Die Kommissare erwirkten einen Durchsuchungsbeschluss und fuhren damit zur Wohnung Schimons. Wie erwartet war niemand zu Hause und so war der Angestellte des Schlüsseldienstes, den sie vorsorglich mitgebracht hatten, gefordert. Dem kostete es ein Lächeln, die Wohnungstür zu öffnen, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen.
Die beiden Beamten betraten die Wohnung. Die Luft war abgestanden, hier war seit mehreren Tagen nicht mehr gelüftet worden. In jedem der Räume herrschte peinliche Ordnung und Sauberkeit. Der Oberkommissar öffnete den Kleiderschrank im Schlafzimmer. Jacken, Strickwesten und drei Mäntel waren in Reih und Glied an Bügeln aufgehängt, lediglich eine schmale Lücke zeigte an, dass der Rechtsanwalt die Jacke trug, die er hier aus dem Schrank genommen hatte. Auf dem Boden des Schranks stand eine Reisetasche. Hemden und Pullover waren akkurat zusammengelegt und füllten die Fächer des Schranks.
Im Bad stand die elektrische Zahnbürste auf einer Ablage über dem Waschbecken, da lagen und standen auch ein Rasierapparat, eine Tube mit Zahnpasta, eine Flasche mit Lotion und eine andere mit Mundwasser.
Nachdem sie sich von der ganzen Wohnung einen Eindruck verschafft hatten, sagte Hauptkommissar Schuhbauer: „Sieht ganz und gar nicht so aus, als hätte sich Schimon für eine längere Abwesenheit von seiner Wohnung mit Klamotten und Hygieneartikeln eingedeckt.“
„Du bist also der Ansicht, dass er irgendwann wieder auftaucht“, resümierte der Oberkommissar, wiegte skeptisch den Kopf und ergänzte: „Vielleicht ist das auch Taktik. Womöglich will er, dass wir denken, dass er nur vorübergehend abwesend ist. Sicherlich hat er auch genug Geld, um sich alles, was er braucht, neu anzuschaffen. Letzteres halte ich für sehr wahrscheinlich.“
„Nun, die Fahndung nach ihm und Gabriele Ackermann läuft auf Hochtouren. Das Land können Sie auf keinen Fall verlassen. Sie können sich vielleicht eine Weile verstecken, aber irgendwann müssen sie herauskommen aus ihrem Versteck, und dann ist es nur eine Frage der Zeit ...“
„Ist dir auch aufgefallen, dass in der Küche über der Tür einmal ein Kruzifix gehangen haben muss?“, fragte Söllner. „Man kann die Konturen deutlich erkennen. Schimon ist, als er in unsere Stadt kam, in die Wohnung eingezogen, ohne sie zu streichen. Dort, wo das Kreuz gehangen hat, ist die Farbe heller.“
„Der Vormieter wird ein christlicher Mann oder eine christliche Frau gewesen sein“, versetzte der Hauptkommissar. „Dass Schimon fast einen Tobsuchtsanfall bekam, als seine Sekretärin ein Kreuz in der Kanzlei aufhängen wollte, gibt dir wohl zu denken?“
„Ja, es regt zum Nachdenken an“, gab Söllner zu. „Man kann zum christlichen Glauben eingestellt sein wie man will - aber wegen eines Kreuzes bekommt man doch keinen Hysterieanfall.“ Der Oberkommissar zuckte mit den Achseln. „Ich muss aufpassen, dass ich nicht ins selbe Fahrwasser wie du gerate.“ Mit einem sarkastischen Grinsen um die Lippen endete er: „Sonst landen wir womöglich beide im Irrenhaus.“
„Du kannst es ruhig zugeben, wenn dir die Sache mittlerweile ebenso suspekt vorkommt wie mir“, brummte der Hauptkommissar. „Aber beenden wir diese Diskussion, denn sie führt zu keinem Ergebnis. Vermutungen nützen uns herzlich wenig, wir brauchen Fakten. Fakt ist, dass diese Wohnung den Eindruck vermittelt, dass Schimon früher oder später zurückkehrt. Wobei ich mir vorstellen kann, dass er sich heimlich alles das aus der Wohnung holt, was er braucht, um danach unterzutauchen.“
„Wir observieren die Wohnung also“, stellte der Oberkommissar fest.
„Haben wir eine andere Chance?“
„Einverstanden. Fahren wir zur Wohnung von Gabriele Ackermann.“
Der Bedienstete des Schlüsseldienstes schloss die Wohnungstür wieder ab.
