Es hatte außerhalb von Bergesfelden auf der Landstraße einen schweren Verkehrsunfall gegeben. Ein junger Mann war verunglückt. Er war mit seinem Sportwagen zu schnell in die Kurve gegangen und hinausgeflogen.
Vielleicht wäre die Sache glimpflich abgegangen, wenn da nicht ein großer alter Baum gewesen wäre. Er wurde dem jungen Autofahrer zum Verhängnis.
Ein Glück, dass er allein im Wagen gesessen hatte und angegurtet gewesen war. Der Beifahrer hätte den schrecklichen Aufprall nämlich nicht überlebt, wie man Dr. Richard Berends sagte.
Es war eine Notoperation an dem jungen, knapp neunzehnjährigen Autofahrer erforderlich, und da wieder einmal nicht genügend Personal vorhanden war, und außerdem ein Chirurg mit größtmöglicher Erfahrung gebraucht wurde, rief man den Leiter der Wiesen-Klinik an und bat ihn, so schnell wie möglich zu kommen.
Zwei Stunden kämpfte Dr. Berends mit seinem Team um das Leben des jungen Patienten. Zwei Stunden härtestes Ringen, vollste Konzentration.
Die geringste Unachtsamkeit hätte verheerende Folgen haben können, doch Dr. Berends bewies wieder einmal, dass er der beste Mann in der Wiesen-Klinik war, und dass er Nerven wie Stahlseile hatte.
Die Ruhe, die von ihm ausging, war ansteckend. Operationsschwester Thea tupfte dem Chefarzt die glitzernden Schweißtropfen von der Stirn.
Sie bewunderte diesen Mann. Er arbeitete schweigsam und zielstrebig. Jede Handbewegung saß. Da war keine Bewegung zu viel. Dr. Berends wusste haargenau, was zu tun war.
Ernst und verbissen wie immer arbeitete er. Seine Wünsche und Anordnungen kamen knapp und präzise durch die grüne Gesichtsmaske. Er sprach nie ein Wort zu viel, aber auch nie eines zu wenig.
Und er gewann schließlich auch diesen Kampf. Ein weiterer Erfolg gesellte sich zu den vielen ändern, die der gutaussehende Chirurg bereits errungen hatte.
Dr. Jürgen Büttner hatte assistiert, und als klar war, dass der junge Patient am Leben bleiben würde, sagte er erleichtert: „Ich möchte Ihnen zu dieser hervorragenden chirurgischen Leistung gratulieren, Herr Chefarzt.“
„Ich hätte sie ohne Hilfe nicht geschafft. Wir können uns alle gratulieren, es wieder einmal geschafft zu haben“, sagte Dr. Berends bescheiden. Er wandte sich an die Operationsschwester. „Bringen Sie den Patienten in den Vorraum, Schwester Thea.“
„Sofort, Herr Chefarzt.“
Verlassen würde der Patient den OP erst, wenn er reagiert hatte, dann würde man ihn auf die Intensivstation bringen, doch bis dahin blieb er nebenan. Das wurde bei allen Patienten so gehandhabt.
Dr. Doris von Ringsdorff, die Narkoseärztin, versorgte ihre Apparate und verließ den Operationssaal.
Ihre Bewegungen wirkten müde, als hätte die Arbeit sie über die Maßen angestrengt. Sie war eine der zuverlässigsten Mitarbeiterinnen.
Dr. Berends arbeitete gern mit ihr zusammen. Ihm kam vor, als würde sie etwas bedrücken, und das gefiel ihm nicht, deshalb folgte er ihr in den Waschraum und zog den Gesichtsschutz nach unten. Er streifte die Gummihandschuhe ab und wusch sich anschließend neben der Anästhesistin die Hände.
„Alles in Ordnung, Frau Kollegin?“ Die vierzigjährige Ärztin warf ihm einen erstaunten Blick zu. Man nannte sie in der Wiesen-Klinik gern die „Gräfin“. Sie nahm das niemandem übel, denn sie war vor ihrer Heirat mit Dr. jur. Karsten von Ringsdorff tatsächlich eine Komtess gewesen.
