollte, sie sich aber scheute - aus welchem Grund auch immer -, sie so kurz vor dem Termin abzusagen. Also beschloss sie im Einvernehmen mit ihrem Geliebten, sich auf andere Art und Weise von dieser Ehe, von Herbert Ackermann also, zu befreien.“
„Ein Mann wurde zusammen mit Herbert Ackermann auf der Treppe gesehen“, mischte sich nun wieder der Hauptkommissar ein. „Er verschwand unmittelbar nach Ackermanns Absturz spurlos.“
„Ah, er hat sich in Luft aufgelöst“, bemerkte Schimon spöttisch. „Vielleicht hat doch der Satan die Hand im Spiel. Aber in der Hölle zu ermitteln wird sicherlich eine Menge Probleme mit sich bringen. Sie wissen sicher, was ich meine.“
Schuhbauer winkte ab. „Vergessen Sie bitte nicht, Herr Rechtsanwalt, dass wir es möglicherweise mit einem Mord zu tun haben - einem kaltblütigen Mord aus niedrigen Beweggründen.“
„Das ist ziemlich abenteuerlich, was Sie da von sich gegeben haben“, erklärte Schimon. „Denken Sie nicht, dass mit Ihnen die Phantasie durchgeht? Gibt es auch nur ansatzweise einen Beweis für ihren Verdacht?“
Der Rechtsanwalt wandte sich an seine Mandantin: „Okay, Frau Ackermann. Ich frage Sie jetzt, und ich bitte Sie um wahrheitsgemäße Beantwortung meiner Frage: Haben Sie - seit Sie Herbert Ackermann kannten -, mit einem anderen Mann als ihm geschlafen?“
„Nein.“
„Reicht Ihnen diese Antwort, Herr Kommissar?“, fragte Schimon.
„Für das Erste muss sie mir wohl reichen“, erklärte der Polizist. „Aber ich glaube Ihrer Mandantin nicht. Mein Bauchgefühl, auf das ich mich schon oft verlassen habe und das mich selten im Stich gelassen hat, sagt mir, dass sie lügt.“ Der Hauptkommissar stemmte sich am Tisch in die Höhe. „Ich sehe es als Herausforderung an, und darum werde ich nicht ruhen, bis ich die Wahrheit an den Tag gebracht habe. - Harald, hast du noch Fragen?“
„Im Moment - nein.“
„Gut, dann gehen wir. Aber - wir kommen sicherlich wieder.“
„Dann sollten Sie auf keinen Fall versäumen, mich beizuziehen“, mahnte Schimon hintergründig lächelnd. Als er mit Gabriele allein war, erhob er sich, ging halb um den Tisch herum, stützte sich ihr gegenüber mit beiden Armen auf der Tischplatte ab, sein Lächeln war wie weggewischt, er stieß hervor: „Sobald die einstweilige Anordnung aufgehoben ist, bringe ich Sie in Sicherheit. Diese beiden Narren brauchen einen Erfolg, und die werden Sie ohne zu zögern wie einen Hammel zur Schlachtbank führen.“
Sekundenlang starrte Gabriele in die Augen ihres Gegenübers, es war ein stummes Duell, das nur der mit den stärkeren Nerven für sich entscheiden konnte, und das war schließlich Uwe Schimon. Als Gabrieles Blick abirrte, grinste er triumphierend. „Wer sind Sie wirklich?“, fragte die junge Frau.
„Ich denke, ich habe mich Ihnen vorgestellt“, antwortete der Jurist, ohne dass sich das selbstgefällige Grinsen um seinen Mund verlor. Es verlieh seinem Gesicht etwas Unsympathisches.
„Die Betonung lag auf wirklich“, stieß Gabriele hervor. „Sie sind der Vater meines Kindes, nicht wahr? Aber nicht in Ihrer Rolle als Rechtsanwalt Uwe Schimon. Die Begegnung in dem U-Bahn-Schacht war doch kein Zufall. Dahinter steckte meiner Meinung nach System.“
„Sie irren sich. Es ist alles in Ordnung, so, wie es ist. Im Übrigen möchte ich nicht versäumen, Ihnen meine aufrichtige Anteilnahme zum Tod Ihres Vaters auszudrücken. Vor derartigen Schicksalsschlägen ist niemand gefeit. Ach ja - die Staatsanwaltschaft hat den Leichnam Ihres Gatten zur Bestattung freigegeben. Todesursache war ein Genickbruch. Er hatte etwas Alkohol im Blut, eins Komma zwei Promille. Wenn nicht dieser Fremde zufällig zur gleichen Zeit auf der Treppe gesehen worden wäre, auf der Ihr Mann stürzte, würde der Staatsanwalt ein Fremdverschulden ausschließen. So aber ...“
„Der Mann waren Sie“, brach es über Gabrieles Lippen. „Und Sie - sind das personifizierte Böse, Sie sind der Satan, und Sie haben in jener Nacht, in der Sie mich schwängerten, aus der Hölle zu mir gesprochen. Warum bin ich diejenige, die Sie für Ihren Schachzug gegen das Gute auf der Welt auserkoren haben? Warum wurde ich dazu ausgewählt, diese höllische Brut unter meinem Herzen auszutragen und zu helfen, Unglück über die Menschheit zu bringen?“
„Du solltest nicht soviel nachdenken, Hekate Antala“, stieß Uwe Schimon hervor und die Glätte in seinen Zügen brach, seine Haut nahm eine dunkle Färbung an, der Mund verzerrte sich, das markante männliche Gesicht des Rechtsanwalts verwandelte sich in eine dämonische Fratze. Gabriele sah die blutunterlaufenen Augen auf sich gerichtet und spürte, wie sie jeglichen Willen verlor. „Lass den Dingen ihren Lauf, Hekate Antala“, sagte Schimon, der diese Metamorphose durchgemacht und sich als höllische Kreatur entpuppt hatte. „Uns alle leitet die Vorsehung. Sie will, dass unser Sohn nach dem Chaos die Welt beherrscht. Sich dagegen zu sträuben ist sinnlos. Es kommt, wie es kommen muss.“