Auch zur Wohnung Gabriele Ackermanns mussten sich die Beamten Zutritt verschaffen. Und allem Anschein nach war diese Wohnung auch nicht mehr besucht worden, seit sie Herbert Ackermann und Gabriele Westiner verlassen hatten, um sich das so verhängnisvolle Ja-Wort zu geben.
„Schimon wird wissen, dass wir ihm in der Zwischenzeit auf die Schliche gekommen sind“, knurrte der Hauptkommissar, als sie wieder im Dienstwagen saßen und sie sein Kollege Söllner zurück zur Polizeiinspektion chauffierte. „Ich frage mich, was die beiden bezwecken. Das ist doch alles von langer Hand vorbereitet, und die Vorbereitungen begannen zu einer Zeit, als Gabriele Westiner noch nicht geschwängert war. Irgendwo beißt sich die Katze in den Schwanz. Wenn sich Gabriele Westiner - jetzt Ackermann - in Schimon verknallt hat, hätte sie doch nur das Verlöbnis mit Herbert Ackermann auflösen müssen, um frei zu sein für Schimon.“
„Und warum hat er diese - ich möchte fast sagen konspirative Rechtsanwaltskanzlei eingerichtet?“, fragte Oberkommissar Söllner.
„Frag mich was Leichteres, verdammt!“, platzte es ungeduldig aus Schuhbauer heraus. „Dieser Fall fängt an, mir schlaflose Nächte zu bereiten. Mir stellen sich mittlerweile tausend Fragen, und auf keine einzige finde ich eine Antwort. Alles, was ich mir zusammenreime, ergibt keinen Sinn. Es ist zum Haare ausraufen. Und ich fange mehr und mehr an zu glauben, dass Schimon - falls das überhaupt sein richtiger Name ist - etwas teuflisches im Schilde führt. Allerdings hat er gravierende Fehler begangen; sein größter Fehler war, unter Vorlage eines gefälschten Gerichtsbeschlusses Gabriele Ackermann aus der Psychiatrischen Klinik zu holen.“
„Er hat sicher nicht damit gerechnet, dass wir uns an die Anwaltskammer wenden“, warf Söllner hin.
„Ich fühle mich von diesem aalglatten Burschen herausgefordert“, grollte Hauptkommissar Schuhbauer. „Und ich nehme die Herausforderung an. Mal sehen, wer den längeren Atem hat - Uwe Schimon oder ich.“
„Ich glaube, wir dürfen diesen Halunken nicht unterschätzen“, gab Söllner zu bedenken. „Seine Sorte ist unberechenbar und gefährlich.“
Nach Absprache mit ihrem Vorgesetzten teilten sich die Kommissare ihre Dienstzeit derart ein, dass sie tagsüber frei hatten und erst am Abend, wenn die Dunkelheit den Tag vertrieben hatte, Dienst versahen - Dienst, der sich darin erschöpfte, dass sie die Wohnung des Rechtsanwalts beobachteten.
Und ihre Taktik war von Erfolg gekrönt. Gegen drei Uhr in der zweiten Nacht ihrer Observierung fuhr in der Nähe der Wohnung ein Auto an den Rand der Fahrbahn heran - es handelte sich um einen großen Audi -, die Scheinwerfer erloschen und ein Mann stieg aus. Er marschierte auf dem Gehsteig näher, tauchte in das Licht, das eine Straßenlaterne auf den Boden warf, seine Gestalt warf einen kurzen Schatten, und sein Gesicht war für einen Moment zu erkennen.
„Er ist es“, zischte Oberkommissar Söllner.
„Ohne Zweifel“, pflichtete ihm der Hauptkommissar bei. „Lassen wir ihn gewähren. Und dann folgen wir ihm. Ich bin mir sicher, dass er uns zu dem Versteck führt, in dem er und Gabriele Ackermann sich verkrochen haben.“
Uwe Schimon betrat das Gebäude, in dem sich seine Wohnung befand, und kurz darauf ging hinter einem der Fenster eben dieser Wohnung Licht an. Gleich darauf sauste die Jalousie nach unten.