„Ja“, antwortete sie. „Warum fragen Sie?“
„Mir kam vorhin vor, als wären Sie nicht ganz bei der Sache.“
Sie versteifte. „Haben Sie Kritik an meiner Arbeit vorzubringen, Herr Chefarzt?“
„Oh, nein, nein. Ich war mit Ihnen wie immer zufrieden. Nur manchmal hatte ich den Eindruck, Sie wären mit Ihren Gedanken irgendwo anders. Gibt es ein Problem, bei dem ich helfen kann?“
Die Narkoseärztin seufzte. „Es ist wohl sehr schwierig, Ihnen etwas zu verheimlichen.“
Dr. Berends schmunzelte. „Ich wage zu behaupten, es ist unmöglich. Ich lese in Ihrem Gesicht wie in einem offenen Buch, schließlich arbeiten wir schon eine kleine Ewigkeit zusammen.“
Dr. von Ringsdorff trocknete sich die Hände ab. Sie schien zu überlegen, ob sie mit dem Chefarzt über ihr Problem sprechen sollte.
Dr. Berends war ein vielbeschäftigter Mann. Er hatte viel um die Ohren, wie man so schön sagt. Sollte sie ihm da auch noch aufhalsen, was sie bedrückte?
Andererseits hielt der Leiter der Wiesen-Klinik zu seinen Mitarbeitern ein vorbildlich freundschaftliches Verhältnis - trotz aller Autorität, die er verkörperte.
Wenn sie schwieg, konnte der Chefarzt dies als Mangel an Vertrauen auslegen.
„Es ist nichts“, sagte die Gräfin. „Oder, besser: Es ist nur eine Lappalie, mit der ich Sie nicht behelligen möchte.“
Der Mediziner lächelte. „Also nun haben Sie mich aber neugierig gemacht. Sie müssen mit mir darüber reden. Sie wissen doch, wie schrecklich neugierig ich bin. Wollen Sie, dass ich heute Nacht kein Auge schließe?“ Dr. von Ringsdorff lächelte dünn. „Reichen Ihnen die Probleme nicht, die die Leitung der Wiesen-Klinik mit sich bringt?“
„Nein. Also heraus mit der Sprache, wo drückt Sie der Schuh.“
„Ich gehe mich umziehen“, erklärte die Frau.
„Sie wollen Zeit gewinnen.“
„Vielleicht“, meinte sie.
„Trinken wir zusammen Kaffee in meinem Büro? Dort könnten wir uns ungestört unterhalten.“
„Na schön, einverstanden“, sagte die Anästhesistin. „Sie sind zu beneiden.“
„Wieso?“, wollte der Mediziner wissen.
„Weil Sie immer erreichen, was Sie wollen.“
„Beharrlichkeit führt zum Ziel“, sagte Dr. Berends und zwinkerte schelmisch. Dann ging auch er sich umziehen.
Da Veronika Baier, seine Sekretärin, nicht mehr da war und er den Kaffee nicht selbst kochen wollte, holte er welchen vom Automaten und füllte ihn von den Kunststoffbechern in ansehnlichere Tassen.
Die Narkoseärztin trug ein schickes, zweireihiges Kostüm, als sie das Büro des Chefarztes betrat.
Dr. von Ringsdorff hatte trotz ihrer vierzig Jahre immer noch eine aufregende Figur. Die Zeiten, in denen eine Frau mit vierzig Jahren alt und unansehnlich war, gehörten der Vergangenheit an.
So manche Vierzigjährige sah heute besser aus als mit zwanzig Jahren. Richard erhob sich freundlich lächelnd hinter seinem Schreibtisch und wies auf den Besucherstuhl.
„Bitte nehmen Sie Platz, Frau Kollegin. Setzen Sie sich, trinken Sie den Kaffee und schütten Sie mir Ihr Herz aus.“
„Kommen Sie sich nicht manchmal vor wie ein Grabstein?“
„Nein. Wieso?“
„Sie werden von so vielen Leuten angeweint“, erklärte die Fachärztin.
„Das macht mir nichts aus. Ich bin ein guter Zuhörer und helfe gern.“
„Der letzte Heilige auf dieser ach so verdorbenen Welt.“
„Ich habe Sie noch nie so schlecht über die Welt reden hören“, bemerkte Dr. Richard Berends und zog die Kaffeetasse näher an sich heran.
Er nahm einen Schluck. Der Kaffee schmeckte zwar nicht so gut wie der von Veronika Baier, aber zu dieser späten Stunde war man gezwungen, Abstriche zu machen.
„Ehe ich es vergesse: Ihr Kostüm gefällt mir sehr gut“, sagte Richard. „Das wäre auch etwas für meine Frau. Wo haben Sie es gekauft?“
„In einer kleinen Boutique in Basel.“
„Donnerwetter.“
„Soviel Schick hätten Sie den Schweizern wohl nicht zugetraut, was?“
Dr. Berends hob abwehrend die Hände. „Das stimmt nicht. Ich halte von den Schweizern große Stücke, in allen Belangen, das wissen Sie.“
Dr. von Ringsdorff senkte den Blick, und ihre Augenbrauen zogen sich zusammen.
„In Basel“, sagte sie leise, „da hing der Haussegen noch gerade.“
Dr. Berends horchte auf . „Tut er das jetzt nicht mehr?“
Die Narkoseärztin seufzte. „Leider nein, er hängt seit einiger Zeit schief.“
„Und wer ist daran schuld? Doch nicht etwa Ihr Mann.“
„Wer denn sonst? Seid nicht immer ihr Männer daran schuld, wenn wir Frauen unglücklich sind?“, fragte die Anästhesistin anklagend.
„Also diese pauschale Anschuldigung muss ich entschieden zurückweisen“, sagte der Chefarzt und nahm wieder einen Schluck vom Automatenkaffee.
„Karsten erlebt so etwas wie den zweiten Frühling“, sagte Dr. von Ringsdorff, ohne Richard anzusehen.
„Wie darf ich das verstehen?“, fragte der Chirurg, „Hat er eine andere? Doch nicht Karsten. Doch nicht Ihr Mann, nein, das glaube ich nicht.“
„Anfangs wollte ich es auch nicht glauben, aber allmählich werde ich gezwungen, den Tatsachen ins Auge zu sehen.“
„Wer ist diese andere?“, wollte Dr. Richard Berends wissen.
„Eine entfernte Cousine meines Mannes: Jaqueline Massel All die Jahre wussten wir nichts von ihr. Plötzlich taucht sie auf und stellt alles auf den Kopf, bringt unsere ganze Ehe durcheinander. Sie ist sehr jung und bildhübsch. Und Karsten benimmt sich unmöglich, einfach lächerlich und infantil. Ich habe ihn noch nie so verrückte Dinge tun sehen. Er will mit Macht jung sein.“
„Nun, er ist noch kein Greis.“
„Das nicht, aber er ist auch nicht mehr zwanzig, wie Jaqueline. Was er alles komisch findet, ist nicht auszuhalten. Er lacht und kichert fortwährend, wo es überhaupt nichts zu lachen und kichern gibt. Aber es muss natürlich von Jaqueline kommen. Meine Scherze langweilen ihn nur, dabei sind sie um vieles intelligenter als das, was dieses dumme Küken hervorbringt. Aber was soll ich tun? Karsten hat den Verstand verloren. Seit zwei Wochen wohnt dieses Mädchen nun schon bei uns. Anfangs versuchte ich, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Ich dachte, ich brauchte mich nur ein paar Tage über Jaqueline und meinen Mann zu ärgern, und dann wäre wieder alles in Ordnung. Aber weit gefehlt. Wie es aussieht, hat sich die junge französische Sirene für immer bei uns einquartiert. Sie ist Fotomodell und hat die Absicht, in Deutschland zu arbeiten.“
„Warum legen Sie der Cousine Ihres Mannes nicht nahe, sich ein Zimmer zu suchen?“, fragte Richard.