Die Geduld der beiden Beamten wurde auf keine allzu lange Probe gestellt, denn nach etwa zehn Minuten schon trat Schimon wieder ins Freie, in der rechten Hand trug er die Reisetasche, die in seinem Kleiderschrank gestanden hatte. Jetzt war sie prall gefüllt. Er ging fast hastig zu seinem Auto, warf die Reisetasche auf den Rücksitz und klemmte sich hinter das Steuer. Der Motor sprang an, die Scheinwerfer leuchteten auf, das Fahrzeug rollte vom Gehsteig weg und wurde beschleunigt, fuhr an den beiden Beamten vorbei und sie sahen nur noch die rotglühenden Rücklichter.
„Okay, Kollege, zeig was du kannst“, knurrte der Hauptkommissar ohne die Spur von Humor im Tonfall. „Ich meine damit, dass du ihm folgen sollst, er dies aber nicht bemerken darf.“
„Ich hab mir das schon fast gedacht“, versetzte Söllner ebenso humorlos, mit geradezu galliger Stimme, startete den Motor und fuhr an, ohne die Scheinwerfer einzuschalten. Erst, als der Audi weit vor ihm nach rechts in eine Seitenstraße abbog, machte er das Abblendlicht an.
Um diese Zeit war auf den Straßen fast nichts mehr los. Selbst die Hauptverkehrsstraßen muteten an wie leergefegt. Die Menschen schliefen, die ungezählten Leuchtreklamen jedoch und die Straßenlaternen hüllten die ganze Stadt in ein diffuses Licht, das sogar den Himmel darüber färbte und den Anschein erweckte, die Stadt läge unter einer rötlichen Kuppel.
Harald Söllner lenkte den Dienstwagen in die Seitenstraße und sie konnten wieder die Rücklichter des Audi sehen. Schimon hielt sich akribisch an die vorgeschriebene Geschwindigkeit. Er verließ die Stadt und fuhr schneller. Söllner ließ sich weit zurückfallen. Hin und wieder schaltete er sogar die Scheinwerfer aus, und der Fahrer in dem weit vor ihnen fahrenden Fahrzeug musste annehmen, dass der Wagen hinter ihm von der Landstraße abgefahren war. Immer, wenn der Audi wegen einer Kurve hinter Strauchwerk verschwand oder wenn sich die Straße durch bewaldetes Gebiet schlängelte, schaltete Söllner das Licht wieder ein und er konnte schneller fahren und wieder etwas aufholen.
Nichtsdestotrotz! Hauptkommissar Schuhbauer hegte die Befürchtung, dass all diese Manöver vergeblich waren und dass Schimon längst klar war, dass er verfolgt wurde. Er biss die Zähne zusammen, dass es schmerzte, schwieg aber, weil ihm die Anspannung die Lippen regelrecht versiegelte.
Wieder einmal verschwand der Audi aus ihrem Blickfeld, als sich die Straße in einen Wald bohrte und wahrscheinlich eine Kurve machte. Söllner gab etwas mehr Gas. Als sie durch die Kurve waren, war - der Audi nicht mehr zu sehen. Söllner fuhr noch ein Stück, dann bremste er ab. Das Abblendlicht holte vor den Blicken der Polizisten etwa die nächsten dreißig Meter aus der Finsternis, die zwischen den Bäumen besonders dicht und mit dem Blick kaum zu durchdringen war.
„Blend mal auf“, forderte der Hauptkommissar.
Ein Griff des Oberkommissars und die grellen Lichtfinger huschten über den Asphalt, bis sie nach hundert oder hundertzwanzig Metern in der Finsternis versanken.
Nichts!
Der Audi war verschwunden, als hätte ihn die Nacht geschluckt.
„Hast du eine Seitenstraße gesehen, in die er gegebenenfalls abgebogen ist?“, fragte Söllner.
„Nö. Und in den Wald wird er ja nicht hineingefahren sein.“
„Wo ist er dann?“
„Das weiß der Henker. Du kannst das Licht ausmachen. Verdammt und zugenäht! Der elende Halunke hat uns bemerkt. Und wir waren so nah dran.“ Es klang ausgesprochen enttäuscht.
„Es gibt hier viel Buschwerk am Waldrand, und sicher führt der eine oder andere Forstweg zwischen die Bäume. Vielleicht gibt es einen Rastplatz, den wir von hier aus nicht sehen können.“ Söllner klatschte beide Hände auf das Lenkrad. „Ich bin dafür, dass wir langsam weiterfahren. Weit kann er ja nicht sein. Und in Luft kann er sich auch nicht aufgelöst haben. Was meinst du?“
„Ich geb dir recht. Fahren wir also weiter.“