„Als ich das anklingen ließ, schaute mich Karsten sehr befremdet an. Er konnte nicht verstehen, wieso ich einen solchen Vorschlag machte, da wir doch so viel Platz in unserem Haus haben. Wenn es nach ihm ginge, würden wir noch drei Jaqueline Massets bei uns einquartieren. Er ist wie ausgewechselt. Zum ersten Mal erkenne ich meinen eigenen Mann nicht wieder, mit dem ich schon so lange zusammen bin. Ist es die Midlifecrisis?“
„Kann schon sein“, sagte Dr. Berends.
„Wieso merkt er nicht, dass er sich zum Narren macht? Vielleicht sollte ich heimlich auf Tonband festhalten, wie lächerlich er sich benimmt, und es ihm irgendwann mal vorspielen, damit er zur Einsicht kommt. Für Jaqueline ist klar, dass sie mit Karsten spielt. Sie ist noch jung und will ihre Wirkung auf Männer ausprobieren. Mädchen wie sie wollen sich jeden Tag aufs Neue bestätigen, und dafür ist mein Mann gerade recht. Dass sie damit eine Ehe gefährdet, die bisher vorbildlich und glücklich war, versteht sie nicht. So weit denkt sie nicht. Darüber machen sich diese jungen Dinger keine großen Gedanken. Eines Tages... wird sie gehen, und vielleicht wird sie Scherben hinterlassen. Und ich weiß nicht, ob ich dann noch gewillt sein werde, diese Scherben gemeinsam mit meinem Mann aufzuheben.“
Dieser ernste, bedrückte Ton gefiel Dr. Berends nicht. „Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen, Frau Kollegin?“, fragte er sanft.
Dr. Doris von Ringsdorff blickte ihn gespannt an. Sie schien einen Rat dringend nötig zu haben.
„Laden Sie mich in der nächsten Woche mal zum Kaffee ein“, sagte Dr. Berends, „und richten Sie es so ein, dass Ihr Mann zu Hause ist.“
„Und Jaqueline?“
„Die halten Sie fern.“
„Sie möchten mit Karsten reden?“
„Von Mann zu Mann“, sagte Richard. „Und es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn es mir nicht gelingen sollte, ihn zur Vernunft zu bringen.“
„Ich fühle mich entsetzlich. Als würde ich mich gegen meinen Mann verschwören, so komme ich mir vor. Ich hätte nicht gedacht, dass das einmal nötig sein würde. Ist es nicht lächerlich, dass ich das schlechte Gewissen habe?“
„Das brauchen Sie nicht. Es ist Ihr legitimes Recht, mit allen Ihnen zu Gebote stehenden Mitteln um Ihr Glück zu kämpfen.“
„Hoffentlich gewinne ich...“
„Wir werden gewinnen“, verbesserte der Mediziner.
,,... denn ich möchte meinen Mann, diesen ausgemachten Dummkopf, trotz allem nicht verlieren. Außerdem muss auch ich mir etwas beweisen.“
„Dass Sie nach wie vor attraktiv sind und auf einen Mann anziehend wirken?“
„Ja.“
„Das kann ich Ihnen jetzt gleich, als Mann, bestätigen.“
Die Anästhesistin lächelte traurig. „Das ist sehr nett von Ihnen, aber diese Bestätigung soll von Karsten kommen. Danke für den Kaffee, und dafür, dass Sie mir zugehört haben.“ Die Narkoseärztin erhob sich, reichte dem Chefarzt die Hand und ging.
Kaum war sie draußen, da schlug auf Dr. Berends Schreibtisch das Telefon an. Es war die Aufnahme. Die Schwester klang aufgeregt und bat Dr. Berends, sofort zu kommen.
„Schon wieder ein Unfall?“, fragte Richard.
„Nein, Herr Chefarzt. Diesmal handelt es sich um einen Mordversuch. Ein unbekannter Täter wollte im Heine-Park eine junge Frau erwürgen.“